Warum Zentralperspektive so spät 'erfunden'?

Hallo Kunstfreunde!

Eine Frage, die mir schon länger unter den Fingern brennt und die weder Wikipedia noch Google zufriedenstellend beantworten konnten, ist die nach der „Entdeckung“ der Zentralperspektive in der Renaissance.

Was ich daran nicht verstehe, ist 1.) die späte Entdeckung und 2.) die Tatsache, dass die Zentralperspektive überhaupt „entdeckt“ werden musste.
Das menschliche Auge und seine Perzeptionsweise wird sich im letzten Jahrtausend kaum geändert haben, also gehe ich davon aus, dass die Menschen im Mittelalter genauso „sahen“ (physikalisch mit den Augen wahrnahmen) wie wir heutzutage auch.
Aber jedes Kind erkennt doch, dass z.B. ein Schienengleis auf einen Fluchtpunkt zuläuft (auch wenn es Schienen damals nicht gegeben hat, so doch wenigstens Tische und andere Parallelität aufweisende Gegenstände).

Wie konnte es also kommen, dass Massen von Menschen eine so banale Erkenntnis wie die Zentralperspektive erst so spät „entdeckten“?
War das unerwünscht oder das Abbilden des Gesehenen durch irgendwelche kulturhistorischen Gegebenheiten in „falsche“ (nichtperspektivische) Bahnen gelenkt?

Weiss jemand näheres dazu oder hat sonst irgendeinen Erklärungsvorschlag?

Vielen Dank und viele Grüsse!

Perspektive in Antike, Mittelalter und Neuzeit
Guten Tag, Johnny

Mit ‚Perspektive‘ bezeichnet man die konstruierte
Projektion eines dreidimensionalen Objekts auf eine
(zweidimensionale) Fläche.

Antike: Perspektivische Darstellungen waren bereits den
Römern bekannt - auch die Zentralperspektive. So wurden
in Pompeji Wandfresken gefunden, die den Raum in einen
gemalten Garten fortsetzen.

Mittelalter: Im Mittelalter wurde das Wissen um die
Perspektive nicht weiter entwickelt, weil es nicht
benötigt wurde. Die mittelalterliche Malerei bediente
sich fast ausschließlich der ‚Bedeutungsperspektive‘,
d. h. die Größe der dargestellten Personen und
Gegenstände im Bild wurde durch deren Bedeutung
bestimmt, nicht durch ihre räumliche Anordnung. Wenn
Räumlichkeit überhaupt einmal eine Rolle spielte, so
erzielte man diese fast ausschließlich durch
‚Kulissenwirkung‘.

Neuzeit: In der Renaissance wurden die verschiedenen
perspektivischen Darstellungen wieder entdeckt - im
Zusammenhang mit der Erfindung der Camera Obscura auch
die Zentralperspektive.

Perspektiven werden durch das Auge produziert. Die
Renaissance-Menschen konnten aber diese
Gesetzmäßigkeiten vorerst nicht mit den Augen
feststellen, sondern nur durch Konstruktion. Als
Hilfsmittel diente ein Faden, der den Projektionsstrahl
darstellte. Er wurde von jedem wichtigen Punkt des
Objektes zu jedem Punkt auf der Zeichnung geführt. Das
perspektivische Sehen hat der Mensch dann nach und nach
erworben.

Noch heute müssen komplexe perspektivische
Darstellungen über die Gesetzmässigkeiten der
Konstruktion gefunden werden, weil man sie sich
(vorerst) nicht vorstellen kann. Mit CAD erzeugt man
jedoch Darstellungsvarianten in Sekundenschnelle.

http://de.wikipedia.org/wiki/Camera_Obscura
http://www.kusem.de/lk/akad/persp.htm

Freundlich grüsst

Rolfus

ich glaube nicht, dass das perspektivische abbilden eines räumlichen objekts auf einer zweidimensionalen fläche so eine banale sache ist. die wenigsten werden es auf anhieb schaffen z.B. ein haus perspektivisch korrekt zu zeichnen, selbst dann wenn das prinzip des fluchtpunkts bekannt ist.
rückblickend ist das wohl eine einfache sache, aber man muss halt erstmal drauf kommen.

Hallo johnny999,

…also gehe ich davon
aus, dass die Menschen im Mittelalter genauso „sahen“
(physikalisch mit den Augen wahrnahmen) wie wir heutzutage
auch.

Die Frage lässt sich nicht mit physikalischen oder organischen Bedingungen klären, sondern eher geistesgeschichtlich:
Erst mit der Renaissance richtet sich der Blick mehr vom Jenseits auf das Diesseits des irdischen Lebens und schafft damit die geistige Voraussetzung für ein perspektivisches Abbild der Realität.
Selbst wenn die technischen Voraussetzungen bestehen, muss ein Interesse, ein Wille zur Benutzung vorhanden sein.

Vor dieser Epoche, nämlich zur Zeit des Mittelalters/der Romanik, bestand ein anderes Verhältnis zur Realität:

"Der romanische Künstler versucht nie, ein Erscheinungsbild der realen Dingwelt wiederzugeben. Dazu hat er keine Veranlassung. Er will höhere Realitäten darstellen, entsprechend dem Weltbild, das ihn und sein ganzes Zeitalter prägt:

  • Er verkündet Glaubensrealitäten, die das Transzendente tangieren, also nicht mit irdischen Realitäten wiedergegeben werden können.
  • Er illustriert allgemein menschliche Situationen, die durch ihre überzeitliche Allgemeingültigkeit zu abstrakten, begrifflichen Wahrheiten komprimiert werden. Auch ihre Visualisierung erfordert Abstraktion und zeichenhafte Verallgemeinerung."
    Aus: http://kunst.gymszbad.de/kunstgeschichte/epochen/rom…

Der Kunsthistoriker Alois Riegl hat dafür den Begriff des Kunstwollens einer Epoche geprägt.

Freundliche Grüße
rotmarder