Was ist toll an Free Jazz?

Ich bin ja nun echt offen für neues. Alle Stile, alle Richtungen, ich würde nie jemanden verurteilen wenn er Musik hört mit der ich nichts anfangen kann. Über Geschmack streitet man nicht. Aber ich bin hier über was gestolpert wo ich mich ernsthaft frage was an dieser „Musik“ jemanden dazu bewegt nach einem Besuch eines Konzertes dieses „Künstlers“ zu sagen „War toll! Der hat mich echt begeistert!“.

Link: https://www.youtube.com/watch?v=MHTDPx8LpuQ

Danke für Aufklärung.

Servus,

falls Du mal bei den Donaueschinger Musiktagen warst, ist Dir sicherlich aufgefallen, dass man nicht nur für das Verständnis der Entwicklung, die der Jazz ab etwa 1970 genommen hat, nicht nur eine gewisse Hörgewohnheit benötigt, sondern auch (etwa im Gegensatz zu Dixieland und Swing) ein wenig Musiktheorie kennen sollte, weil sich kein spontaner Zugang erschließt.

Wenn Du die Verrisse der Uraufführung von Bizets „Carmen“ liest, siehst Du übrigens, dass die genannten Dinge für das, was 1875 ganz neu war, ganz genauso galten.

Hast Du das „Jazzbuch“ von Joachim-Ernst Berendt und Günther Huesmann mal gelesen? Die Entwicklung des Jazz, die man ganz in Bausch und Bogen als eine Geschichte der Emanzipation von Harmonie, Rhythmus und einzelnen Instrumenten beschreiben könnte, ist darin sehr schön beschrieben und erläutert, so dass sie auch für Nichtmusiker wie Meinereinen verständlich wird.

Und zurück nach Donaueschingen: Bereits Musik von Béla Bartók, die ja nun nicht grad unbedingt in die allerjüngsten Entwicklungen der Neuen Musikt gehört, kann man ohne die zwei genannten Ingredienzien (a) Hörgewohnheit und (b) bissel Theorie nicht gut hören. Musik ist halt nur manchmal was zum Mitschunkeln - das war beiläufig keine Spur anders, als JSB seine Toccata und Fuge in d-Moll erdacht und geschrieben hat.

Es gibt aber keinen Zwang - genauso wenig wie es einen Zwang gibt, zu einem Leierkasten-Divertimento von W.A. Mozart die Augen zu schließen und andächtig das Kinn zu wiegen: You’re free to appreciate -

Schöne Grüße

MM

Zum LSD-Trip kann das eine interessante Erfahrung werden.
Als „Katzenmusik“ geht das nicht durch. das hätte keine Mieze verdient.
Eine „Orchesterprobe“ klingt eigentlich nicht unähnlich. Vielleicht hatten sie sich mal gerade eingespielt, Applaus bekommen und sich den eigentlichen Auftritt gespart.

Spaß beiseite:
Für manche sind Wagner-Opern schon kaum anhörbar, obwohl es da noch erkennbare Harmonien gibt.
Schau mal bei Stockhausen: https://www.youtube.com/watch?v=Y1Psx24n3rM
Der Wert solcher Werke scheint sich Normalsterblichen nicht zu erschließen.

Gruß
rakete

Servus,

das Lustige daran ist, dass das gesamte 19. Jahrhundert einschließlich der hübschen Arien von Verdi, die man so nett und meistens falsch in der Dusche singen kann, Musik gemacht hat, die zu wesentlichen Teilen aus Tonfolgen bestand, die noch hundert und erst recht hundertfünfzig Jahre vorher als Dissonanzen galten, die man ganz dringend vermeiden muss, wenn man componirt.

Wo ist jetzt genau die Grenze, bei der ein „Normalsterblicher“ noch mitkommt? Und ist sie tatsächlich fest gefügt, ungefähr so vielleicht wie bei den Bildern im Museum, bei denen es vor allem gaanz wischdisch ist, dass man „sofort sieht, was das sein soll“?

Schöne Grüße

MM

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Gerade mal reingehört. Da würde sogar meine Oma sagen „Oh, schön“. Einfach weil eine Melodie da ist die einen durch das Stück „führt“. Ich könnte mir das mit einem Glas Wein im Sessel auch gut vorstellen.

Bei Herrn Brötzmann sagte sie „Mein Gott! Was ist das???“, wie übrigens spontan alle denen ich das vorspielte.

Woher kommt also diese Wahrnehmung dass bestimmt 90 von 100 Personen einen Bartok oder sicher auch einen Lemmy angenehmer empfinden würden als einen Brötzmann? Das kann doch nicht nur am Wissen über Musiktheorie liegen.

Servus,

noja, Bartok war aus dem Stegreif gegriffen. Taste Dich mal das Ende des 19. und dann das 20. Jahrhundert entlang - z.B. Mahler, Stravinsky, Enescu, Britten, auch Stockhausen, Orff (ja, der hat nicht nur die Carmina Burana geschrieben ) usw. - Du wirst sicherlich den finden, bei dem Du beim spontanen Hören sagst „Da komm ich nicht mit, was soll das denn?“

Es zumindest nicht ausschließlicher Zweck von Musik, als angenehm empfunden zu werden. So wie es auch nicht ausschließlicher Zweck der bildenden Kunst ist, als hübsch empfunden zu werden.

„Eine Melodie“ ist übrigens beim Free Jazz auch da. Bloß halt ein bissle anders als bei Smetanas Moldau. A propos „Musiktheorie“ und „Moldau“: Hast Du mal probiert, was dabei rauskommt, wenn man „Alle meine Entchen“ in Moll singt? Das hat uns ein Musiklehrer zur Einführung der „Moldau“ mal vorgemacht - das Schöne ist, dass gut gemachte Musik es aushält, wenn man über sie lacht.

Schöne Grüße

MM

Hi,

Doch, tut es. Man muss in der Lage sein, ein thema über Tomaten und Instrumente und Rhythmen und Geschwindigkeit hinweg zu verfolgen, sich an gehörtes erinnern können und dann das gehörte noch mit bereits dagewesenem vergleichen können (musiktheorie). Dann kann man beurteilen ob etwas kunstfertig, kreativ oder sogar innovativ ist. Und wenn man sich mit den Instrumenten beschäftigt hat oder vielleicht sogar eins oder mehrere selbst spielt, kann man einschätzen, welche technische Leistung der Musiker vollbracht hat. (Auch Musiktheorie)
Darüber hinaus muss man natürlich vor allem gewillt sein, sich mal etwas völlig neues anzuhören, also vom seinen Hörgewohnheiten abzuweichen. Das ist ein grosser Schritt und verlangt Interesse und Mut - es kann ja auch schiefgehen. Und es ist auch mutig, sichvmudik mal aktiv anzuhören:„Was machen die da eigentlich ? Wie? Was wollen Sie mir erzählen?“ Aber auch dabei kann man natürlich scheitern. Es ist auf jeden Fall nämlich zuerst anstrengend.
Aber man ist ja wie gesagt zu nichts verpflichtet. Es ist legitim, sich z.B. unaufregende Musik in deutscher Sprache mit 80bpm anzuhören, die einen nicht aufregt und die man versteht und die keine Arbeit verlangt. So wie die einen Schnitzel mit Pommes essen, weil das sicher ist und nicht schiefgehen kann. Es schmeckt immer, ist günstig und überall zu haben. Und andere geben dreistellige Summen für ein mehrgängiges Menü beim Schuhbeck aus. Weil sie alltäglich schon kennen und mal was anderes wollen. Und es gibt viele viele dazwischen. Und das gleiche existiert in vielen Lebensbereichen.

die franzi

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  • zum Beleg, dass Zeit, Gewohnheit, Hörgewohnheit und Entwicklung in der Zeit viel daran ausmacht, ob man eine Musik „angenehm“, „melodisch“, „hübsch“ usw. empfindet oder nicht, hier ein Stücklein von John Coltrane, der zu den Vätern des Free Jazz zählt:

Die Rhythmusinstrumente „halten das Stück zusammen“ und schieben es von Anfang bis Ende in einem Strang mit ziemlich gleichbleibendem Drive entlang, aber achte mal drauf, was die anderen Instrumente so machen!

Gleichzeitig kannst Du da übrigens auch einen schon im Vergleich zu anderen Jazzmusiken der selben Zeit sehr weit emanzipierten Bass hören, der durchaus nicht „bloß“ Rhythmus macht und verkündet, wo im Quintenzirkel man sich grad befindet.

Schöne Grüße

MM

Ich bin ja kein absoluter Jazz-Anfänger. Ich kenne auch Coltrane und schätze viele seiner Werke. Das obige fängt grandios an, aber hat dann eben diese „Brötzmann-Spitzen“ die ich als extrem unangenehm empfinde. Oscar Peterson - der regt nicht auf!

Servus,

eben Oscar Peterson war ja „schuld“ daran, dass Coltrane diesem Jazz, der drohte, zur Bar-Musik zu verkommen, etwas entgegensetzen wollte.

Nicht falsch verstehen bitte: Petersons „Night Train“ und „Walking the Line“ gehören zu den Musiken des zwanzigsten Jahrhunderts, die es meiner Meinung nach wert sind, auch im dreiundzwanzigsten Jahrhundert noch bekannt zu sein. Aber Jazz bleibt nicht stehen, er geht immer weiter - so wie er von New Orleans nach Chicago gegangen ist usw. usw. - und in dem Moment, wo er Mehrheiten auf seiner Seite hat, ist etwas falsch.

Jazz ist Musik von den Leuten, die zum Lieferanteneingang hineingehen mussten, weil sie die falsche Hautfarbe hatten, und die auch deswegen 1950 - 1970 Paris zur weltweiten Metropole des Jazz machten, weil dort eben anders als im Mutterland des Jazz Liberté - Egalité - Fraternité galt. Weder die individuellen Biographien der Musiker noch die weiter gefassten Umstände, unter denen Jazz entstand und bis heute besteht, sind hübsch und harmonisch. Weder Synkope noch Blue Note sind hübsch, beide stören eigentlich - und wenn sie zu eingängig geworden sind, ist es nur folgerichtig, wenn man sich andere Störungen einfallen lässt.

Die können (von heute aus gesehen) auch ganz harmlos sein wie z.B. die von Eberhard Weber, der den Bass in einer vorher zwar schon öfter versuchten, aber nie so erreichten Weise zum Solo-Instrument entwickelt hat, oder Charlie Mariano, der es geschafft hat, allein durch die Art, wie er intonierte, die rechnerisch allerschrägsten Dissonanzen noch melodisch klingen zu lassen - wobei insbesondere letztere intellektuell durchaus anspruchsvoll ist, jedenfalls viel anspruchsvoller als wenn heute noch, über hundert Jahre später, die ‚Red Roseland Cornpickers‘ ihren Dixie herunterschrammeln (was zum Bier durchaus nett ist, aber halt kein Jazz im eigentlichen Sinn).

Kurzer Sinn: Wenn Jazz nur noch angenehm ist, ist er auf offener Strecke eingeschlafen.

Findet

MM

  • achja übrigens: Mit dem ‚Halberstadt Project‘ outet sich, wie ich finde, John Cage posthum als Jazzer. Ich glaube nicht, dass man seine Musik in der Burchardikirche ‚schön‘ oder gar ‚angenehm‘ finden kann. Aber diese Kirche gehört zu den Orten, die ich in den hoffentlich ungefähr dreißig Jahren, die ich noch habe, sicher besuchen möchte. Allein schon deswegen, weil das dortige Konzert stört.

Schöne Grüße

MM

Ist der Blues auch. Mir sind da aber keine „Weiterentwicklungen“ bekannt die 90% der Hörer als einfach unangenehm empfinden würden.

Aber ich habe verstanden. Der Kölner würde sagen „Leve und leve losse“. Wer sich nach einem langen harten Arbeitstag beim Brötzmann entspannt soll es tun, wer andächtig dem Halberstadt Project lauscht (angehört, kein Kommentar) soll es tun. Wer Grünkohl mit Erdbeersorbet auf Casu Marzu mag, gerne. Ich aber brauche das alles nicht.

Im Koordinatensysrem auf der persönlichen Zeitachse vermutlich als gegen Null strebende Kurve zu betrachten (gilt natürlich hier nur für Unterhaltungsmusik) :grinning:
Gruß
rakete