zum Begriff der Religion
Hi Heinrich,
das ist ein bombastischer Fragenkomplex, den du da anreißt. Und dennoch gehört dies zu den Fragen, die ja hier immer wieder im Hintergrund stehen. [Deshalb bin ich auch dabei, zu diesem Thema ein FAQ zu basteln].
Was ist eigentlich Religion überhaupt (bzw. wie ist der Begriff „Religion“ zu bestimmen) und was ist - im Unterschied dazu - eine Religion: Diese Fragestellung bietet sich hier ebenso an, wie im Gebiet der Philosophie bezüglich des Begriffs „Philosophie“ (wo sie auch schon mal im Grundriss beantwortet wurde - siehe Brettbeschreibung dort).
Die Frage ist ja Gegenstandsbereich und erstaunlicherweise zugleich Ausgangspunkt und Zielpunkt sowohl in der Vergleichenden Religionswissenschaft als auch in der Religionsphilosophie. Und genau dabei wird ein Zirkel sichtbar: Um den Gegenstand von Religionswissenschaft gegen andere Wissenschaft abzugrenzen, müßte der Begriff „Religion“ schon definiert sein. Um aber eine Definition zu finden, muß man empirisch durch alle religiösen Phämomene der gesamten Kulturgeschichte gehen. Um dies aber wieder zu tun, bräuchte man ein Kriterium der Unterscheidung, was ein religiöses und was ein nicht-religiöses Phänomen ist … usw.
Um zu einer deiner Fragen zu kommen: Ja, es gibt „Religionen“, in denen ein Gottesbegriff keine Rolle spielt: Die bekanntesten Beispiele sind die, die du teils schon erwähntest: Daoismus, Yoga, Buddhismus, Ch’an (Zen) … aber vor allem wären unzählige Kulte zu erwähnen, die man aus bestimmten Gründen als „primitive Religionen“ bezeichnet(e), bei denen eine präzise Unterscheidung zwischen „Göttern“ und „Dämonen“ sehr schwierig ist (und das hängt wieder davon ab, wie man den Begriff „Gott“, „Götter“ bestimmt).
Aber auch bei den erstgenannten gibt es „populäre“ Varianten, bei denen man durchaus kultisches Verhalten (Ahnenkulte, Personenkulte usw.), rituelle Praktiken (magische Praktiken, Heilungsrituale usw.) findet, die sich kaum von Erscheinungen unterscheiden, in denen auch Götter oder Dämonen eine Rolle spielen.
Aber hier sieht man schon das Problem:
a. wenn wir sie trotzdem als Religionen bezeichnen, haben wir damit bestimmt, daß Gottesbegriffe für den Begriff „Religion“ nicht zwingend seien.
b. wenn wir sie deshalb nicht als Religionen bezeichnen, haben wir damit bestimmt, daß Gottesbegriffe für den Begriff „Religion“ zwingend seien.
Im Übrigen wären jedenfalls als wesentliche Bestandteile einer Religion zu nennen:
1. Ein Bestand an Mythen und (damit eng zusammenhängend) Ritualen. Mythen (insbesondere kosmogonische = Schöpfungs-Mythen) haben dabei den Zweck, auf rituellem (bzw. zeremoniellem) Wege aktuelles Handeln und Geschehen zu „legitimieren“. Eine aktuelle Handlung, Beschlußfassung, „Weihe“ gewinnt ihre Gültigkeit (und damit ihre reale Relevanz) erst durch einen Zusammenhang mit einem kosmogonischen Präzedenzfall: Totenkulte, Eheschließungen, Königs- und „Priester“-weihen, Grundsteinlegungen, Gesetzgebungen, Initiation in die Stammesmitgliedschaft usw.
Die Legitimation bzw. Güligkeit gewinnt eine rituelle Handlung dabei durch eine Identifizierung („identification magique“) des Hier & Jetzt mit dem kosmogonischen Akt.
2. Eine soziale Relevanz der mythischen und rituellen Vorstellungen: Sie definieren den Stamm (z.B. durch Bezug auf den mythischen Stammesgründer , der tatsächlich gar nicht notwendig als historische Person gedacht wird/wurde) oder in größeren Gesellschaften die „Gemeinde“ und die Zugehörigkeit des Individuums zu ihr. In diesen Kontext gehören nicht nur ethische Normen, sondern auch konkretere Verhaltensnormen wie Kleidung, Eßgewohnheiten usw.
In diesem Komplex fällt auch alles das, was man im weitesten Sinne als Heilslehre bezeichnet: Die mythischen Grundlagen haben eine Grundbestimung vom Wesen des Menschen geliefert, und die Heilslehre bestimmt, wie der Mensch dieser seiner Grundbestimmung angemessen werden könne. Daß der Mensch es nicht mehr ist seit einem „Bruch“, einem Widerspruch gegen die Idee seines Wesens, der unmittelbar bereits im mythischen Schöpfungsgeschehen verankert gedacht wird, scheint ein durchgängiges Gedankengut aller religiöser Erscheinungen (gewesen) zu sein. Lebensziel ist daher - so kann man generalisiert formulieren - die Rückkehr in den Zustand der Schöpfung und der urspünglichen Wesensbestimmung des Menschen.
3. Ein Bereich, den ich unbedingt separat mit hinzunehme, der aus bestimmten begriffshistorischen Gründen als Mystik zu bezeichnen wäre: Es ist eine Komponente, die erst deutlich zutage tritt, wo die Gesellschaft sich so weit entwickelt hat, daß der Individualität der Einzelperson eine besondere Rolle zugeordnet wird. Hier geht es um die Beziehung zwischen dem Einzelnen (und seinem Verhalten während der Lebenszeit) und dem, was als Grundprinzipien im Hintergrund steht: Bei theistischen Religionen sind das natürlich der Gott oder die Götter, bei nichttheistischen ein anderes, nicht personal gedachtes Grundprinzip.
Die mystische Beziehung des Individuums mit diesem kosmischen Grundprinzip ist hier nicht mehr auf die Zukunft ausgerichtet, sondern wird im Hier & Jetzt aktuell erfahren ( unio mystica ). Diese ausschließlich individuelle"Erfahrung" (es ist prolematisch, ob dieser Ausdruck dafür zutreffend ist) ist natürlich jeweils anders näher zu bestimmen, je nachdem, um welche Religion es sich handelt. Die Konzeptionen können sich dabei sehr extrem unterscheiden. illuminatio heißt es bei Augustinus, und sonst finden wir Begriffe vor wie z.B. buddhi, dao, satori usw. Hierher gehören u.a. auch bestimmte Formen der Initiations erfahrungen sibirischer Schamanen, ebenso wie die der israelitisch-jüdischen Propheten.
Eine Abgrenzung gegen den Begriff „Philosophie“ ist einfach, wenn man diesen im Sinne der griechisch-europäischen Philosophiegeschichte verwendet (andernfalls wirds schwierig). Religion, Gottesbegriffe, ethische Normen usw. sind darin natürlich auch ein Thema, aber nur unter anderen Theman. Rein methodisch und begrifflich geht es aber um etwas ganz anderes.
Schwieriger ist es, eine Abgrenzung gegenüber „Psychologie“ und Psychotherapie zu bestimmen. Denn zumindest der unter 1. umrissene Themenkomplex kann durchaus als frühe historische Vor-Form (bei den sog. „primitiven“ Religionen ist dies ja die einzige Ebene) von Psychotherapie incl. psychologischer „Theorie“ (Krankheitstheorie: Die jeweiligen Definitionen, wann eine „Seele“ krank ist und wie sie geheilt werden kann) aufgefaßt werden.
Soweit einige Kernpunkte zu der Ausgangsfrage.
Gruß
Metapher