Moin J~
Wow, sehr gute Fragen! Aber das wird jetzt lang. Extrem lang. Ich möchte sehr gerne alle deine Fragen bis ins Letzte beantworten, das wird nur nicht auf einmal gehen. Wenn du also Zeit hast…
Die Musikersprache ist mir aber nicht so geläufig, einiges muss ich deshalb noch mal nachfragen.
Sorry, ich wollte Fachausdrücke möglichst vermeiden, aber beim Schreiben kam es dann so…
Was heißt denn frei spielen? Bisher bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass es die Aufgabe des Komponisten ist zu bestimmen, welcher Ton wann wie lange angeschlagen werden muss, in welcher Geschwindigkeit das Werk gespielt wird, wie laut es klingt und wo Pausen auftreten.
Du sprichst hier verschiedene Aspekte an, die unterschiedlich genau notiert werden (können).
welcher Ton: Das ist am klarsten festgelegt. Aber selbst da kann es Möglichkeiten geben: Zum Beispiel eine Verzierung, in deinem Notenbeispiel gleich die erste Note. Da steht diese kurze gezackte Wellenlinie mit dem senkrechten Strich drüber; diese Verzierung (ein Mordent) wird im Prinzip ausgeführt, indem man kurz den Ton selbst spielt, dann kurz zum Ton darunter wechselt und dann wieder den ersten, den Hauptton, spielt und hält. Nun gibt es Ganztöne und Halbtöne, und nicht immer ist aus dem Kontext eindeutig festzulegen, ob man den Halbton nehmen soll oder den Ganzton. Also hier könnte man gis spielen oder g.
Ausserdem kann man den Mordent durchaus länger spielen, also nicht nur einmal zur „Nebennote“ wechseln, sondern zweimal oder noch öfter.
Generell sind Verzierungen im Barock (also z. B. bei Bach und Händel, aber noch mehr bei den Franzosen wie Couperin) ein Feld für die Individualität des Interpreten. Oft sind nur wenige Verzierungen überhaupt notiert, an bestimmten Stellen muss man einen Triller machen, an vielen kann man Verzierungen einbauen (und das wurde vom Komponisten erwartet).
wann: ist die Frage nach dem Rhythmus. Der ist im Prinzip genau festgelegt. (Radio Eriwan lässt grüssen). Wenn zum Beispiel in einem Takt sechzehn Sechzehntel hintereinander stehen, sollen sie alle gleich lang sein. Im Prinzip. Der Klavierschüler muss natürlich erst einmal üben, gleichmässig zu spielen. Er muss das können. Aber wenn der Schüler zum Meister geworden ist also wenn er alles völlig gleichmässig spielen kann, dann ist es absolut legitim, einzelne Töne zu dehnen und andere dafür schneller zu spielen. Und eigentlich ist es nicht bloss legitim, sondern unerlässlich. Aber der Grad und die Häufigkeit dieser „Verzerrung“ und wo konkret man sie anwendet, das ist dann die Kunst.
Die Toccata nun ist als Gattung aus der Improvisation entstanden, und das sieht man hier sogar schon im Notenbild: der zweite Takt ist rein notationstechnisch viel zu lang, viel zu viele Viertelnoten. Gemeint ist hier, dass man mehr oder weniger langsam nacheinander die Töne anschlägt und liegenlässt, was eindeutig notiert ist durch die Bindebögen zum nächsten Takt und die Wiederholung der Töne dort. Aber wie langsam oder schnell diese Viertelnoten im zweiten Takt aufeinanderfolgen, ist nicht festgelegt. Reine Interpretationsfrage – und so war es auch schon bei Bach.
Die ganze Toccata sollte also nicht mechanisch klingen, sondern wie eine Improvisation. Bach musste aber irgendwelche Tonlängen schreiben. Die sind nicht so wörtlich gemeint. Er hatte einfach keine andere Möglichkeit; moderne Komponisten haben dafür neue Notationen entwickelt.
wie lange: Das ist wieder ein grosses Thema. Kürzlich habe ich einen schönen kurzen Artikel über das „Ende der Note“ gelesen. Wieder ist es so, dass der Schüler erst einmal lernen muss, die Töne möglichst genauso lange aushalten zu können, wie ein Computer sie spielen würde. Aber das würde ich nie so sklavisch mit einem Schüler machen. Denn ein Stück wie die Badinerie von Bach klingt nur leicht und heiter, wenn die Töne kurz gespielt werden. Aber wie kurz ist kurz, wann sind sie zu kurz und klingen nicht mehr, wie lang müssen sie sein um zu klingen, wann sind sie zu lang, so dass das ganze Stück lahm und langweilig klingt? Das kann kein Computer entscheiden und kein Komponist notieren. Das lernt der Mensch durch Hören und Nachmachen, viel selbst ausprobieren und sich kritisieren lassen, auch sich selbst aufnehmen und kritisch anhören.
Wir stehen auch alle in einer Tradition bzw. in vielen verschiedenen Traditionslinien. Die Komponisten im Barock hatten z. B. ganz klare Vorstellungen, wie etwas gespielt werden soll, das in bestimmten Taktarten steht. Diese Traditionen brechen in der Klassik immer mehr weg und sind in der Romantik fast ganz verschwunden. Das sind also Dinge, die nicht notiert sind, die aber damals jedem bewusst waren.
Heute wiederum hat man als Interpret die Möglichkeit, alte Quellen zu studieren und bei Musikern zu studieren, die sich da eingearbeitet haben. Man kann aber auch sagen, mir ist das egal, ich spiele es so, wie ich es für richtig halte. Und auch dabei können grossartige Interpretationen entstehen. Es kann dir niemand verbieten, Bach am modernen Flügel mit Pedal zu spielen, auch wenn Bach dieses Instrument niemals gehabt hat und es von daher völlig anachronistisch ist.
Jetzt bin ich weit abgeschwoffen Es ging um das Ende der Note. Es sagt sehr viel aus über den Künstler, wie er einen Ton beendet. Bei Sängern zum Beispiel, ob sie den Schlusston abreissen oder verklingen lassen, ob sie den letzten Konsonanten noch einmal herausschleudern oder nicht.
Man darf nicht vergessen, dass die Notation keine mathematische Formel ist. Vier Viertel lassen sich zwar immer in 16 Sechzehntel aufteilen, aber im Grunde entsteht die Notation aus einer Art graphische Gedächtnishilfe, und so war nie gemeint, dass eine Viertelnote genau so lange klingen muss, bis die nächste Zählzeit beginnt. Im Barock und der Klassik (also grob gesehen 18. Jh.) sind die Noten prinzipiell etwas vorher zu beenden und nicht bis Ultimo zu dehnen. Das ist eher ein Ideal der Romantik, aber auch da oft falsch.
wo Pausen auftreten: hängt eng mit dem Ende der Note zusammen. Auch kann man Pausen etwas dehnen, um ihre Wirkung zu verstärken, und man kann sie verkürzen, wenn man einen Zusammenhang schaffen will. Alles legitim.
in welcher Geschwindigkeit: Das ist am allerwenigsten zu bestimmen. In der Bachtoccata steht „Adagio“. Das heisst wörtlich „gemütlich, bequem, langsam“. Der Musik versteht es in der Regel nur als „langsam“. Aber wie langsam ist langsam?
Bei schnellen Tempi neigen viele dazu, einfach alles so schnell wie technisch möglich zu spielen. Das ist aber nicht unbedingt, was der Komponist gemeint hat.
Manchmal hat man auch Tempoangaben im Metronomzahlen. Aber selbst lebende Komponisten sind da durchaus zugänglich für Modifikationen.
Beethoven hat die Metronomangaben für seine Sinfonien erst sehr spät gemacht; sie sind meist sehr schnell, so dass viele Dirigenten sie für zu schnell halten.
Vergleich mal folgende Aufnahmen nur auf das Tempo der ersten (halben bis ganzen) Minute:
Furtwängler
Toscanini
Wand
Klemperer
Bernstein Wien
Bernstein New York
Und jetzt (wir kommen zum Thema Artikulation ) hör mal hier, wie die Musiker die Noten beenden (und teilweise auch beginnen)
Brüggen
Frans Brüggen kommt aus der Barocktradition des 18. Jahrhunderts, geht also an Beethovens Sinfonie aus ihrer Entstehungszeit heran und spielt sie viel leichter, eleganter. In der Romantik hat man sie wegen ihrem Beinamen „Eroica“ sehr getragen gespielt, „tief und ernsthaft“. Sie durfte nichts Heiteres, Leichtes haben. Aber wenn man Beethovens Tempo wörtlich nimmt (was man heutzutage immer öfter hört) kommt quasi ein Walzertempo heraus. Andererseits: eine getragene, ausdrucksvolle Interpretation kann unglaublich schön sein. Ich finde, ein Stück gewinnt in der Regel, wenn es sehr unterschiedliche Interpretationen es zulässt.
Wie bindend ist denn eine Komposition?
Das hängt auch stark von der Epoche ab. Ein grosse spätromantisches Orchesterwerk lässt weniger Interpretationsspielraum als eine Bachtoccata. Oder eben in einem ganz anderen Bereich. Als Dirigent hat man die Aufgabe, den Klang irgendwie zu kanalisieren, denn wenn jeder Musiker so spielt, wie es für ihn selbst gut klingt, wird es eher keinen Gesamtklang geben. So müssen dann die Blechbläser leiser spielen als sie wollen, die Flöte muss vielleicht lauter, auch wenn bei ihr piano steht.
Ist es überhaupt im Interesse des Verfassers den Interpreten frei zu lassen?
Das denke ich mehr und mehr. Es ist keine grenzenlose Freiheit, sondern eine sehr klar definierte. Und dennoch sehr grosse…
Ich habe auch Improvisation studiert. Mein Lehrer hat mir in meiner ersten Stunde zur Aufgabe gegeben, mir auf dem Klavier einen Ton zu suchen. Ich durfte dann nur diesen einen Ton benutzen! Erst konnte ich gar nichts damit anfangen. Aber dann hat er mir erklärt, was ich alles noch verändern darf: Ich darf den Ton spielen so oft ich will, so laut oder so leise ich will, so schnell oder langsam wie ich will, so regelmässig oder unregelmässig wie ich will, darf Pausen machen, wann ich will und wie lange ich will. Ähnliche Übungen waren: Ich darf nur laut spielen, ich darf nur leise spielen, ich darf nur in einem absolut gleichmässigen Rhythmus spielen… Du glaubst gar nicht, was für Freiheiten man entdeckt, wenn man so restriktive Vorschriften hat!
Und das gleiche gilt für Musik nach Noten…
Oder ist es nur der begrenzten Beschreibungsmöglichkeiten der Notation geschuldet, dass nicht alle Parameter festgelegt werden können?
Teilweise schon. Aber sowohl Komponist als auch Interpret würden verrückt werden, wenn jedes kleinste Detail notiert werden müsste. Es wäre sozusagen der Totalitarismus in der Kunst. Viele von den „Freiheiten“ des Interpreten liessen sich schon notieren, aber das Resultat wäre ein überdeterminiertes, technokratisches, schlecht lesbares Notenbild.
Die Schrift notiert ja auch im Prinzip die Sprache, aber die Realisierung beim Vorlesen kann sehr unterschiedlich ausfallen. Und wenn man jede Nuance aufschreiben wüllte, würde man schnell aufgeben.
Schon der erste Ton bietet viele Möglichkeiten zur Interpretation: Wie schnell spiele ich die Verzierung, wie lange halte ich den Ton dann? Danach der Lauf abwärts aus fünf Tönen: wie schnell? Gleichmässig oder schneller werdend? Jetzt den Abschlusston des Laufs: wie stark setze ich ihn ab? Wie lange halt ich ihn? Oder spiele ich ihn ganz kurz?
Und das ist hier nicht festgelegt?
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2e/T…
Kurze Antwort: Nein!
Im konkreten Fall liegt das natürlich auch daran, dass kein klares Bewegungsmuster vorgegeben ist. In der nachfolgenden Fuge sieht das schon sehr viel anders aus!
Das Tempo der Verzierung ist nicht festgelegt, bestenfalls durch Tradition eingegrenzt. Die Fermate (der Halbkreis mit Punkt über der 1., 7., 8. und 12. Note) heisst, dass man den Ton länger halten soll als notiert. Wie lange aber, ist wieder Sache des Interpreten, steht nicht da.
Die Töne 2-5 sind 64-tel, also sehr kleine Noten, die in schnellen Tempi extrem schnell wären. Hier aber steht Adagio, also kann/sollte/muss ich vom Grundtempo ausgehend die Töne etwas langsamer nehmen. Aber wie langsam genau, steht in den Sternen. Nun kann ich einfach irgendwelche Aufnahmen nachspielen, aber auch die grössten Organisten des 20. und 21. Jh. haben weder bei Bach noch seinen Schülern noch dern Schülern studiert…
In einigen Wikipedia-Artikel über Bach las ich, dass Kompositionen von ihm speziell für eine bestimmte Orgel geschrieben wurden.
Zunächst einmal darfst du das nicht so verstehen, dass Bach sozusagen Ausführungen des Werks nur an dieser einen Orgel autorisiert hätte. Er war ein Praktiker und hat seine Werke immer für den jeweiligen Bedarf umgemodelt, an die jeweilige Situation angepasst. Von daher hat er sicher die Möglichkeiten der betreffenden Orgel richtig ausgenutzt.
Seine Kompositionstechnik bei Orgelwerken (ich habe mal im Studium darüber in Referat gehalten) hat sich übrigens sehr interessant entwickelt. Er hat zunächst bestimmte Stücke kopiert, die ihm zugänglich waren. Also er hat genau in dem Stil komponiert wie XYZ… (Frag mich bitte nicht, mit welchem Stil er anfing.) Als er diesen Stil perfekt beherrschte (und individuell damit umging), hat er andere Werke kennengelernt und deren Stil getreu kopiert und lupenrein imitiert. Als er das konnte, hat er diese beiden Stile miteinander kombiniert. Dann hat er einen weitern Stil kennengelernt und den auf die gleiche Weise inkorporiert… Also auch hier eine stete Wechselbeziehung zwischen „Vorgabe“ und „Interpretation“, nur im Bereich von Kompositionsstrukturen.
Unterscheiden sich (hochklassige) Instrumente denn so sehr von einander, dass man das Spiel zwangsweise an das jeweilige anpassen muss? Oder sind die von der Bauart her vergleichbar und unterscheiden sich nur in der „Schönheit“ des Klanges?
Orgeln unterscheiden sich untereinander viel mehr als alle anderen klassischen Instrumente. Zunächst einmal werden sie im Idealfall für den Raum gebaut, in dem sie stehen, das macht sie schon tendenziell einmalig. Eine kleine Orgel komm auch mit nur einem Manual (einer Tastatur) aus, dann hast du halt nur sehr wenige Möglichkeiten. Bei grossen Orgeln kannst du vier, fünf Manuale haben (es gibt sogar Orgeln mit sechs oder sieben Manualen, das ist schon ein bisschen viel…) Auch die Zahl der Register kann extrem schwanken. Und die Bauweise selbst macht schon einen Unterschied im Klang.
Je mehr Register du zur Verfügung hast, desto mehr Klangvarianten kannst du erreichen und kombinieren. Wenn man ein Stück also nicht an der Orgel spielt, für die Bach es ursprünglich komponiert hat, hat man auch andere Möglichkeiten.
In kleinen Kirchen stehen natürlich oft Standardmodelle moderner Hersteller, die sich dann recht wenig voneinander unterscheiden.
Romantische Orgeln allerdings haben ein ganz anderes Klangideal als alte Barockorgeln. Von daher ist die Wahl des Instruments schon wichtig. Nur sieht die Situation nicht so aus wie beim Kauf eines Cellos oder einer Flöte. Der Organist kann sich schlecht für jedes Werk eine andere Kirche mieten, allein die Reisekosten…
Was ist denn eine musikalische Artikulation?
Die Art, wie man die Töne ansetzt/anschlägt und miteinander verbindet (oder eben nicht). Da haben wir erst mal legato = gebunden, also ein Ton hört genau dann auf, wenn der nächste beginnt. Dann gibt es staccato, das sind kurze Töne, also der Ton wird sofort nach dem Anschlag wieder losgelassen. Wobei auch Staccato-Töne unterschiedlich lang sein können. Ausserdem muss ein staccato nicht hart sein, es kann weich sein oder leicht. Man kann auch leggiero spielen, sozusagen halb staccato halb legato.
Letztendlich ergibt sich daraus ein Kontinuum von Möglichkeiten, das in der Notenschrift halt nur grob durch Punkte, Striche, Bögen und Kombinationen davon wiedergegeben werden kann.
Bei der Orgel kommt generell die Vielfalt der Registriermöglichkeiten, also der Klangfarben dazu, mit der man nicht nur Stimmungen schafft, sondern auch eine Dramaturgie aufbauen kann. Und die ein Künstler auch ganz unkonventionell und sehr überraschend gestalten kann.
Aber ist es denn dann noch das selbe Werk? Im Pop würde man sowas wohl Cover-Version nennen. Das selbe Stück, aber eben anders interpretiert als es der Autor plante.
Der Vergleich ist nicht schlecht. Wobei im Pop der Autor in der Regel selbst spielt und eine Interpretation durch andere eigentlich nicht vorgesehen ist. Das „Werk“ ist identisch mit seiner Interpretation. Der Pop-Autor schreibt eher nur für sich und sein Instrument. Klassische Komponisten waren zwar meistens selbst auch grossartige Instrumentalisten (Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Chopin, Rachmaninov, Hindemith, Messiaen), aber sie haben immer auch für andere geschrieben.
So. Hier ist jetzt erst mal Schluss, 3:53 Uhr…
Fortsetzung folgt (wenn du noch kannst)
Liebe Grüsse und bis bald
dodeka