Verhaltensweisen

Hallo.

Man stößt ja sehr oft auf die Meinung, daß in der Gesellschaft die Extreme im Verhalten immer mehr zunähmen.
Die Straftäter werden immer gewalttätiger, die Kriminalität unter Jugendlichen nimmt zu, die Täter werden immer Jünger, Gewalt an Schulen nimmt zu, Jugendliche rauchen und trinken immer mehr, im Straßenverkehr wird das Verhalten imnmer aggressiver usw.

Soweit es aus heutiger Sicht bewertbar ist, habe ich allerdings den Eindruck, daß viele Extreme sich im Gegenteil mit jeder Generation immer weiter abmildern oder daß sie schwanken. Dies ist wohl durch Gesetzgebung, Gesellschaftsbild und verschiedene andere Faktoren bedingt.

Man kann es aus verschiedenen Literaturquellen ersehen:

Aus einer Autobiographie von Karl Valentin ist zu entnehmen, daß er und seine Altersgenossen als Jungen, dies war in den 1890er Jahren, regelmäßig mit Sprengstoffen hantierten und dabei manchmal erhebliche Gefahren verursachten. Auch muß das Rauchen und Trinken unter den Jugendlichen bereits damals sehr verbreitet gewesen sein.
Die Jugenderzählungen von Ludwig Thoma haben Ähnliches zum Inhalt.

In den Werken von Wilhelm Busch verhalten sich die Leute und vor allem die Kinder oft so, wie es sich heute keiner mehr trauen würde. Ich gehe davon aus, daß die zahlreichen Fälle von Körperverletzung, Sachbeschädigungen und Selbstjustiz nicht alle nur frei erfunden waren, sondern vieles davon zu der Zeit in der Tat dem gewohnten Verhalten entsprach.

In einem Zeitungsartikel, der sich mit der Geschichte der Gewalt an Schulen befaßte, stand zu lesen, daß Ende des 19. Jh. in mehreren Fällen Lehrer von teilweise erst 10- bis 12jährigen Schülern erschossen wurden.

Also woher die verbreitete Annahme, daß alles sich mit der Zeit immer mehr ins Extrem steigern würde?

Ostlandreiter

Hi!

Ich tipp da jetzt einfach mal ins Blaue:
Jede „Epoche“ (oder wie man es auch immer nennen sollte) hat zum einen andere Wertvorstellungen und Ansichten darüber, was noch im Rahmen dieser Vorstellungen liegt und was nicht.
Zum anderen beziehen wir meist die Informationen über andere Epochen aus Textquellen, heißt also, wir erleben/durchleben sie nicht selbst. Wenn wir also heute über -was weiß ich- die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts lesen, fehlt uns immer die persönliche Erfahrung und eigentlich auch ein Haufen Information, um uns ein vollständiges Bild dieser Zeit machen zu können. Dieses unvollständige Bild kann uns nicht annähernd so schlimm vorkommen wie unsere eigene Epoche, die wir doch hautnah erleben.
Hinzu kommt, dass man häufig die positiven Informationen (wie zum Beispiel gewisse Ideale, von mir aus auch Ehrencodices) dieser uns fremden Epochen eher wahrnimmt als die grausamen Seiten. Ist vielleicht so ein „Ach hätt ich doch damals gelebt, da war alles besser“-Weltflucht-Utopie-Ding. Jede Generation leidet ein Stück weit an ihren grausamen, gewalttätigen etc. Seiten, und die Hoffnung, dass es mal besser war und somit auch die Möglichkeit gegeben ist, mal wieder besser zu werden, ist doch ein recht adäquates Mittel.

Gruß, Dine

Hallo Ostlandreiter!
Vielen Dank für die wohltuend sachlichen Anmerkungen zu diesem Thema! Ich kann dieses primitive unreflektierte „Alles wird immer schlimmer“, dass ja fast alle Medien mitmachen, nicht mehr hören.
Eine sachliche Beschäftigung zu diesem Thema würde - so vermute ich - ein sehr differenziertes Bild ergeben: Manche Dinge sind heutzutage sicher „schlimmer“ als je zuvor (z. B. die hohe Zahl an Allergien), manche Dinge sind so gut wie noch nie (z. B. die Sicherheitsbestimmungen für Kinder für Spielplätze, Fahrzeuge, etc.) und manche Dinge unterliegen Schwankungen, die genau betrachtet werden müssten! Wie ist das z. B. mit dem Respekt Kinder und Jugendlicher vor Erwachsenen? Man beklagt, dass er heutzutage oft nicht vorhanden ist (Beispiel: Erstklässler beleidigen einen Hausmeister ihrer Schule mit unflätigen Worten) und erklärt, dass es vor 40 Jahren so etwas nicht geben hätte. Wie war das aber vor 150 Jahren in irgend einer Dorfschule? Wie war das mit dem Respekt der Jungen gegenüber Frauen, gegenüber sozial benachteiligten Personen? Der Hamburger Wasserträger „Hummel“ wurde ja 1850 ziemlich gemein von den Kindern geärgert.
Hinzu kommt noch, dass der geringe „Grundrespekt“ der Kinder vor Erwachsenen Kehrseite des sehr positiven Aspekts ist, dass Kinder weniger als früher von Erwachsenen unterdrückt werden.
Ich denke, alle kurzen Antworten zu dieser Frage sind falsch! Aber die Menschen sind ja immer weniger dazu in der Lage, etwas von mehreren Seiten zu sehen, dass war ja noch nie so schlimm wie heute … :wink:)
Gruß!
Christian

Hallo!
Schön, dass das Thema hier mal angesprochen wird.
Die meisten menschen halten die „gute alte zeit“ für die beste. Es denkt doch jeder mal gern an vergangene tge und trauert ihnen nach. ich glaube, so ist dieses Phänomen auch einzuordnen.

Erklärungsversuch Jugendkriminalität:

heute gibt es viele Faktoren, die die Statistik der (Jugend)kriminalität in die Höhe schnellen lassen, die es vor 50 oder 150 Jahren noch gar nicht gab.

Zum Beispiel gab es damals weniger MigrantInnen (vor allem unter den Jugendlichen, Familiennachzug gabs ja erst später). gewisse delikte in Richtung Ausländerrecht konnten damals gar nicht erst begangen werden. Die werden heutzutage aber auch zur Kriminalitätsstatistik hinzu gerechnet. Obwohl es da ja oft um die freie Entscheidung eines menschen geht, wo er sich gerne aufhalten möchte oder sich aufhalten muss, um zu überleben(z.B. Bürgerkriegsflüchtlinge).Somit sind die Statistiken von damals (gabs da überhaupt welche??) und heute nicht vergleichbar.

Außerdem sehe ich die Tendenz der leute, Streitigkeiten nicht mehr im Gespräch untereinander zu regeln, sondern den Kontrahenten gleich anzuzeigen. Früher wars ein Kavaliersdelikt beim nachbarn Äpfel im garten zu klauen, heute kommt so was auch mal zur Anzeige.
Ich habe das gefühl, dass die Tendenz, immer weniger direkt miteinander zu kommunizieren, einen großen teil zum Ansteigen der Kriminalitätsrate beiträgt.

Ach ja: es gibt immer mehr Kinderarmut. Natürlich ist Armut kein Freifahrschein zum Klauen. Aber man überlege sich, dass ein sechzehnjähriger in seinem Freundeskreis ohne Handy einen schweren Stand hat. Solche Dinge sind heutzutage halt Standard. (Seh ich täglich in meiner Arbeit in einem Jugendzentrum, dass Jugendliche fast alles tun, um das neueste handymodell zu bekommen, damit sie bei ihren sogenannten Freunden besser angesehen werden)
Das Problem ist gesellschaftlich gelagert: Konsumorientierung der erwachsenen wird natürlich auf die Kinder übertragen.
Aber auch in der Politik sollte sich was tun: bekämpft die Kinderarmut.

Gruß Meli

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Hallo Ostlandreiter,

in loser Anlehnung an mein o.g. Nachdenken über die Informationsflut frage ich mich zu dem von dir angesprochenen Thema, ob dabei nicht auch die viel größere Verfügbarkeit von Informationen mit eine Rolle spielt. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“

Welche Möglichkeiten hatte z.B. meine Großmutter 1950 denn überhaupt von der Kriminalitätsrate in den Großstädten zu erfahren oder von den Zuständen an amerikanischen Highschools? Wohl gab es in ihrem Arbeiterhaushalt ein Radio, hin und wieder auch eine Zeitung, aber das war’s dann auch schon.
Außerdem hatte sie andere Probleme, als sich Gedanken über menschliche Verrohung auf welchem Kontinent auch immer zu machen. Es galt - ohne moderne Waschmaschine - die Dreckswäsche von zwei Bergleuten zu waschen, Haushalt und Familie zu versorgen, den Gemüsegarten zu bestellen, Einkäufe zu Fuß zu erledigen, Kaninchen, Hühner und Tauben zu füttern etc.

Darüber hinaus mögen auch ein bis zwei durchlebte Weltkriege inklusive einer dazwischenliegenden Weltwirtschaftskrise einen anderen Blick darauf verliehen haben, was jeweils zur gegebenen Zeit als „schlimm“ empfunden wurde.

Last but not least: Auch ein Blick hin zur Geschichtswissenschaft zeigt, dass Erinnerungen kritisch zu werten sind. Die Methodik der „oral history“, also der erzählten Geschichte, weist u.a. immer wieder auf folgende methodische Probleme hin:

  • Der Interviewer kann das Gespräch durch seinen persönlichen Forschungsschwerpunkt und seine Interessenslage in eine bestimmte Richtung lenken, um den Zeitzeugen dazu zu motivieren, sich an das zu erinnern, was „gewünscht“ wird. Das Interview ist durch die aktiven Eingriffe des Interviewers vorstrukturiert und beinhaltet eine bereits bestehende historische Selektion und Interpretation. Oral History ist ein Gemeinschaftsprodukt von Interviewer und Interviewtem.
  • Historische Interviews können nicht repräsentativ sein, da bereits die Auswahl von Zeitzeugen unter vorher festgelegten Bedingungen erfolgen muss: neben der Bereitschaft an einem solchen Projekt mitzuwirken, muss geistige und körperliche Gesundheit gegeben sein und der Zeitzeuge muss an dem zu untersuchenden Ereignis aktiv beteiligt gewesen sein. Zeitzeugen werden also als „Betroffene“ ausgewählt, als typische Vertreter ihrer Gruppe, nicht jedoch nach statistischen Normen
  • Erinnerungen sind subjektiv und selektiv, Vergessen ist ebenso wichtig wie Behalten.
  • Stets muss auch die Umstrukturierung des Erinnerten berücksichtigt werden, Erinnerungen können der „Schönfärberei“ oder der vorweggenommenen, z.B. der ideologiegeleiteten Interpretation unterliegen. Gerade wenn es um Gegebenheiten geht, die aus heutiger Sicht als negativ bewertet werden, kann es bei den Zeitzeugen auch zu einem Rechtfertigungszwang kommen.
    (Quelle: http://www.click-und-clack.de/Oral%20History.htm)

Auch außerhalb eines geschichtswissenschaftlichen Interviews treffen diese Problempunkte zu.

Grüße
Christiane

Also woher die verbreitete Annahme, daß alles sich mit der
Zeit immer mehr ins Extrem steigern würde?

ich bringe dazu einen ganz anderen gedanken… „früher war alles viel besser“ ist doch der am häufigsten gesagte satz vor allem älterer menschen. das war immer schon so! das liegt m.e. daran, daß man reifer und vernünftiger wird, wenn man älter wird, und die „vergehen“ der aktuellen jugendgeneration nur mehr mit kopfschütteln zur kenntis nehmen kann - in vollstem vergessen darüber, daß man selber ähnliches getan oder mindestens bei anderen beobachtet hat, als man selbst jung war.

gruß
dataf0x

Also woher die verbreitete Annahme, daß alles sich mit der
Zeit immer mehr ins Extrem steigern würde?

ich bringe dazu einen ganz anderen gedanken… „früher war
alles viel besser“ ist doch der am häufigsten gesagte satz vor
allem älterer menschen. das war immer schon so! das liegt m.e.
daran, daß man reifer und vernünftiger wird, wenn man älter
wird,

Das kommt vor allem auch daher, daß alle früher jung waren und später alt sind und die meisten in der Jugend weniger Beschwerden haben als im Alter.

Hai, Ostlandreiter,

ich denke, es ist eigentlich immer ungefähr gleich - wird nur mit unterschioedlichen Begriffen belegt.

Als Beispiel fällt mir immer mein Vater ein, der sich mal gar fürchterlich über „diese Jugendlichen“ und ihre Gewaltbereitschaft aufspulte (ein 13-jähriger hatte einem anderen 13-jährigen bei einer Prügelei die Nase gebrochen - „Als nächstes überfallen die alte Omas. Die gehören doch in den Knast!“) und dabei ganz seine eigene Vita verdrängte: hat er doch als 13-jähriger seinem 14-jährigem Bruder bei einer Prügelei die Nase gebrochen…

Nichts neues unter der Sonne…

Gruß
Sibylle

Hallo Ostlandreiter,

letzten habe ich mich für ein Referat mit einem ähnlichen Thema auseinandergesetzt. Schwerpunkt war dort: Jugend im Bann des Konsums.

Dafür habe ich u.a. auch recherchiert, wie denn die gegenwärtige Freizeitbeschäftigung von Jugendlichen aussieht und sie sich von früheren Zeiten unterscheidet.

Dabei bin ich zu folgendem Ergebnis gelangt:
Die Jugendlichen sind aufgrund verschiedener Umstände (TV, Computer, Handy, Entertainment, ratlose Eltern u.a.) nicht mehr fähig, ihre eigene kreative Kraft zu entwickeln, bzw. wird ihnen kein Raum dazu gegeben, noch haben sie es richtig gelernt. Dies hat zur Folge, dass viele Heranwachsende ein großes Gefühl der Unzufriedenheit spüren, ohne analysieren zu können, woher dieses kommt.
Ihnen wird durch die Werbung allerorts vermittelt, dass Kaufen und Konsumieren glücklich macht. Und vielleicht hat man dann auch ganz kurzzeitig ein Glücksgefühl beim Kaufen, aber der dürfte wirklich sehr kurz sein und nícht zu vergleichen, wenn man zum Beispiel was gehandwerkert hat, sein Fahrrad selbst wieder ans Laufen gebracht hat, versucht hat ein Gedicht zu schreiben…usw.

Und wenn man diese Unzufriedenheit spürt, kann sich sich dann alsbald in ratlose, verzweifelte Wut verwandeln, die dann den erstbesten Weg zum Entweichen sucht.

Insofern glaube ich schon, dass eine Enwticklung in Richtung sinnentleertes Leben geht, wenn wir nicht bei uns Erwachsenen anfangen, den Kindern und Jugendlichen ein gutes Vorbild zu sein und sie nicht dem Fernsehen als Esatzeltern überlassen und sie maßlos mit wertlosen Kram beschenken-zumüllen.

Dennoch stimme ich damit überein, dass es zu jeder Zeit seine Extreme gab und oft behauptet wird, damals war alles besser und jetzt ist alles ganz schrecklich, was ich so nicht sehe.

Ich glaube, dass ist eine nicht abzuschließende Diskussion.

Mit besten Grüßen Sulamith