Man hört, das Deutschland Häftlinge aus Guantanamo aufnehmen soll, die nicht in die USA und nicht in ihre Heimatländer können.
Aber warum sollen sie eigentlich nicht in die USA können?
Schuldig wären es die Amerikaner ja wohl.
gute Frage, weiss ich auch keine Antwort drauf, würde mich aber interessieren
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Guatanamo ist ein recht kompliziertes Thema und die vollstaendige Antwort weiss ich auch nicht. Was ich aber nach meinem derzeitigen Kenntnisstand sagen kann ist folgendes:
Die von Praesident Bush eingefuehrte Politik der Hinhaftierung und Folter einer grossen Anzahl von Terrorverdaechtigen ohne gerichtlichen Haftbefehl und ohne die Gewaehrung minimaler rechtlicher Standarts stiess in Amerikas Zivilgesellschaft auf grossen Wiederstand. Vereine zur Verteidigung der Grundrechte klagten gegen die U.S. Regierung und stellten Rechtsbeistände für Guantánamo-Insassen. In den Prozessen bis hinauf zum Verfassungsgericht verlor die Bush-Regierung in vielen Punkten; in anderen wurde sie bestätigt. Amerikas Rechtsordnung gilt grundsätzlich auch in Guantánamo, urteilten die Obersten Richter. Insassen dürfen den Grund ihrer Gefangenschaft vor regulären US-Gerichten überprüfen lassen. Die U.S. Justiz hatte zwar keine Einwände dagegen, dass feindliche Kämpfer vor Militärtribunalen abgeurteilt werden, erweiterten jedoch deren Rechte in den Verfahren. Und sie bestätigten, dass jeder, der an Kämpfen beteiligt war, ob mit oder ohne Uniform, auch ohne Prozess als Kriegsgefangener festgehalten werden darf.
Parallel wurden schon unter Bush die meisten Verdächtigen in ihre Heimatländer oder in aufnahmewillige Drittstaaten abgeschoben: Insgesamt 779 Gefangene sind seit 2002 nach Guantánamo gekommen. Bei Obamas Amtsantritt im Januar 2009 waren es noch 240. Unter Bush waren mehr als 500, rund zwei Drittel, aus Guantánamo freigekommen. Obama wollte es dann ganz schliessen und sah sich nach Alternativen um. Er ließ nach einem Hochsicherheitsgefängnis innerhalb der USA suchen, wohin man die Insassen verlegen könne. Sein Team fand es in Thomson, einer kleinen Gemeinde im dünn besiedelten Westen Illinois’, nahe dem Mississippi.
Trotz aller oeffentlicher Proteste gegen Guantanamo war dieser Kurs nicht wirklich populär, weder unter den Bürgern noch unter den Abgeordneten, die sich im November 2010 der Wiederwahl stellen müssen. Die Grundidee, den internationalen Ruf der USA von dem schwarzen Fleck Guantánamo zu befreien, fanden sie nicht unbedingt falsch. Aber die praktische Konsequenz, die „Gefährlichsten der Gefährlichen“, wie Bush sie genannt hatte, von Kuba, wo sie sicher verwahrt waren, in die USA zu verlegen, fand kaum Anhänger. Schliesslich sei jeder siebte Entlassene, heißt es in einer Pentagon-Studie, wieder zum Kämpfer geworden, radikaler als zuvor.
Dann folgten zwei Anschläge, die nur mit viel Glück ohne Tote endeten: an Weihnachten 2009 auf eine US-Passagiermaschine von Amsterdam nach Detroit und am 1. Mai am Times Square in New York. Sie wirkten wie eine Bestätigung der Gründe, warum Bush das Lager eingerichtet hatte. Der Kongress verweigerte die Mittel für den Umbau des Thomson-Gefängnisses für die Aufnahme der Guantánamo-Insassen. Und verbot es dem Präsidenten, ohne Einverständnis des Parlaments hochkarätige Terrorverdächtige in die USA zu verlegen. Der Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg, zog seine Unterstützung für ein ziviles Strafverfahren gegen die Hintermänner des 9/11-Anschlags in der Stadt zurück – zu gefährlich sei das und wegen der nötigen Sicherheitsmaßnahmen auch zu kostspielig.
Das also ist schon mal ein Grund, warum die USA dringend andere Abnehmer fuer seine Gefangenen sucht: Die eigene Bevoelkerung wehrt sich gegen die Aufnahme von Terrorverdaechtigen in Inland, gleichzeitig ist eine juristische Loesung kaum moeglich, da aufgrund der Politik des Vorgaengers heute rein rechtstaatliche Verfahren gegen die Verdaechtigen kaum noch moeglich sind und ein Freispruch aus Mangel an Beweisen (Foltergestaendnisse werden nicht zugelassen) hoechst wahrscheinlich sind. Da stoesst also das gute gemeinte Vorhaben, Guantanamo zu schliessen, auf die selben Vorbehalte, die auch in Deutschland gelten gemacht werden.
Allerdings kommt noch ein zweiter Grund hinzu, der – so die Logik der U.S. Bitte um internationale Unterstuetzung – im Falle einer Abschiebung nicht tragen wuerde: Den Gefangenen wurde ganz unabhaengig von ihrer wirklichen Verwicklung in den Terrorismus von den USA erhabliches Unrecht angetan. Eine Eingliederung in die amerikanische Gesellschaft kommt schon aus diesem Grund praktisch nicht in Frage. Selbst wenn die Umgebung sie aktzeptieren wuerde waeren sie selber wohl kaum in der Lage sich dort einzupassen und ein friedliches Leben in den USA zu fuehren. Abschieben in ihre Heimatlaender kommt jedoch zumeist auch nicht in Frage, schon aus Menschenrechtsueberlegungen.
Washington will sie oft nicht in ihre Heimatländer entlassen, schlicht weil ihnen dort die Folter droht. So hat eine Bundesrichterin die Auslieferung eines Guantanamo-Häftlings in dessen Heimat Tunesien gestoppt, da ihm dort eindeutig Folter drohen wuerde. China protestierte lautstark gegen die Abschiebung von Uiguren an Drittlaender, u.a. weil aus Sicht der chinesischen Regierung die uigurischen Häftlinge in Guantanamo schon allein deswegen Terrorverdächtige sind, weil sie der Islamischen Bewegung Ostturkestans angehören. Ihr Schicksal im Falle einer Auslieferung an China kann man sich daher vorstellen. Aehnliches gilt fuer Aegypten, den Sudan (die Alternative hier ist eine erneute Aktivierung der Haeftlinge in den dortigen Terrornetzwerken, die auch nicht im westlichen Interesse sein kann) und selbst fuer Saudi-Arrabien.
Keine Frage, das Gefangenenlager Guantánamo muss geschlossen werden. Dort halten die USA seit Jahren Menschen fest, ohne sie vor ein ordentliches Gericht zu stellen – darunter viele, die nicht als »gefährlich« einzustufen sind. Die Haftbedingungen wirken nach wie vor bedrückend – wie wohl jeder Besuch in einem Hochsicherheitsgefängnis die Außenstehenden, die Freiheit gewohnt sind, schockiert. Allerdings wurden schon manche Regeln gelockert. Die meisten Gefangenen schauen sich die Spiele der Fußball-WM an, berichten die Medienbetreuer. In der Lagerbibliothek sind die arabischen Übersetzungen der Harry-Potter-Serie die am häufigsten ausgeliehenen Bücher. Nur noch 20 der 180 Insassen leben in Einzelhaft. Die übrigen 160 können zusammen essen, Sport machen, beten. Die Zahl der tätlichen Angriffe auf Wachen ist laut Medienberichten von rund tausend pro Halbjahr auf 160 gesunken.
Die Frage ist auch nicht, ob Deutschland Häftlinge aufnimmt – sondern wen. Die mutmaßlich »schweren Fälle« müssen die USA selbst lösen. »Gefährliche« von »ungefährlichen« Häftlingen zu unterscheiden, das ist jetzt die schwierige Aufgabe des Innenministers. Ich beneide ihn nicht darum, denn auch hier fuehlt man sich ja nicht wirklich wohl bei dem Gedanken, das ein Mensch aufgenommen werden soll, der erstens Terrorverdaechtiger ist und zweitens dies vielleicht aufgrund erlittenen Unrechts dies in Zukunft selbst dann schon aus Rache werden kann, wenn er es vorher noch nicht war. Nur hier bietet sich zumindest eine Chance fuer eine allmaehliche Eingliederung in eine Gesellschaft, die es in den USA wohl nicht geben wuerde.
Freundliche Gruesse,
OPG
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