Hermeneutische Theorie und Methode
Hi.
Das Spezifische an Hermeneutik ist einfach ihre Funktion: sie ist die Kunst der Deutung, der Interpretation, des Verstehens. Dilthey war der erste, der zwischen Erklären (Naturwissenschaft) und Deuten (Geisteswissenschaft) unterschied. Deuten ist immer mit einer fundamentalen Unschärfe verbunden (die Subjektivität des Deutenden sowie die Unvollständigkeit der Kontexte), während Naturwissenschaft (zumindest dem Anspruch nach) präzise Ursachenanalyse betreibt.
Unsere geistige Existenz ist ständig von hermeneutischen Fragen durchdrungen: was bedeutet dieser Blick, diese Geste? Was hat X wirklich gemeint, als er/sie dies oder das sagte? War es ernst oder ironisch gemeint? Der Kontext ist immer wichtig. Hat er/sie dabei gelächelt, dann liegt Ironie nahe. Weiß man noch mehr über den Kontext (z.B. über die Psyche von X), könnte es aber auch sein, dass X trotz des Lächelns das Gesagte ernst meinte. Er/sie könnte verlegen oder ängstlich gewesen sein und wollte das Ernstgemeinte hinter einer ironischen Fassade kaschieren.
Hermeneutik ist also immer auch Kontext-Analyse.
Das Bild ist ein visueller Text. Alles andere, was mit diesem Text in Zusammenhang steht oder stehen könnte, ist Kontext. Der Hermeneutiker muss in seiner Analyse beide Dimensionen synthetisieren.
Schleiermacher beschrieb die hermeneutische Methode als ein empathisches Sichhineinversetzen in den Geist des Autors/Bildschaffenden. Ein unendlicher Prozess, der nie zu einer perfekten Deutung führt, aber zu Annäherungen.
Gadamer schloss aus (und das ist der modernere, aufgeklärtere Standpunkt), dass ein adäquates Sichhineinversetzen möglich ist. Der Deutende bringt nämlich immer schon seine eigenen, persönlichen wie auch Zeitgeist-bedingten Sichtweisen in die Deutung ein. Diese Sichtweisen sind das „Vorverständnis“. Der Deutende muss dann dieses Vorverständnis anhand genauerer Untersuchungen modifizieren, indem er sie anhand der Kontextanalyse überprüft. Diese Kontextanalyse betrifft die Untersuchung des zeitgenössischen Kontextes des Bildes sowie des persönlichen Kontextes des Bildschaffenden. Welche symbolische Funktion hatte dieses Detail im Gemälde zu der Zeit seiner Entstehung? Usw.
Die Differenz zwischen dem Deutungskosmos der Bildentstehungszeit und dem Deutungskosmos der Zeit des Deutenden ist die „hermeutische Differenz“. Die ist natürlich umso geringer, je aktueller der untersuchte Gegenstand ist. Allerdings gibt es auch kulturelle Differenzen zwischen Zeitgenossen. Ein Bild aus einem anderen zeitgenössischen Kulturkreis muss eben nach seinen spezifischen Kulturkontexten untersucht werden. Heutzutage sind Kontexte aber weitgehend global. In das Gemälde eines chinesischen Künstlers werden auch immer Einflüsse der westlichen Malerei eingehen, vielleicht Warhol oder Sigmar Polke oder die Marvel-Comics. Wir sind heute definitiv global vernetzt.
Das Bild sollte stufenweise analysiert werden.
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formal: Komposition der Bildelemente. Das ist die „Syntaktik“.
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Aufzeigen des (potentiellen) Symbolcharakters der Bildelemente. Was bedeuten sie für sich genommen? Ist eine Sanduhr nur eine Uhr oder ein Todessymbol? Wofür steht diese Frauenfigur? Für Unschuld, Verführung, Sehnsucht? Hier spielt der Begriff „Konnotation“ eine Rolle: Begriffe oder Bildelemente tragen immer ein Feld von Nebenbedeutungen mit sich, die persönlich oder kulturell geprägt sind. Es gibt auch „private“ Symbole, z.B. bei Dali: die weichen Uhren sind vermutlich Symbole seiner (sexuellen) Impotenz (Dali schlief nie mit Gala oder einer anderen Frau).
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Aufzeigen des Bild-Sinnes im Ganzen. Das ist die „Pragmatik“. Hier werden die gedeuteten Elemente in einen Zusammenhang gestellt und die Deutung auf einen oder mehrere Nenner (mehrere Deutungsmöglichkeiten) gebracht. Banales Beispiel: eine Sanduhr und eine schöne nackte Frau. Deutung: Schönheit ist vergänglich oder Leidenschaft ist vergänglich.
Gruß