Warum randalieren und nicht reden?

Hallo MitleserInnen,

eine Frage stellt sich mir in den Weg, die ich in dem langen Thread zum erschossenen G8-Demonstranten nicht entdecken konnte, mir aber wichtig erscheint.
   Es wird so oft von Randalierern, Gewaltbereitet oder sogar von Polit-Hooligans gesprochen, wobei ich den letzten Begriff nur als ein typisch „gutes“ Schlagwort für die Medien ansehe. Da wird für das geneigte Publikum gleich eine Assoziation zu den Fussball-Hooligans hergestellt, ohne lange Erklärungen, für die man in den Nachrichten keine Zeit hat, abgeben zu müssen.
   Aber wie kommt es dazu, dass die Menschen gewalttätig werden? Möchte man es sich einfach machen, könnte man entgegnen, sie suchen einfach ein bisschen Randale. Dass dies bei etlichen so ist, glaube ich ebenfalls, doch nicht bei allen. Spielt hier nicht die mit der Zeit aufgebaute ohnmächtige Wut eine grosse Rolle, da die Masse als solche letztlich entmündigt ist?
   Das bemerken wir doch auch in anderen, nicht so drastischen Beispielen. Man kann noch so sehr mit vernünftigen Argumenten kommen und Problemlösungen finden, aber sie werden von der Politik nicht beachtet. Und wie oft haben die Leute, auch in diesen Polit-Brettern, selbst schon über die Politiker geschimpft oder über deren unsinnigen Entscheidungen den Kopf geschüttelt. Trotzdem wurden solche Entscheidungen zu Tatsachen, mit denen wir bzw. mit deren Folgen wir heute leben müssen. (Ich nenne absichtlich keine Beispiele hierfür, um nicht vom Thema abzulenken.)
   Nicht jeder wird nun deshalb zum Randalierer, weil er diese Entscheidungen nicht gutheissen kann, aber woher rührt dann diese vielgenannte Politikverdrossenheit? Mit Sicherheit doch auch daher, dass man mit seiner Stimme, ob nun gesprochen oder als Kreuzchen, nichts zu bewegen weiss. Die eigene Wut oder zumindest der eigene Unmut bleibt sehr begrenzt in der unmittelbaren Umgebung. Einige, die noch etwas interessiert sind, schreiben zum Beispiel in solchen Brettern wie diesem. Andere haben es gänzlich aufgegeben, sich mit den Situationen auseinanderzusetzen, auch wenn sie diese unerträglich finden.
   Wie in vielen Dingen gibt es jedoch Ausnahmen; wie etwa die Randalierer, die womöglich diese grosse Wut ausleben, weil sie bemerken mussten, wie wenig allein in ihrer begrenzten Umgebung geschieht. Deshalb möchte ich sie nicht alle über einen Kamm scheren. Dass Gewalt keine Lösung darstellt - zumindest nicht, wenn nur Bevölkerungsteile sie ausübt -, ist ja bewusst. Aber was hilft gegen die Ignoranz der Politik, wenn selbst das beste, das friedlichste, das konstruktivste Reden nichts entgegenzusetzen vermag, weil alle Entscheidungen ohne die Betrachtung der Gegenargumente getroffen werden?

Marco

Aber was hilft gegen die Ignoranz der Politik,
wenn selbst das beste, das friedlichste, das konstruktivste
Reden nichts entgegenzusetzen vermag, weil alle Entscheidungen
ohne die Betrachtung der Gegenargumente getroffen werden?

Mal 'ne ganz einfache Gegenfrage, weil über Politiker gemeckert, über Entscheidungen gemosert und über das Thema an sich gezetert wird:

Hast du schon mal versucht, die Rolle eines Politiker einzunehmen, die Entscheidungsfindung bei einer problematischen Aufgabe nachzuvollziehen und die verfügbare Zeit, um Vor- und Nachteile einer Entscheidung abzuwägen, dabei berücksichtigt.

Stell dir vor, du bist als Politiker verantwortlich für eine mittelprächtige Gemeinde. 12.000 Einwohner. Die Finanzen liegen am Boden. Du hast fast 10 % Arbeitslose. Da kommt eine ortsansässige Firma und sagt: „Wir wollen unser Werk erweitern, wir schaffen damit 400 Arbeitsplätze, und wir zahlen deutlich mehr Gewerbesteuer in das Gemeindesäckel. Allerdings brauchen wir dazu die zwei großen Ackerflächen neben unseren jetzigen Werk.“

Was machst du? Du sagst Ja!

Dumm nur, daß die beiden Bauern ein Höllengeld für ihre Äcker haben wollen - zuviel für die Firma. Die fordern von dir Enteignung unter Zahlung eines angemessenen Betrages. Das bringt den ganzen ortsansässigen Bauernverband auf die Barrikaden: „Erpressermethoden!“ Wem willst du jetzt zustimmen, der Firma für mehr Steuern und mehr Arbeitsplätze (und dafür den Vorwurf kassieren, du bist gegen das Landvolk und von der Industrie gekauft) oder für die Landwirte (und verlierst dadurch 400 Arbeitsplätze und mehrere Millionen Gewerbesteuer)?

Als nächstes klopfen die Umweltschützer an. Größeres Werk? Das heißt doch auch mehr Umweltbelastung! Mehr Müll, mehr Abwässer, mehr Verkehr. Das geht nicht so ohne weiteres. Die Firma muß Auflagen erfüllen, oder die Umweltbewegung geht in den aktiven Widerstand gegen die Erweiterung. Die Firma lehnt natürlich ab. Mit solchen neuen Auflagen - bisher waren ja keine gefordert - wäre die Erweiterung ineffektiv. Also den Ausbau ablehnen und damit die Umweltschützer aktivieren (was Demos, Behinderung, einstweilige Verfügungen und Rechtsstreit bedeutet)?

In einem Nachtrag zu den Erweiterungsplänen taucht dann plötzlich die Forderung nach besseren Zufahrtswegen auf. Ein neues Werk, mit 400 neuen Mitarbeitern, das heißt Parkplatzbedarf, das heißt aber auch deutlich mehr Schwerlastverkehr auf den Straßen zwischen dem Werk und der Autobahn. Also Ausbau der Straßen. Kaum ist die Nachricht bekannt, stürmen die Anwohner der betroffenen Straßen das Rathaus. Erweiterung des Werkes ja, aber bitte nicht auf unseren Kosten. Also kein Straßenausbau. Was wieder die Erweiterung verhindern würde.

So geht es hin und her, Tage, Wochen, Monate. Gespräch wird auf Gespräch geführt. Die Bauern wollen ihr Geld, die Firma will nicht zahlen, die Umweltschützer verlangen nach Filtern und Klärwerken, die die Firma nicht installieren will. Gegen den Straßenausbau kündigen Anwohner zivilrechtliche Klagen an, die ersten Bürgerinitiativen formieren sich. Die ortsansässigen Zulieferbetriebe fordern endlich eine Entscheidung, damit sie selbst ihre Investitionsplanungen vorlegen können. Baugrund zieht plötzlich im Preis an, was eine Reihe potentieller Bauherren verärgert. Die Firmenleitung drückt, weil sie Termine einhalten muß. Und jede Terminzusage wird von den einzelnen oppositionellen Gruppen mit Eingaben, Mißtrauensvoten, einstweiligen Verfügungen und Prozeßankündigungen quittiert.

Stimmst du der Erweiterung zu, verlierst du große Teile der Wählerstimmen bei den Bauern, den Umweltschützern und den Anwohnern der betroffenen Straßen. Tust du es nicht, dann sind die Kleinhändler und die Beschäftigten in der Firma sauer auf dich. Was also machst du?

Das ist kein erdachter oder besonders außergewöhnlicher Fall, sondern war vor etwa 10 Jahren Realität in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Im vorliegenden Fall kam man zu keiner Einigung. Die Firma baute die Werkserweiterung in der Nachbargemeinde und schuf im Laufe der Jahre nicht 400, sondern fast 1000 Arbeitsplätze. Die Gewerbesteuer kassiert jetzt die Nachbargemeinde.

Der verantwortliche Dorf-Politiker wurde übrigens bei der nächsten Kommunalwahl aus dem Amt gejagt.

*Das* ist die Politik, über die wir fortwährend meckern. Gibt es eine andere Politik, und wenn ja, wie hätte sie im vorliegenden Fall ausgesehen? Ist eine andere Politik überhaupt machbar?

Grüße
Siegfried

*Das* ist die Politik, über die wir fortwährend meckern. Gibt
es eine andere Politik, und wenn ja, wie hätte sie im
vorliegenden Fall ausgesehen? Ist eine andere Politik
überhaupt machbar?

Hallo Siegfried,

das mag man zwar entgegenhalten, aber es rechtfertigt die Ignoranz und die Entmündigung nicht.

Marco

Hallo Siegfried!

Das ist ein sehr interessantes Beispiel, das Du hier bringst.
Nur fehlt mir hier der Hinweis darauf, daß ja der Bürgermeister aufgrund seiner Parteizugehörigkeit sicherlich für eine gewisse Richtung steht, die ja der Großteil der Leute in der Geminde auch vertreten, sonst wäre er nicht gewählt worden.

Stell dir vor, du bist als Politiker verantwortlich für eine
mittelprächtige Gemeinde. 12.000 Einwohner. Die Finanzen
liegen am Boden. Du hast fast 10 % Arbeitslose. Da kommt eine
ortsansässige Firma und sagt: „Wir wollen unser Werk
erweitern, wir schaffen damit 400 Arbeitsplätze, und wir
zahlen deutlich mehr Gewerbesteuer in das Gemeindesäckel.
Allerdings brauchen wir dazu die zwei großen Ackerflächen
neben unseren jetzigen Werk.“

Was machst du? Du sagst Ja!

Ich sicherlich schon. Nur wäre ich auch auf alle Gruppen, die Du im folgenden nennst, vorbereitet.

Bei einer 12.000-Seelen-Gemeinde bietet es sich an, ein Referendum abzuhalten.
Man versammelt alle wahlberechtigten Bürger und verkauft ihnen das Projekt.
Man lässt auch die Opposition von Anfang an Mitreden und Vorschläge machen. Dann sind sie in der Pflicht, auch Lösungen anzubieten und können nicht einfach nur pöbeln.

Ganz klar ist, daß in diesem Fall die Firma die Erweiterung genehmigt bekommen muß. Lenken die Bauern nit den beiden Feldern nicht ein, ist die Enteignung der einzige Weg, da ja das Wohl von 400 Arbeitern und deren Familien (eigentlicvh im Endeffekt dann ja 1000) um einiges interessanter ist als der Wille von 2 Sturschädeln.

Die einzige echte Schwierigkeit sehe ich hier bei der Straßenerweiterung, denn da macht wohl kaum einer der Anwohner mit.
Hier braucht man eine echte Lösung. Evtl. eine Umgehung o.ä.
Lösbar ist sowas meistens.

Bleibt nur noch eine Frage: warum bin ich eigentlich nicht Bürgermeister?? :wink:

Grüße,

Mathias