Zum einen haben rechtswissenschaftliche Untersuchungen belegt, dass es keineswegs die Strömung des Rechtspositivismus war, die die Juristen im Dritten Reich „wehrlos gemacht“ hatte, wie noch von Radbruch angenommen. Vielmehr hatte sich gezeigt, dass die Auslegung von Gesetzen im Geiste nationalsozialistischer Ideologie der entscheidende Punkt gewesen war.
„Zum anderen führte ein schärferer Blick auf die frühe Bundesrepublik zu der Erkenntnis, dass Richter unter dem Vorzeichen des Naturrechts höchst problematische Entscheidungen getroffen hatten, man denke an die Rechtsprechung zur Verlobten-Kuppelei, laut der „das Sittengesetz“ als „Grundlage des Lebens der Völker und Staaten“ vorgebe, dass unehelicher Verkehr unzüchtig im Sinne des Strafgesetzbuches sein müsse.“
ich verstehe den 2. absatz nicht so ganz, warum hatten die richter wegen des naturrechts problematische entscheidungen getroffen? warum war unehelicher geschlechtsverkehr ein verstoß gegen das naturrecht? mit dem sittengesetz ist doch ein teil des naturrechts gemeint oder?
„Der Begriff Naturrecht […] ist eine Bezeichnung für universell gültiges Recht, das rechtsphilosophisch, moralphilosophisch oder theologisch begründet wird.“
Philosophie, Moral und Theologie sind aber alles keine Naturkonstanten, sondern Ausdruck der aktuellen Normen und Werte einer Gesellschaft. Sie sind somit wandelbar, und was als „natürlich richtig“ empfunden wird, kann sich schon mal diametral umkehren.
Auch aus dem Wiki-Artikel, Abschnitt „Kritik“:
„Dass das Naturrecht vieldeutig ist, ist auch daraus ersichtlich, dass die Sklaverei, die nach heutigem Verständnis wohl den gravierendsten Bruch der Menschenrechte darstellt, von der griechisch-römischen Antike bis ins 19. Jahrhundert naturrechtlich begründet wurde.“
Der 1954 mit einer pseudo-naturrechtlichen Begründung legitimierte Verlobtenkuppelei-Paragraph besagte u.a., dass ein Ehemann widerrechtlich handelt, wenn er seiner Frau beim Sex mit anderen Männern zuschaut. Dem damaligen BGH zufolge besteht der Sinn von Sex allein darin, Kinder zu zeugen.
Diese erzreaktionar-katholische Auffassung von Sex als veritables „Naturrecht“ zu bezeichnen, egal ob aus affirmativer oder kritischer Sicht, halte ich allerdings für naiv. Der moderne Naturrechts-Gedanke leitete sich - obgleich ein Produkt der Aufklärung - zwar zunächst aus christlichen Ideen ab, kann - so meine ich - in dieser Form aber noch nicht als eigentliches, ausgereiftes Naturrecht gelten, eben weil es ein theologisch begründetes ´Recht´ ist, bei dem die Gottesfiktion am Ursprung steht.
Deine Fragen:
sind damit weitgehend beantwortet. Noch einmal:
, warum hatten die richter wegen des naturrechts problematische entscheidungen getroffen?
Es führt zu einer fatalen Begriffsverwirrung, wenn man ein theologisch fundiertes Recht einschränkungslos als ´Naturrecht´ bezeichnet. Zwar habe die den besagten Paragraphen begründenden Richter nicht explizit auf katholisch-theologische Normen Bezug genommen, doch ihrem Gehalt nach ist ihre Begründung durch katholische Normen determiniert - daran besteht gar kein Zweifel.
warum war unehelicher geschlechtsverkehr ein verstoß gegen das naturrecht?
Eben nicht gegen ´das´ Naturrecht, sondern gegen ein von den Richtern implizit verwendetes katholisch-theologisch fundiertes Pseudo-Naturrecht.
mit dem sittengesetz ist doch ein teil des naturrechts gemeint oder?
Genau genommen, oder, um mit der Autorin zu reden, mit „einem schärferen Blick“ betrachtet, eben nicht. Siehe oben.