Die Vorstellung von Drachen geht auf die Vorstellung von Schlangen als übernatürliche Wesen zurück, denen man göttliche Kräfte zuschrieb. Belegt ist diese Vorstellung am frühesten in Mesopotamien und Ägypten.
Die mittelalterliche Furcht vor Drachen ist psychoanalytisch betrachtet ein Symptom der männlichen Furcht vor dem Weiblichen, die im Mittelalter als Effekt der sexualfeindlichen katholischen Ideologie sehr ausgeprägt war und in den sadistischen Praktiken der ´Hexen´-Verfolgung ihren unübertrefflichen Höhepunkt erreichte.
Es spricht vieles dafür, dass die Vorstellung des „bösen Drachen“ ein Resultat des historischen Unterdrückungs- und Entwertungsprozesses der Frau durch den Mann ist. Bevor es dazu kam, wurden Schlangen mit Erd- und Muttergöttinnen assoziiert, die in den Jahrtausenden vor dem 4. Jt. BCE, als der Unterdrückungsprozess einsetzte, im Glauben der Menschen einen höheren Stellenwert hatten als männliche Götter, denn ihnen wurde ursprünglich die parthenogenetische Schöpfung aller Lebewesen, auch der männlichen Götter, zugeschrieben.
Hinweise darauf ergeben sich z.B. aus den Merkmalen der griechischen Urgöttin Gaia, die auch eine Schlangengöttin war. Im Tempel von Delphi, ursprünglich ein Heiligtum der Gaia, verkündete eine Schlangenpriesterin (Pythia) die Orakel.
Die ägyptische Kobragöttin Wadjet galt als Beschützerin des Pharao und damit des ganzen Landes und wurde als feuerspeiende Schlange dargestellt.
Auch die indische Göttin Kali galt ursprünglich als allesgebärende Ur- und Schlangengöttin und als Verkörperung der Kundalini, der spirituell-sexuellen Schlangenkraft.
Da die Schlangengöttinnen als Trägerinnen von Heilkraft galten, konnte sich die Schlange auch als Symbol dieser Kraft etablieren, nämlich in der Schlange des Äskulapstabes.
Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden.
Im Zuge der sozialen und religiösen Entwertung des Weiblichen kam es in Mesopotamien, genauer: in Babylonien, Ende des 2. Jt. BCE zur ersten mythologischen Darstellung des bösen weiblichen Drachen in Gestalt der Tiamat, die ursprünglich eine gute Mutter- und Schlangengöttin war, dann aber von Priesterautoren des Marduk-Tempels im Epos „Enuma Elish“ zum Symbol des Chaotischen umfunktioniert wurde. Der Kriegergott Marduk, der Hauptgott des babylonischen Königtums, macht in dieser Story der „bösen“ Tiamat den Garaus und erschafft aus ihrem zerrissenen Leib Himmel und Erde. Die Tötung der „bösen weiblichen Schlange“ wird hier ideologisch zum notwendigen Ursprung der Welt verklärt.
Das Bild des Drachen wird in diesem Mythos zum ersten Mal vorgezeichnet, weil Tiamat nicht nur als (Riesen-)Schlange dargestellt wrid, sondern auch über Beine verfügt (siehe unten in der zitierten Passage).
Das Epos „Enuma Elish“ war ein bedeutender „heiliger Text“, der vemutlich um 1200 BCE in Babylon entstand und jährlich auszugsweise beim wichtigsten religiösen Fest Babylons, dem Aikutu (Neujahrsfest), im Marduk-Tempel rezitiert wurde. Der Text schildert u.a. die brutale Tötung der Urmutter-Göttin Tiamat durch den Kriegergott Marduk, die aus den beiden Hälften der von ihm zerrissenen Tiamat Himmel und Erde erschafft.
Auffallend ist, dass Tiamat, eine Ableitung der alten sumerischen Muttergöttin Nammu, als schlangenartiges Monster charakterisiert wird, also definitiv als Ungeheuer, dabei aber ihre Züge als Mutter aller Götter beibehält (die sie tötende Marduk gehört zu ihren Nachkommen). Die Grundaussage besteht darin, dass die Muttergöttin (als Schlange wohlgemerkt) das Chaos repräsentiert, das vernichtet werden muss, damit eine Welt- bzw. Staatsordnung hergestellt werden kann. Diese Aufgabe erledigt Marduk, der Herrschergott, des neubabylonischen Pantheons, mithilfe seiner Keule und kräftiger Fußtritte.
Alle historisch jüngeren Drachendarstellungen in religiösen Mythologien gehen, soweit es den altorientalischen und daran anschließenden okzidentalen Kulturkreis betrifft, auf diesen Mythos um Tiamat und Marduk zurück.
Dass irgendwelche Fossilienfunde die Drachenidee befeuert haben, halte ich für ganz unwahrscheinlich. Vielmehr geht die Idee von Mischwesen sowohl auf steinzeitliche schamanistische Vorstellungen zurück als auch auf ebenso alte totemistische Vorstellungen.
Hier sind Beispiele für göttliche Mischwesen aus der ägyptischen Religion:
Sonnengott Re = selten völlig anthropomorph, meist theriomorph (Scarabäus, Kater) oder gemischt (Falkenkopf/Widderkopf-Menschenleib) oder als Sonnenscheibe.
Himmelsgott Horus = der klassische Falkengott in Falken- oder Mischgestalt (Falkenkopf). Erst ab der 22. Dynastie als Sohn von Isis auch anthropomorph dargestellt.
Magie- und Mondgott Thot = Mischgestalt aus Mensch und Ibis(kopf) oder theriomorph als Pavian. Einer der ältesten Götter des ägyptischen Pantheons.
Um sich ein drachenartiges Monster vorzustellen, bedurfte es vor 4-5.000 Jahren also einfach nur gängiger Methoden des phantasievollen Vermischens unterschiedlicher Gattungen.
Chan
PS. Hier ist die Passage aus dem Enum Elish, in der historisch zum ersten Mal ein „Drache“ (Tiamat = Riesenschlange mit Beinen) in Erscheinung tritt:
Als Tiâmat dies hörte,
Geriet sie außer sich, verlor den Verstand.
Sie stieß gegen ihn ein solches Gebrüll aus,
90 Daß ihre Beine von oben bis unten gegeneinander schlotterten.
Sie sagte eine Beschwörung und warf einen Zauberspruch aus,
Indes die Götter des Kampfes ihre Waffen schärften.
Da traten zusammen Tiâmat und Marduk, der weiseste der Götter,
Stürzten sich aufeinander und begegneten sich im Kampf.
95 Es breitete der Herr sein Netz aus, fing sie darin,
Er ließ vor ihr los den schlimmen Wind, den er aufbewahrt hatte,
Als Tiâmat das Maul auftat, um ihn zu verschlingen,
Warf er den Sturm hinein, damit sie ihre Lippen nicht wieder schließen könne.
Die grimmigen Winde füllten ihren Leib.
100 Ihr Leib blähte sich auf, und ihr Maul blieb offen.
Er schoß einen Pfeil ab, zerriß ihr den Bauch,
Ihr Inneres zerriß er und durchbohrte ihr Herz.
Als er sie bezwungen hatte, tilgte er ihr Leben aus,
Ihren Leichnam warf er zu Boden und stellte sich darauf.
105 Als er Tiâmat, die Anführerin, erschlagen hatte,
Zerbrach er ihre Rotte, ihr Heer zerstreute sich.