Ich kenne dieses Konzept Blantons nicht, und kann speziell dazu entsprechend nichts sagen, sondern nur Allgemeines.
Ich habe aber ein anderes Konzept „radikaler Ehrlichkeit“ am eigenen Leib erlebt, und weiß deshalb, dass radikale Ehrlichkeit außerhalb eines genau definierten Kommunikationsraums nicht funktionieren kann.
Im Rahmen meiner Therapeutenausbildung hab ich an ein paar Gruppenpsychoanalyse-Seminaren teilgenommen. Da ist ein Seminarleiter dabei, der aber nur im Notfall eingreift und sonst das Seminar gar nicht steuert. Die einzige explizite Regel (neben den impliziten Regeln wie „bleib im Raum“, „geh auf niemanden körperlich los“ usw.) lautet „Sag jederzeit spontan, was dir einfällt, ungefiltert“, also eine Form von „Sei schonungslos ehrlich!“.
Naja, das ist eine sehr krasse Erfahrung, an der ich jedes Mal wochenlang dran zu knabbern hatte. Ich erinnere mich noch an eine Teilnehmerin, die dekompensiert ist, also vorübergehend psychotisch geworden ist.
Das ist für diesen Selbstefahrungs-Zweck alles sinnvoll und gewünscht.
Ein Konzept, das mittels der Schaffung der passenden Rahmenbedingungen geeignet ist, diese schonungslose Ehrlichkeit auch wirklich auf die Beine zu stellen (was die Gruppenpsychoanalyse kann) und nicht nur als Werbeformel zu nutzen, ist aber sicher nichts, was längerfristig und im Alltag lebbar wäre.
In der Psychotherapie, in der Ehrlichkeit/Aufrichtigkeit (insbesonders auch sich selbst gegenüber) ja etwas ganz Zentrales ist, gibts den Konsens der „selektiven Ehrlichkeit/Offenheit“: Man kann als Therapeut prinzipiell wirklich alles sagen (lassen), aber eben selektiv, wenn der Zeitpunkt der richtige ist für die andere Person. Eine Frage von Takt und Taktung.
Das ist aus meiner Sicht dann auch eine alltagstaugliche und sinnvolle Form von „radikaler Ehrlichkeit“.
Gruß
F.