Was zeichnet einen perfekten Musiker ggü. einem Musikroboter aus?

Moin,

mich interessiert mal, was eurer Meinung nach einen „perfekten Musiker“ gegenüber  einem Musikroboter ausmacht.

Kürzlich hörte ich ein berühmtes Orgelwerk von Bach (BWV 565) und ich fragte mich, was der Unterschied sei zwischen einem Organisten, der die Komposition völlig fehlerfrei wiedergibt und einem Computer, der dieselbe Orgel strikt nach der Vorgabe umsetzt.
Gerade eine Orgel ist ja seit je her eine Maschine, bei der die Töne nicht vom Menschen erzeugt werden sondern rein technisch.

Klar weiß ich die Antwort im Grunde genommen selbst. Ein Computer wird niemals der Musik  das Leben einhauchen können, wie dies ein menschlicher Spieler kann.
Aber was ist dieses „Leben“ beim Vergleich zweier „perfekter“ Wiedergaben?

Und noch eine kleine Nebenfrage: sehe ich das richtig, dass bei einer Orgel der einzelne Ton/die Pfeife nur entweder an oder aus sein und nicht wie z.B. beim Klavier „gezogen“ oder variabel gedämpft werden kann?

Dank und Grüße,
J~

Interpretation
Hallo

BWV 565

Sehr schönes Beispiel, da man die Toccata sehr frei spielen muss, ohne dabei chaotisch zu werden…

Schon der erste Ton bietet viele Möglichkeiten zur Interpretation: Wie schnell spiele ich die Verzierung, wie lange halte ich den Ton dann? Danach der Lauf abwärts aus fünf Tönen: wie schnell? Gleichmässig oder schneller werdend? Jetzt den Abschlusston des Laufs: wie stark setze ich ihn ab? Wie lange halt ich ihn? Oder spiele ich ihn ganz kurz?

Bei all diesen Tönen ist die Frage der Artikulation, schweres legato oder eher staccato leggiero? Oder eine Kombination, die ersten beiden legato, dann staccato? Und wie kurz spiele ich das staccato?

Habe ich diesen Anfang gesetzt, entwickele daraus weiter. Oder ich setze einen Kontrast dagegen. So könnte ich die Fast-Wiederholung dieses ersten Motivs schon ganz anders spielen, als Echo z. B. oder mit einer ganz anderen Registrierung.

Ein Computer spielt das zunächst einfach mechanisch gleichmässig nach den notierten Werten, die aber in dem Fall überhaupt nichts zur Ausführung sagen. Man kann natürlich an der Stelle im Programm das Tempo verändern, aber das erfordert schon wieder eine künstlerische Haltung, und dennoch hat man keinen rechten Einfluss auf die Artikulation.

Bei der Orgel kommt generell die Vielfalt der Registriermöglichkeiten, also der Klangfarben dazu, mit der man nicht nur Stimmungen schafft, sondern auch eine Dramaturgie aufbauen kann. Und die ein Künstler auch ganz unkonventionell und sehr überraschend gestalten kann.

Computer, der dieselbe Orgel strikt nach der Vorgabe umsetzt.

Eben: was genau sind die Vorgaben? Falls ich jede (also wirklich jede!) Feinheit des Interpreten dem Computer mitteilen kann, bekomme ich quasi eine Welte-Mignon-Aufnahme.

Gerade eine Orgel ist ja seit je her eine Maschine, bei der die Töne nicht vom Menschen erzeugt werden sondern rein technisch.

Siehe oben die Möglichkeiten der Artikulation, des Tempos, der Registrierung. Dazu kommt noch (was deine Nebenfrage beantwortet) die Möglichkeit, den Schweller einzusetzen, also die Lautstärke stufenlos (aber auch in Stufen) zu verändern. Wobei es eine stilistische Frage ist, ob man den Schweller überhaupt einsetzt.

Aber was ist dieses „Leben“ beim Vergleich zweier „perfekter“ Wiedergaben?

Das Leben sind die hundert bis hunderttausend kleinen Unterschiede zwischen den Tönen, zwischen den Phrasen, in den Tempi, bei der Orgel auch in der Registrierung, bei anderen Instrumenten in der Tongebung.

Man muss Höhepunkte finden und auf sie hinspielen. Man muss die Ruhepunkte im Stück verstehen. Man muss eine Dramaturgie für das ganze Stück haben. Man muss den Atem für das ganze Stück finden.

Und die vielen kleinen Dinge nicht vergessen. Differenzieren. Überraschen. Sich Zeit lassen, ohne sich zu verlieren.

Dem Stück aus den Noten heraus eine Form geben. Wenn acht Takte hintereinander die gleichen Schwerpunkte haben, muss etwas falsch sein…

Das Tempo ist eine ganz wichtige Sache. Einmal ein Grundtempo zu finden und dann aber auch das Tempo modifizieren können, wo es angebracht ist, aber nicht wegen technischer Schwierigkeiten, sondern für den Ausdruck.

Rhythmen sind auch so eine Sache: wie stark punktiere ich einen punktierten Rhythmus? Kann ich mir erlauben, etwas „Swing“ in die Sache zu bringen? Verträgt die Komposition das? Oder fordert sie es sogar? In der Barockmusik gibt es „inegale Noten“, das ist wie Swing. Aber bei welchem Stück muss ich das, wann kann ich das, wo geht es gar nicht?

Die Noten sind elementar wichtig. Sie sind die Basis für alles. Aber wer sich nicht aus dem Fundament erheben kann, baut nichts auf. Da bleibt alles nur Grundriss, Plan. Also sich lösen von den Noten, sobald man sie perfekt beherrscht. Und doch immer wieder die Noten konsultieren zwischendurch. Das Stück verinnerlichen, wissen, was es einem sagt. Warum man es spielt.

Dann das Stück liegen lassen, ein paar Wochen, ein paar Monate, Jahre vielleicht. dann wieder hervorholen. Manches ist gleich geblieben, manches hat sich verändert. So wächst eine Interpretation. Es hört nie auf.

Schöne Grüsse :wink:
dodeka

Hallo,
DoDeKa hat es ja sehr umfassend und treffend beschrieben.
Das „ständig entwickeln“, und „nie gleich spielen“ ist es wohl was live gespielte Musik ausmacht.

Deine 2.te Frage: Richtig , ein Orgel hat keine Anschlagdynamik, wie ein Klavier.

Gruß Jörg

Gänsehaut (OT)
Hallo Dodeka,

ich wollte dir nur sagen, dass deine enthusiastische Erläuterung bei mir eine Gänsehaut ausgelöst hast, fast so stark wie bei einem guten Musikstück. :smile:

Chapeau!
M.

Moin dodeka und danke für die Zeit die du dir genommen hast, mir so ausführlich zu antworten!

Die Musikersprache ist mir aber nicht so geläufig, einiges muss ich deshalb noch mal nachfragen.

Sehr schönes Beispiel, da man die Toccata sehr frei spielen
muss, ohne dabei chaotisch zu werden…

Was heißt denn frei spielen? Bisher bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass es die Aufgabe des Komponisten ist zu bestimmen, welcher Ton wann wie lange angeschlagen werden muss, in welcher Geschwindigkeit das Werk gespielt wird, wie laut es klingt und wo Pausen auftreten.
Wie bindend ist denn eine Komposition? Wenn du von Freiheit sprichst, wo endet denn dann die Vorgabe? Ist es überhaupt im Interesse des Verfassers den Interpreten frei zu lassen? Oder ist es nur der begrenzten Beschreibungsmöglichkeiten der Notation geschuldet, dass nicht alle Parameter festgelegt werden können?

Schon der erste Ton bietet viele Möglichkeiten zur
Interpretation: Wie schnell spiele ich die Verzierung, wie
lange halte ich den Ton dann? Danach der Lauf abwärts aus fünf
Tönen: wie schnell? Gleichmässig oder schneller werdend? Jetzt
den Abschlusston des Laufs: wie stark setze ich ihn ab? Wie
lange halt ich ihn? Oder spiele ich ihn ganz kurz?

Und das ist hier nicht festgelegt?
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2e/T…

Habe ich diesen Anfang gesetzt, entwickele daraus weiter. Oder
ich setze einen Kontrast dagegen. So könnte ich die
Fast-Wiederholung dieses ersten Motivs schon ganz anders
spielen, als Echo z. B. oder mit einer ganz anderen
Registrierung.

Und auch hier wieder, das ist dem Organisten überlassen?
In einigen Wikipedia-Artikel über Bach laß ich, dass Kompositionen von ihm speziell für eine bestimmte Orgel geschrieben wurden. Unterscheiden sich (hochklassige) Instrumente denn so sehr von einander, dass man das Spiel zwangsweise an das jeweilige anpassen muss? Oder sind die von der Bauart her vergleichbar und unterscheiden sich nur in der „Schönheit“ des Klanges?

schon wieder eine künstlerische Haltung, und dennoch hat man
keinen rechten Einfluss auf die Artikulation.

Was ist denn eine musikalische Artikulation?

Bei der Orgel kommt generell die Vielfalt der
Registriermöglichkeiten, also der Klangfarben dazu, mit der
man nicht nur Stimmungen schafft, sondern auch eine
Dramaturgie aufbauen kann. Und die ein Künstler auch ganz
unkonventionell und sehr überraschend gestalten kann.

Aber ist es denn dann noch das selbe Werk? Im Pop würde man sowas wohl Cover-Version nennen. Das selbe Stück, aber eben anders interpretiert als es der Autor plante.

Computer, der dieselbe Orgel strikt nach der Vorgabe umsetzt.

Eben: was genau sind die Vorgaben?

na siehe die Notenzeile oben :smile: Das IST doch die Vorgabe. :wink:

Falls ich jede (also
wirklich jede!) Feinheit des Interpreten dem Computer
mitteilen kann, bekomme ich quasi eine Welte-Mignon-Aufnahme.

Was ist denn „jede“ Feinheit :smile: Wann welche Taste wie lange gedrückt wird lässt sich sicher leicht messen und da die Klaviatur einer Orgel nichts anderes ist als der Steuerpult einer Maschine, auch locker zu reproduzieren.

Aber was ist dieses „Leben“ beim Vergleich zweier „perfekter“ Wiedergaben?

Das Leben sind die hundert bis hunderttausend kleinen
Unterschiede zwischen den Tönen, zwischen den Phrasen, in den
Tempi, bei der Orgel auch in der Registrierung, bei anderen
Instrumenten in der Tongebung.

Anders gesagt ist das Leben der Unterschied zwischen der gegebenen Komposition und der per se unperfekten Interpretation?

Rhythmen sind auch so eine Sache: wie stark punktiere ich
einen punktierten Rhythmus? Kann ich mir erlauben, etwas
„Swing“ in die Sache zu bringen?

Was sind denn ein punktierter Rhythmus und ein Swing?

Oder fordert sie es sogar? In der Barockmusik gibt es „inegale
Noten“, das ist wie Swing.

Wenn ich http://de.wikipedia.org/wiki/Notes_in%C3%A9gales richtig lese bedeutet das wieder eine „Interpretation“, also eine bewusste Abänderung der Vorgabe, ja?

Dann das Stück liegen lassen, ein paar Wochen, ein paar
Monate, Jahre vielleicht. dann wieder hervorholen. Manches ist
gleich geblieben, manches hat sich verändert. So wächst eine
Interpretation. Es hört nie auf.

*smile*

Viele Grüße an dich!
J~

dank auch dir :smile:

VG
J~

Hallo nochmal,
in deinem Schreiben an DoDeKa hast da einen Satz geschrieben, der es für mich echt auf den Punkt bringt…

„Anders gesagt ist das Leben der Unterschied zwischen der gegebenen Komposition und der per se unperfekten Interpretation? …“

Genau DAS ist es doch eigentlich…der Mensch ist halt keine Maschine und selbst wenn er sich noch soooo genau an die Vorgaben des Komponisten halten möchte…er wird es immer wieder etwas anders spielen…
Und dann erst 2 oder mehr Menschen , die das gleiche Stück auf dem gleichen Instrument spielen …jeder anders…
Zu deinen ganzen „musikalischen“ Fragen kann ich dir heute leider nicht antworten, vielleicht schreibt ja DoDeKa nochmal…

Jörg

Moin J~

Wow, sehr gute Fragen! Aber das wird jetzt lang. Extrem lang. Ich möchte sehr gerne alle deine Fragen bis ins Letzte beantworten, das wird nur nicht auf einmal gehen. Wenn du also Zeit hast…

Die Musikersprache ist mir aber nicht so geläufig, einiges muss ich deshalb noch mal nachfragen.

Sorry, ich wollte Fachausdrücke möglichst vermeiden, aber beim Schreiben kam es dann so…

Was heißt denn frei spielen? Bisher bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass es die Aufgabe des Komponisten ist zu bestimmen, welcher Ton wann wie lange angeschlagen werden muss, in welcher Geschwindigkeit das Werk gespielt wird, wie laut es klingt und wo Pausen auftreten.

Du sprichst hier verschiedene Aspekte an, die unterschiedlich genau notiert werden (können).

welcher Ton: Das ist am klarsten festgelegt. Aber selbst da kann es Möglichkeiten geben: Zum Beispiel eine Verzierung, in deinem Notenbeispiel gleich die erste Note. Da steht diese kurze gezackte Wellenlinie mit dem senkrechten Strich drüber; diese Verzierung (ein Mordent) wird im Prinzip ausgeführt, indem man kurz den Ton selbst spielt, dann kurz zum Ton darunter wechselt und dann wieder den ersten, den Hauptton, spielt und hält. Nun gibt es Ganztöne und Halbtöne, und nicht immer ist aus dem Kontext eindeutig festzulegen, ob man den Halbton nehmen soll oder den Ganzton. Also hier könnte man gis spielen oder g.

Ausserdem kann man den Mordent durchaus länger spielen, also nicht nur einmal zur „Nebennote“ wechseln, sondern zweimal oder noch öfter.

Generell sind Verzierungen im Barock (also z. B. bei Bach und Händel, aber noch mehr bei den Franzosen wie Couperin) ein Feld für die Individualität des Interpreten. Oft sind nur wenige Verzierungen überhaupt notiert, an bestimmten Stellen muss man einen Triller machen, an vielen kann man Verzierungen einbauen (und das wurde vom Komponisten erwartet).

wann: ist die Frage nach dem Rhythmus. Der ist im Prinzip genau festgelegt. (Radio Eriwan lässt grüssen). Wenn zum Beispiel in einem Takt sechzehn Sechzehntel hintereinander stehen, sollen sie alle gleich lang sein. Im Prinzip. Der Klavierschüler muss natürlich erst einmal üben, gleichmässig zu spielen. Er muss das können. Aber wenn der Schüler zum Meister geworden ist :wink: also wenn er alles völlig gleichmässig spielen kann, dann ist es absolut legitim, einzelne Töne zu dehnen und andere dafür schneller zu spielen. Und eigentlich ist es nicht bloss legitim, sondern unerlässlich. Aber der Grad und die Häufigkeit dieser „Verzerrung“ und wo konkret man sie anwendet, das ist dann die Kunst.

Die Toccata nun ist als Gattung aus der Improvisation entstanden, und das sieht man hier sogar schon im Notenbild: der zweite Takt ist rein notationstechnisch viel zu lang, viel zu viele Viertelnoten. Gemeint ist hier, dass man mehr oder weniger langsam nacheinander die Töne anschlägt und liegenlässt, was eindeutig notiert ist durch die Bindebögen zum nächsten Takt und die Wiederholung der Töne dort. Aber wie langsam oder schnell diese Viertelnoten im zweiten Takt aufeinanderfolgen, ist nicht festgelegt. Reine Interpretationsfrage – und so war es auch schon bei Bach.

Die ganze Toccata sollte also nicht mechanisch klingen, sondern wie eine Improvisation. Bach musste aber irgendwelche Tonlängen schreiben. Die sind nicht so wörtlich gemeint. Er hatte einfach keine andere Möglichkeit; moderne Komponisten haben dafür neue Notationen entwickelt.

wie lange: Das ist wieder ein grosses Thema. Kürzlich habe ich einen schönen kurzen Artikel über das „Ende der Note“ gelesen. Wieder ist es so, dass der Schüler erst einmal lernen muss, die Töne möglichst genauso lange aushalten zu können, wie ein Computer sie spielen würde. Aber das würde ich nie so sklavisch mit einem Schüler machen. Denn ein Stück wie die Badinerie von Bach klingt nur leicht und heiter, wenn die Töne kurz gespielt werden. Aber wie kurz ist kurz, wann sind sie zu kurz und klingen nicht mehr, wie lang müssen sie sein um zu klingen, wann sind sie zu lang, so dass das ganze Stück lahm und langweilig klingt? Das kann kein Computer entscheiden und kein Komponist notieren. Das lernt der Mensch durch Hören und Nachmachen, viel selbst ausprobieren und sich kritisieren lassen, auch sich selbst aufnehmen und kritisch anhören.

Wir stehen auch alle in einer Tradition bzw. in vielen verschiedenen Traditionslinien. Die Komponisten im Barock hatten z. B. ganz klare Vorstellungen, wie etwas gespielt werden soll, das in bestimmten Taktarten steht. Diese Traditionen brechen in der Klassik immer mehr weg und sind in der Romantik fast ganz verschwunden. Das sind also Dinge, die nicht notiert sind, die aber damals jedem bewusst waren.

Heute wiederum hat man als Interpret die Möglichkeit, alte Quellen zu studieren und bei Musikern zu studieren, die sich da eingearbeitet haben. Man kann aber auch sagen, mir ist das egal, ich spiele es so, wie ich es für richtig halte. Und auch dabei können grossartige Interpretationen entstehen. Es kann dir niemand verbieten, Bach am modernen Flügel mit Pedal zu spielen, auch wenn Bach dieses Instrument niemals gehabt hat und es von daher völlig anachronistisch ist.

Jetzt bin ich weit abgeschwoffen :wink: Es ging um das Ende der Note. Es sagt sehr viel aus über den Künstler, wie er einen Ton beendet. Bei Sängern zum Beispiel, ob sie den Schlusston abreissen oder verklingen lassen, ob sie den letzten Konsonanten noch einmal herausschleudern oder nicht.

Man darf nicht vergessen, dass die Notation keine mathematische Formel ist. Vier Viertel lassen sich zwar immer in 16 Sechzehntel aufteilen, aber im Grunde entsteht die Notation aus einer Art graphische Gedächtnishilfe, und so war nie gemeint, dass eine Viertelnote genau so lange klingen muss, bis die nächste Zählzeit beginnt. Im Barock und der Klassik (also grob gesehen 18. Jh.) sind die Noten prinzipiell etwas vorher zu beenden und nicht bis Ultimo zu dehnen. Das ist eher ein Ideal der Romantik, aber auch da oft falsch.

wo Pausen auftreten: hängt eng mit dem Ende der Note zusammen. Auch kann man Pausen etwas dehnen, um ihre Wirkung zu verstärken, und man kann sie verkürzen, wenn man einen Zusammenhang schaffen will. Alles legitim.

in welcher Geschwindigkeit: Das ist am allerwenigsten zu bestimmen. In der Bachtoccata steht „Adagio“. Das heisst wörtlich „gemütlich, bequem, langsam“. Der Musik versteht es in der Regel nur als „langsam“. Aber wie langsam ist langsam?

Bei schnellen Tempi neigen viele dazu, einfach alles so schnell wie technisch möglich zu spielen. Das ist aber nicht unbedingt, was der Komponist gemeint hat.

Manchmal hat man auch Tempoangaben im Metronomzahlen. Aber selbst lebende Komponisten sind da durchaus zugänglich für Modifikationen.

Beethoven hat die Metronomangaben für seine Sinfonien erst sehr spät gemacht; sie sind meist sehr schnell, so dass viele Dirigenten sie für zu schnell halten.

Vergleich mal folgende Aufnahmen nur auf das Tempo der ersten (halben bis ganzen) Minute:
Furtwängler
Toscanini
Wand
Klemperer
Bernstein Wien
Bernstein New York

Und jetzt (wir kommen zum Thema Artikulation ) hör mal hier, wie die Musiker die Noten beenden (und teilweise auch beginnen)
Brüggen

Frans Brüggen kommt aus der Barocktradition des 18. Jahrhunderts, geht also an Beethovens Sinfonie aus ihrer Entstehungszeit heran und spielt sie viel leichter, eleganter. In der Romantik hat man sie wegen ihrem Beinamen „Eroica“ sehr getragen gespielt, „tief und ernsthaft“. Sie durfte nichts Heiteres, Leichtes haben. Aber wenn man Beethovens Tempo wörtlich nimmt (was man heutzutage immer öfter hört) kommt quasi ein Walzertempo heraus. Andererseits: eine getragene, ausdrucksvolle Interpretation kann unglaublich schön sein. Ich finde, ein Stück gewinnt in der Regel, wenn es sehr unterschiedliche Interpretationen es zulässt.

Wie bindend ist denn eine Komposition?

Das hängt auch stark von der Epoche ab. Ein grosse spätromantisches Orchesterwerk lässt weniger Interpretationsspielraum als eine Bachtoccata. Oder eben in einem ganz anderen Bereich. Als Dirigent hat man die Aufgabe, den Klang irgendwie zu kanalisieren, denn wenn jeder Musiker so spielt, wie es für ihn selbst gut klingt, wird es eher keinen Gesamtklang geben. So müssen dann die Blechbläser leiser spielen als sie wollen, die Flöte muss vielleicht lauter, auch wenn bei ihr piano steht.

Ist es überhaupt im Interesse des Verfassers den Interpreten frei zu lassen?

Das denke ich mehr und mehr. Es ist keine grenzenlose Freiheit, sondern eine sehr klar definierte. Und dennoch sehr grosse…

Ich habe auch Improvisation studiert. Mein Lehrer hat mir in meiner ersten Stunde zur Aufgabe gegeben, mir auf dem Klavier einen Ton zu suchen. Ich durfte dann nur diesen einen Ton benutzen! Erst konnte ich gar nichts damit anfangen. Aber dann hat er mir erklärt, was ich alles noch verändern darf: Ich darf den Ton spielen so oft ich will, so laut oder so leise ich will, so schnell oder langsam wie ich will, so regelmässig oder unregelmässig wie ich will, darf Pausen machen, wann ich will und wie lange ich will. Ähnliche Übungen waren: Ich darf nur laut spielen, ich darf nur leise spielen, ich darf nur in einem absolut gleichmässigen Rhythmus spielen… Du glaubst gar nicht, was für Freiheiten man entdeckt, wenn man so restriktive Vorschriften hat!

Und das gleiche gilt für Musik nach Noten…

Oder ist es nur der begrenzten Beschreibungsmöglichkeiten der Notation geschuldet, dass nicht alle Parameter festgelegt werden können?

Teilweise schon. Aber sowohl Komponist als auch Interpret würden verrückt werden, wenn jedes kleinste Detail notiert werden müsste. Es wäre sozusagen der Totalitarismus in der Kunst. Viele von den „Freiheiten“ des Interpreten liessen sich schon notieren, aber das Resultat wäre ein überdeterminiertes, technokratisches, schlecht lesbares Notenbild.

Die Schrift notiert ja auch im Prinzip die Sprache, aber die Realisierung beim Vorlesen kann sehr unterschiedlich ausfallen. Und wenn man jede Nuance aufschreiben wüllte, würde man schnell aufgeben.

Schon der erste Ton bietet viele Möglichkeiten zur Interpretation: Wie schnell spiele ich die Verzierung, wie lange halte ich den Ton dann? Danach der Lauf abwärts aus fünf Tönen: wie schnell? Gleichmässig oder schneller werdend? Jetzt den Abschlusston des Laufs: wie stark setze ich ihn ab? Wie lange halt ich ihn? Oder spiele ich ihn ganz kurz?

Und das ist hier nicht festgelegt?
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2e/T…

Kurze Antwort: Nein! :smile:

Im konkreten Fall liegt das natürlich auch daran, dass kein klares Bewegungsmuster vorgegeben ist. In der nachfolgenden Fuge sieht das schon sehr viel anders aus!

Das Tempo der Verzierung ist nicht festgelegt, bestenfalls durch Tradition eingegrenzt. Die Fermate (der Halbkreis mit Punkt über der 1., 7., 8. und 12. Note) heisst, dass man den Ton länger halten soll als notiert. Wie lange aber, ist wieder Sache des Interpreten, steht nicht da.

Die Töne 2-5 sind 64-tel, also sehr kleine Noten, die in schnellen Tempi extrem schnell wären. Hier aber steht Adagio, also kann/sollte/muss ich vom Grundtempo ausgehend die Töne etwas langsamer nehmen. Aber wie langsam genau, steht in den Sternen. Nun kann ich einfach irgendwelche Aufnahmen nachspielen, aber auch die grössten Organisten des 20. und 21. Jh. haben weder bei Bach noch seinen Schülern noch dern Schülern studiert…

In einigen Wikipedia-Artikel über Bach las ich, dass Kompositionen von ihm speziell für eine bestimmte Orgel geschrieben wurden.

Zunächst einmal darfst du das nicht so verstehen, dass Bach sozusagen Ausführungen des Werks nur an dieser einen Orgel autorisiert hätte. Er war ein Praktiker und hat seine Werke immer für den jeweiligen Bedarf umgemodelt, an die jeweilige Situation angepasst. Von daher hat er sicher die Möglichkeiten der betreffenden Orgel richtig ausgenutzt.

Seine Kompositionstechnik bei Orgelwerken (ich habe mal im Studium darüber in Referat gehalten) hat sich übrigens sehr interessant entwickelt. Er hat zunächst bestimmte Stücke kopiert, die ihm zugänglich waren. Also er hat genau in dem Stil komponiert wie XYZ… (Frag mich bitte nicht, mit welchem Stil er anfing.) Als er diesen Stil perfekt beherrschte (und individuell damit umging), hat er andere Werke kennengelernt und deren Stil getreu kopiert und lupenrein imitiert. Als er das konnte, hat er diese beiden Stile miteinander kombiniert. Dann hat er einen weitern Stil kennengelernt und den auf die gleiche Weise inkorporiert… Also auch hier eine stete Wechselbeziehung zwischen „Vorgabe“ und „Interpretation“, nur im Bereich von Kompositionsstrukturen.

Unterscheiden sich (hochklassige) Instrumente denn so sehr von einander, dass man das Spiel zwangsweise an das jeweilige anpassen muss? Oder sind die von der Bauart her vergleichbar und unterscheiden sich nur in der „Schönheit“ des Klanges?

Orgeln unterscheiden sich untereinander viel mehr als alle anderen klassischen Instrumente. Zunächst einmal werden sie im Idealfall für den Raum gebaut, in dem sie stehen, das macht sie schon tendenziell einmalig. Eine kleine Orgel komm auch mit nur einem Manual (einer Tastatur) aus, dann hast du halt nur sehr wenige Möglichkeiten. Bei grossen Orgeln kannst du vier, fünf Manuale haben (es gibt sogar Orgeln mit sechs oder sieben Manualen, das ist schon ein bisschen viel…) Auch die Zahl der Register kann extrem schwanken. Und die Bauweise selbst macht schon einen Unterschied im Klang.

Je mehr Register du zur Verfügung hast, desto mehr Klangvarianten kannst du erreichen und kombinieren. Wenn man ein Stück also nicht an der Orgel spielt, für die Bach es ursprünglich komponiert hat, hat man auch andere Möglichkeiten.

In kleinen Kirchen stehen natürlich oft Standardmodelle moderner Hersteller, die sich dann recht wenig voneinander unterscheiden.

Romantische Orgeln allerdings haben ein ganz anderes Klangideal als alte Barockorgeln. Von daher ist die Wahl des Instruments schon wichtig. Nur sieht die Situation nicht so aus wie beim Kauf eines Cellos oder einer Flöte. Der Organist kann sich schlecht für jedes Werk eine andere Kirche mieten, allein die Reisekosten… :wink:

Was ist denn eine musikalische Artikulation?

Die Art, wie man die Töne ansetzt/anschlägt und miteinander verbindet (oder eben nicht). Da haben wir erst mal legato = gebunden, also ein Ton hört genau dann auf, wenn der nächste beginnt. Dann gibt es staccato, das sind kurze Töne, also der Ton wird sofort nach dem Anschlag wieder losgelassen. Wobei auch Staccato-Töne unterschiedlich lang sein können. Ausserdem muss ein staccato nicht hart sein, es kann weich sein oder leicht. Man kann auch leggiero spielen, sozusagen halb staccato halb legato.

Letztendlich ergibt sich daraus ein Kontinuum von Möglichkeiten, das in der Notenschrift halt nur grob durch Punkte, Striche, Bögen und Kombinationen davon wiedergegeben werden kann.

Bei der Orgel kommt generell die Vielfalt der Registriermöglichkeiten, also der Klangfarben dazu, mit der man nicht nur Stimmungen schafft, sondern auch eine Dramaturgie aufbauen kann. Und die ein Künstler auch ganz unkonventionell und sehr überraschend gestalten kann.

Aber ist es denn dann noch das selbe Werk? Im Pop würde man sowas wohl Cover-Version nennen. Das selbe Stück, aber eben anders interpretiert als es der Autor plante.

Der Vergleich ist nicht schlecht. Wobei im Pop der Autor in der Regel selbst spielt und eine Interpretation durch andere eigentlich nicht vorgesehen ist. Das „Werk“ ist identisch mit seiner Interpretation. Der Pop-Autor schreibt eher nur für sich und sein Instrument. Klassische Komponisten waren zwar meistens selbst auch grossartige Instrumentalisten (Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Chopin, Rachmaninov, Hindemith, Messiaen), aber sie haben immer auch für andere geschrieben.

So. Hier ist jetzt erst mal Schluss, 3:53 Uhr…

Fortsetzung folgt (wenn du noch kannst)

Liebe Grüsse und bis bald
dodeka

4 Like

Hi Dodeka und J,
es gibt eigentlich nichts zu ergänzen.
Ein paar Gedanken kamen mir aber noch.
Zum einen fiel mir eine Dalai-Lama-Regel ein, die ich irgendwann während des Studiums mal gelesen habe, und die, finde ich bis heute, perfekt auf das Instrumentalstudium passt:
„Lerne die Regeln, damit Du weißt, wie man sie richtig bricht.“

Ich hab auch gemerkt, dass meine Schüler mehr mit dem Begriff „Interpretation“ etwas anfangen können, wenn ich ihnen erzähle, dass der Zuhörer den „Charakter“ eines Stücks begreifen will. In manchen Stücken wird eine Geschichte erzählt, in manchen berauscht man sich einfach am Aufbau, manches ist ein eleganter, anderes ein überbordender Tanz, in einem marschiert, im anderen schwimmt, im dritten denkt, im vierten zweifelt, im fünften randaliert man :smile:
Das alles muss man beim spielen nicht nur selbst empfinden, sondern es muss auch beim Zuhörer ankommen.
Ich glaube, du hast das mit Dramaturgie beschrieben.
Man kann hierfür auch einen Ton komplett gleich lang anschlagen/streichen/blasen, aber z.b. mit 50 verschiedenen Bewegungsarten. Selbst auf dem mechanischen Klavier hört man tatsächlich Unterschiede, ob die Kraft aus der Hand allein oder aus dem gesamten Arm kommt, ob der Arm nach oben oder nach unten oder nach hinten geht oder völlig ruhig gelassen wird beim Anschlag etc. Bei Streichern und Bläsern ist sowas noch substanzieller. Der „Klang“ ist ein wesentlicher Aspekt. Weich, hart, zart, süß, verschlafen, bösartig, nervig, gruselig, rund, schwer, leicht - das muss ein Interpret alles drauf haben.

Ich kann mich erinnern, das als Schülerin damals nicht so ganz begriffen zu haben, warum genau ich hier und dort so sehr auf jedes winzige Detail achten muss, ich bin auch insgesamt nicht so perfektionistisch veranlagt wie man als klassischer Musiker eigentlich sein sollte. Ich habe auch lange nichts mit dem Begriff „Klang“ anfangen können. (wir haben immer gesagt, der und der hätte einen „guten Klang“ - ja, ich habe das auch festgestellt, aber es war schwer umzusetzen und einzuordnen, sehr abstrakt… ich glaube, da komme ich erst allmählich dahinter, was genau gemeint ist und womit man das umsetzen kann.)

Meine Klavierklasse hat sich einmal einen Wettbewerb angehört und jeder hat für sich jeden Kandidaten bewertet nach ca. 8 Kriterien. Leider habe ich die meisten vergessen. Klang war auf jeden Fall eine davon, ansonsten vielleicht Dramaturgie, Technik, Persönlichkeit… oh Mist, ich wüsste die echt noch gerne! Das waren alles Stichpunkte, nach denen wir im Grunde perfekte Pianisten nochmal miteinander verglichen haben.

Grüße
judith

Hallo,

Danke, das du dir hier die Mühe machst und so viel Zeit und Arbeit aufwendest, um dein Fachwissen verständlich weiter zugeben.

Gruß von Jörg

Moin Dodeka und nochmals recht vielen Dank für die Mühe, die du dir mit mir gibst!

Und keine Angst, ich bin nicht abgeschreckt :wink: ich hoffe allerdings, ich brachte dich nicht um deinen Schlaf!

Bisher habe ich erst einen Teil deiner Antwort lesen können und zum restlichen werde ich heute auch leider nicht mehr kommen. Evtl morgen, sonst übermorgen :smile:

Viele Grüße,
J~

Hallo

recht vielen Dank für die Mühe, die du dir mit mir gibst!

Irgendwie kam es so. Tut auch mal gut, solche Dinge zu verbalisieren.

Und keine Angst, ich bin nicht abgeschreckt :wink:

Da bin ich froh, es ist geradezu ein Traktat geworden… :wink:

Bisher habe ich erst einen Teil deiner Antwort lesen können und zum restlichen werde ich heute auch leider nicht mehr kommen.

Wundert mich nicht, ich brauch jetzt auch mal etwas Pause fürs reale Leben… :wink: Aber es sind noch ein paar Punkte offen, mindestens zu den inegalen Noten muss und will ich noch etwas schreiben. Und versuchen, mich dabei kürzer zu fassen.

Liebe Grüsse
dodeka

Zustimmung, kurz
Hallo Judith

Nur ganz kurz meine volle Zustimmung. Sehr schön das:

„Lerne die Regeln, damit Du weißt, wie man sie richtig bricht.“

mit genug Betonung auf „richtig“.

Ich hab auch gemerkt, dass meine Schüler mehr mit dem Begriff „Interpretation“ etwas anfangen können, wenn ich ihnen erzähle, dass der Zuhörer den „Charakter“ eines Stücks begreifen will.

Genau das ist es doch. Bei längeren Stücken wechselt halt der Charakter öfter.

Das alles muss man beim Spielen nicht nur selbst empfinden, sondern es muss auch beim Zuhörer ankommen.

Eben.

Man kann hierfür auch einen Ton komplett gleich lang anschlagen/streichen/blasen, aber z.b. mit 50 verschiedenen Bewegungsarten. Selbst auf dem mechanischen Klavier hört man tatsächlich Unterschiede, ob die Kraft aus der Hand allein oder aus dem gesamten Arm kommt, ob der Arm nach oben oder nach unten oder nach hinten geht oder völlig ruhig gelassen wird beim Anschlag etc.

Ganz genau.

Ich kann mich erinnern, das als Schülerin damals nicht so ganz begriffen zu haben, warum genau ich hier und dort so sehr auf jedes winzige Detail achten muss

Ich auch nicht! Ich wollte einfach nur aktiv sein, sehr aus den Fingern heraus, das mechanische Gefühl hat mir immer grosse Befriedigung bereitet (bei brillanten Passagen auch heute noch). Mir zuhören wollte ich als Kind überhaupt nicht.

Liebe Grüsse :smile:
dodeka