Verstehen einer These in der Medienphilosophie / Theorie des Computers

Liebe/r Experte,

ich bin gerade für eine mündliche Prüfung lernen und lese dazu den Artikel von Wolfgang Hagen: Die verlorene Schrift (In: Kittler, F. A., & Tholen, G. C. (Eds.). (1989). Arsenale der Seele: Literatur-und Medienanalyse seit 1870)

Eine der Thesen, die der Autor aufstellt lautet: "Der Computer ist das erste Medium, dessen Materialität von Zeit bestimmt ist."

Hier erläutert er seine These:

"Alle anderen Medien des Abendlandes, Schrift und Geld, Architektur und Buch, Photographie und Film haben ihren inneren Nexus in einer materiellen Diskursivität, die diskreten Übergänge von Zuständen, die diese Medien manifesteieren sind von temporalisierter Struktur.

Wo die Fotografie einen auf Papier gebannten Augenblick, der Film eine imaginäre Wahrnehmungssequenz in diskreter Abfolge von Zelluoidbilchen, das Buch eine temporale differance (in)diskreter Buchstabenprägung darstellt, eliminiert der Computer jede materielle Temporalität von Darstellungszuständen und reduziert den Zeitfaktor selbst auf eine nicht-mediale Größe seiner systemischen Logik.

Insofern inauguriert erst der Computer das erste Medium in der Geschichte der Menschheit, dessen Materialität wesentlich von Zeit bestimmt ist. Und subvertiert mittels dieser jeden Begriff von Zeitlichkeit innerhalb linearer Systeme, also Gegenwart, Präsenz, Abswesenheit, Supplementarität etc.Inhaltlich bedeutet das Paradigma der Atombombe, dem das universelle Medium Computer geschuldet ist, die Abwesenheit aller Zeit, die keine physikalische ist. Diese Zeitstruktur besagt, dass das Medium Computer weder imaginär noch symbolisch oder real ist; es ist im strikten Sinn relativ."

Ich bin geplättet von dieser eloquenten Ausdrucksweise. Aber leider verstehe ich diese Aussage überhaupt nicht… Was meint der Autor denn?

Ich weiß, dass Sie eventuell noch nie in diesem Feld tätig waren, aber vielleicht verstehen Sie diese Sprache eher als ich es tue. Über eine Antwort wäre ich sehr dankbar! :smile:

Ein weltberühmter Satz
Der Autor sagt es mit einer intellektuell hochgestelzten Sprache, bei dem ihm vielleicht vor lauter Eigenverliebtheit an diesem abstrakten Intellektualismus ein Orgasmus abgeht. Aber kein Insider kann so etwas VERSTEHEN. Was der Autor meint, ist aber im Grunde ganz einfach: Fotografie, Bücher, Presse, Film, Funk und Fernsehen einschließlich der Trommeln bei Naturvölkern, die damit ja ebenfalls Botschaften übermitteln, sind im Vergleich zum Internet STATISCH. Es gibt Sender und Empfänger, Produzenten und Konsumenten. Dazwischen steht das Medium ohne interaktive Rückkopplung, wobei es im Trend liegt, dass Funk und Fernsehen das Gegenteil zur Statik anstreben mittels Zuschauer-Meinungen. Aber wo ist der Unterschied? Das Internet ist kein statisches Medium, sondern es ist ein interaktives Medium, ein ewiges Fließen (sieht man doch hier in diesem Forum sehr deutlich). Wie sagte gleich der prominenteste Vordenker der modernen Medien-Philosophie? DAS MEDIUM IST DIE BOTSCHAFT! Dieser Satz ist von Marshall McLuhan, Soziologieprofessor und Kommunikationswissenschaftler an der Universität von Toronto. Mit diesem provozierenden Satz wurde Marshall McLuhan weltberühmt.
Punk-Evchen

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Hallo S.anna,
der Text ist voller alberner, modischer Fremdwörter (das sage ich, wo ich selbst überhaupt kein Feind von Fremdwörtern bin). Vorsicht: wenn der Prüfer diese Aufgabe gestellt hat sollte man das Spiel lieber mitspielen. ich würde raten, die einzelnen Ausdrück alle nachzuschlagen „systemische Logik“ usw. das scheint die Logik des Systems zu sein. Dass ein Medium unabhängig von Zeit ist, hat man glaube ich immer wieder mal behauptet. Man hat doch nach der Erfindung des Buchdrucks auch davon gesprochen, dass man jetzt unabhängig von der gesprochenen Sprache wurde usw.
Dass ein Medium etwas versteckt ist auch so eine immer wiederkehrende These. Allerdings bin ich überhaupt nicht vom Fach. In meiner Ratlosigkeit empfehle ich, den einen oder anderen Begriff  im „Lexikon der Argumente“ nachzuschlagen, Nicht, dass das da erklärt würde, aber man findet da immer interessante Thesen, mit denen man dann wieder die Prüfer beindrucken kann. Bloß aufpassen, dass es nicht heißt „Thema verfehlt“.
Viele Grüße und alles Gute,
Timo.

Hallo,

Eine der Thesen, die der Autor aufstellt lautet: "Der Computer
ist das erste Medium, dessen Materialität von Zeit bestimmt
ist
."

Der Computer ist das erste Medium aus Materie, bei dem diese Materie von Zeit bestimmt ist.
http://www.duden.de/rechtschreibung/Materialitaet
Später schreibt er ja noch was dazu, so das man - wenn man sehr wohlgesonnen ist - diese unvollständige These als sinnvoll stehen lassen kann.

"Alle anderen Medien des Abendlandes, Schrift und
Geld, Architektur und Buch, Photographie und Film haben ihren

Hier ist ein Fehler, es fehlt das „wie (Schrift …)“. Man müsste sonst davon ausgehen das die gemachte Aufzählung vollständig wäre - was sie nicht ist.
Auch schön das der Autor zu Unrecht „Schrift, Geld, Architektur und Buch“ als Medien „des Abendlandes“ klassifiziert.

inneren Nexus in einer materiellen Diskursivität,

(ihre) innere Verknüpfung in einer materiellen Ausprägung,

Das ist falsch. Diese Verknüpfung ist eine äusserliche, keine innere.
Die entstandene Information (Das Bild, der Film) repräsentiert ja ein äusserliches Ereignis.

die
diskreten Übergänge von Zuständen, die diese Medien
manifesteieren sind von temporalisierter Struktur.

Das Material das die Information enthält ist verändert worden.
Die Veränderung IST die Information.
Die Veränderung des Materials ist aber den Gesetzen der Zeit unterworfen (Werden, Bestehen, Vergehen).

Wo die Fotografie einen auf Papier gebannten Augenblick, der
Film eine imaginäre Wahrnehmungssequenz in diskreter Abfolge
von Zelluoidbilchen, das Buch eine temporale differance
(in)diskreter Buchstabenprägung darstellt,

seine Beispiele dazu …

eliminiert der
Computer jede materielle Temporalität von
Darstellungszuständen

Der Computer hat (seiner Meinung nach) keine materiellen Komponenten die durch Veränderung zu Information werden. Bzw. an ihm selbst finden diese zielgerichteten materiellen Veränderungen die ihn zur Information machen würden (seiner Meinung nach) nicht statt.

und reduziert den Zeitfaktor selbst auf
eine nicht-mediale Größe seiner systemischen Logik.

Da der Computer (seiner Meinung nach) keine materiellen Informationsträger besitzt bzw. selber kein herkömmlicher materieller Informationsträger ist, unterliegt die Information aus dem Computer nicht den Gesetzen der Zeit. (Werden, Bestehen, Vergehen).

Insofern inauguriert erst der Computer das erste Medium in der
Geschichte der Menschheit,

Der Computer ist (seiner Meinung nach) das erste Medium das etwas Neues einführt:

dessen Materialität wesentlich von
Zeit bestimmt ist.

Seine Stofflichkeit ist fast ausschliesslich der Zeit unterworfen.
Das soll wahrscheinlich heissen, das anders als bei herkömmlichen Medien die Stofflichkeit/Materie des Computers nicht absichtlich verändert wird um ihn damit zu einer Information zu machen.
Die einzige Veränderung seiner Materie ist die „normale“ Veränderung von Materie in der Zeit (Umwelteinflüsse).

Und subvertiert mittels dieser jeden
Begriff von Zeitlichkeit innerhalb linearer Systeme, also
Gegenwart, Präsenz, Abswesenheit, Supplementarität

Damit revolutioniert er (seiner Meinung nach) die Vorstellung von Zeit
in linearen Systemen.
Sollte er Recht haben, wäre es unsinnig von einem Umsturz linearer System zu sprechen - da diese Zeit voraussetzen.
http://de.wikipedia.org/wiki/Lineares_System_%28Syst…
Vielleicht könnte man (sollte er Recht haben) davon sprechen, das mit dem Computer ein anders geartetes (neues?) System Einzug in die Medienwelt erhält.
D.h., die Schlussfolgerung ist schon auf diesem Weg falsch.

etc.Inhaltlich bedeutet das Paradigma der Atombombe, dem das
universelle Medium Computer geschuldet ist,

Hier gewinnt sein innerer Wahnsinn vollends die Überhand … :o)

die Abwesenheit
aller Zeit, die keine physikalische ist.

… der Wahnsinn behält hier weiter die Kontrolle über ihn …

Diese Zeitstruktur
besagt, dass das Medium Computer weder imaginär noch
symbolisch oder real ist;

Mag man - wenn man seine bisherigen Ausführung - akzeptiert, hier noch zustimmen, …

es ist im strikten Sinn
relativ."

So fällt mir hier wirklich keine sinnvolle Interpretation von „relativ“ ein, die dieser Schlussfolgerung einen Sinn verleiht.
http://synonyme.woxikon.de/synonyme/relativ.php

Als Hauptkritik kann man anbringen, das der Autor Äpfel mit Birnen vergleicht.
Selbstverständlich sind alle Informationen die ein Computer darstellt irgendwie materiell vorhanden. Z.B. als magnetische Zustände einer Festplatte oder als Spannungsverteilung im RAM-Speicher.

Wenn man als Computer das bezeichnet was umgangssprachlich Computer genannt wird, ist seine Ausführung schlicht falsch.
Wie Foto, Film und Buch finden auch im Computer stoffliche Veränderungen statt die anschliessend Information darstellen.
Deswegen spricht man ja auch von „Daten-Trägern“.

Reduziert man Computer auf etwas das selber keine „Datenträger“ mit einschliesst, hat man es mit einem reinen Darstellungs-Medium zu tun. Wie z.B. ein Kino, oder Diaprojektor ja nicht selber die Information enthalten die sie präsentieren, präsentierte dann auch der Computer lediglich Informationen. Er wäre also kein Medium wie die Medien mit denen er verglichen wurde. Ein Vergleich mit klassischen Medien wäre unsinnig.

Ich bin geplättet von dieser eloquenten Ausdrucksweise.

Wer wirklich Wichtiges zu sagen hat kann das IMMER auch einfach und verständlich tun.

Besonders peinlich ist es eigentlich immer wenn hinter solchen verklausulierten Ausführungen Banales oder Falsches steht - was eigentlich meistens der Fall ist … :o)

Grüße
K.

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Vielen lieben Dank für die sehr unterschiedlichen Kommentare, davon hat mir jeder einzelne sehr weiter geholfen!

Ich bin nicht nur froh, den Kern der Aussage nun erfasst zu haben, sondern auch zu wissen, dass dieser Sprachstil auch von anderen, eingeleseneren Menschen, so wahrgenommen wird…

Hallo,

 Der Autor schreibt: Die Materialität des Computers ist wesentlich (nicht gänzlich!) durch die Zeit bestimmt. 

Ich sehe es so: Die Materialität der anderen genannten Medien, ist nicht wesentlich durch die Zeit bestimmt. Beispiel: Ein Buch besteht aus mechanisch gebundenen, mit Tinte bedruckten Seiten. Seine Materialität besteht - neben Zeit, aus in Tinte geprägte Worte und Papier (materielle Temporalität) etc. 

Der Computer hingegen digitalisiert Bruchteilen von Sekunden, Worte, Bilder etc. und legt sie selbständig ab. Außer dem Bedienen der Tastatur, laufen alle Vorgänge elektronisch ab, ohne wahrnehmbaren Herstellungsvorgang. Das Wesen des Computers entzieht sich so eines Entstehungs- und Schöpfungsprozesses,  wodurch sein hauptsächliches Bestimmungsmerkmal,  die Zeit, in den Vordergrund kommt.

Ich hoffe ich konnte dir etwas weiterhelfen

Gruss

Joe

(Nietzsche würde vielleicht sagen: ‚Nichts ist unzeitloser als ein Computer!‘ :wink:

Hallo,

Nietzsche würde weinen wenn er das lesen müsste. :o)
Hinter Nietzsches Sätzen steht jedes mal die Kraft und der Wille ein Hauch des Unausprechlichen durch Wortgewalt der Welt zu offenbaren.
So mögen seine Sätze für machen oberflächlichen Leser absurd erscheinen, aber wer immer auch nur einen minimalen Sinn zur Poesie in sich trägt wird spüren und ahnen was er zu sagen hat.

Das hier:

Der Autor schreibt: Die Materialität des Computers ist
wesentlich (nicht gänzlich!) durch die Zeit bestimmt.

ist Nichts! Geschwafel - Sinnlos! - von jemandem der nichts zu sagen hatte und Papier füllen musste.
Die Materialität ist durch die Zeit bestimmt … :o) :o) :o)

Grüße
K.

Ich reiche hier noch den Link zu der Quelle nach:
Lexikon der Argumente