Warum wuchsen viele Städte erst im frühen 19. Jahrhundert über ihre mittelalterlichen Grenzen hinaus?

Man sieht auf alten Landkarten und Stadtplänen, dass viele Orte erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts langsam über ihre oft noch vorhandenen Stadtmauern hinaus wuchsen. Warum geschah das erst so spät? Wurden plötzlich mehr Menschen geboren?

nein, die Leute zogen vom Lande in die Städte, um als Arbeiter in der gerade entstehenden Industrie zu schaffen.
Jedenfalls trifft der Beginn des 19 Jh. für beide Beobachtungen zeitlich genau zu. Ich stelle da mal leichtfertig einen Zusammenhang in den Raum.

Servus,

Dein Ansatz zu einer Erklärung geht in eine ganz andere Richtung als die Frage.

Du setzt voraus, dass es keine Veränderung in der Verteilung der Bevölkerung zwischen städtischem und ländlichem Raum gab; ferner, dass der bewohnte Raum pro Kopf konstant war, und außerdem, dass hundert Jahre lang eine gleichmäßige Entwicklung der Städte stattgefunden hat. Alle diese Prämissen waren in D nicht gegeben.

Schau Dir mal als Beispiel die Entwicklung der Bevölkerung Kölns an:

Etwa 1885 kannst Du den dramatischen Zustrom von Einwohnern aus dem ländlichen Raum sehen, der zu der schnellen Ausdehnung des städtischen Raums kurz vor der Jahrhundertwende geführt hat. Dass das kein einzelnes, besonderes Beispiel ist, kannst Du leicht sehen, wenn Du Dir die entsprechenden Viertel anschaust, die sich in allen Großstädten ziemlich gleichen (soweit nicht in den 1940er Jahren zerstört) und alle aus ähnlichen Baujahren kommen.

Abgesehen von dem „Knick“ ab 1885 findest Du eine normale exponentielle Entwicklung, die erst in den 1920er Jahren (u.a. mit der Verbesserung der Infrastruktur für Nahpendler) abflacht. Diese geht nicht auf eine ‚plötzliche‘ Steigerung der Geburtenzahlen zurück, sondern kann auch bei ganz gleichmäßiger Entwicklung der Geburten und Todesfälle stattfinden, wenn erstere genug und letztere wenige genug sind. Schau mal:

Zu Deiner Frage nach den Stadtmauern: Diese hatten noch im siebzehnten Jahrhundert eine wichtige Funktion, was zu einer Erweiterung des Wohnraums in die Höhe führte, ferner zum Überbauen der Straßen mit vorkragenden Obergeschossen, und auch zum Wohnen auf sehr, sehr engem Raum. Im Lauf den achtzehnten Jahrhunderts verloren sie mit veränderter Kriegstechnik ihre Bedeutung, aber als Verkehrshindernisse und willkommene Quelle von Baumaterial abgerissen wurden die meisten erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Schöne Grüße

MM

Bis zum Auftreten von Napoleon, waren die meisten Städte, mehr oder weniger, souveräne Staaten. z.B. hatte jede Stadt eigen Masse und Gewichte und eigene Rechte.
Da sich die Städte auch kriegerisch bekämpften, konnten sie nicht einfach über die Stadtmauer hinaus wachsen. Es gab zwar Vor-Städte, aber dort war das leben recht unsicher.
Eine wirkliche Vergrösserung der Stadt war also teuer, weil die Stadtmauer entsprechend neu gebaut werden musste.
Basel bekam um 1100 eine erste Mauer, bis 1400 folgten noch zwei weitere.

Allerdings war das Leben in der Stadt nicht unbedingt so erstrebenswert wie heute! Es gab keine Sanitären Einrichtungen und Kot und Urin wurden einfach auf die Strasse entsorgt. Entsprechend wütete die Pest auch vor allem in den Städten.

Napoleon hat dann alles vereinheitlicht und eine zentrale Verwaltung/Regierung eingeführt.
Nicht nur die veränderte Kriegstechnik, sondern auch die weggefallene Konkurrenz zwischen den Städten hat dann die Stadtmauern überflüssig gemacht, wodurch das Wachstum erst möglich wurde.

MfG Peter(TOO)

Sehr informativ! Das klingt alles schlüssig.

Hallo,

zusätzlich zu den von Aprilfisch genannten Gründen gab es noch weitere:

  • Zum Einen waren insbesondere die planmäßigen Stadtgründungen ab der Stauferzeit flächenmäßig sehr großzügig ausgelegt. Es gab lange zeit innerhalb der Stadtmauern brachliegende bzw. gärtnerisch genutzte Flächen, die nach und nach aufgesiedelt wurden (sofern die Stadtgründung erfolgreich war).

  • zum Anderen gab es bei „erfolgreichen“ Städten durchaus Erweiterungen des Mauerrings, um neue Wohnquartiere zu schützen und damit ihre Attraktivität zu erhalten bzw. zu steigern.
    So wurden zB in Stuttgart die ursprünglich außerhalb der Stadtmauern gelegenen Gebiete um den heutigen Hospitalhof („reiche Vorstadt“) und das heutige Bohnenviertel („Esslinger Vorstadt“) ab dem ausgehenden 14 Jhdt. besiedelt und waren spätestens in der zweiten Hälfte des 16. Jhdts in die Stadtbefestigung eingeschlossen.

  • Ein weiterer Grund war, daß das befestigte Stadtgebiet auch einen Rechts- und Fiskalbezirk markierte. Rechtsposition und Abgaben konnten sich durchaus unterscheiden abhängig davon, ob man „intra muros“ oder „extra muros“ lebte.
    Auch die heute wohl bekannteste Folge der Hoheit insbesondere der Reichsstädte, nämlich die Erlangung der persönlichen Freiheit nach Jahr und Tag („Stadtluft macht frei“) war idR an einen Aufenthalt „intra muros“ gekoppelt.

&Tschüß
Wolfgang

BEGINN des 19. Jahrhunderts ist doch der Zeitraum der die Jahre nach 1800 umfasst, also maximal bis 1820 ? Und da besteht doch eindeutig ein Zusammenhang mit Napoleon und seiner Verwaltung, sowie der Reformen, die in Deutschland darauf folgten und den darauf einsetzenden , Entfeudalisierungsprozess" (Deutsche Geschichte - Vandenhoeck - Band 3 - Seite 25. Hier wird auch von einer zweiten ,neolithischen Revolution" gesprochen. Zu DDR Zeiten mussten wir lernen, dass die Beseitigung der Leibeigenschaft der Bauern zur Erstarrung der revolutionären Arbeiterklasse führte, also; Abschaffung der Leibeigenschaft und beginnende Industrialisierung, die aber erst in der 30 er in Fahrt kam, führten dazu, dass immer mehr Leute ihr Glück in der Stadt probierten und diese konnten, wie schon Peter_Too schrieb, erst mit und nach Napoleon ihre alten grenzen erweitern.