Ist die Tänzerin in Mk 6,22 ff., die im Auftrag ihrer Mutter den Kopf des Täufers fordert, eine historische Figur, und wenn ja, welche?
Als Diskussionsbasis können die folgenden Betrachtungen dienen. Zunächst die relevante Passage in Mk 17-29:
17Denn Herodes hatte selbst ausgesandt und ließ Johannes gefangen nehmen und ihn im Gefängnis fesseln wegen Herodias, der Frau seines Bruders Philippus, weil er sie geheiratet hatte. 18Johannes hatte nämlich zu Herodes gesagt: »Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders zu haben.« 19Aber Herodias hatte es auf ihn abgesehen und wollte ihn töten lassen und konnte es nicht. 20Denn Herodes fürchtete den Johannes, weil er wusste, dass er ein °gerechter und °heiliger Mann war, und beschützte ihn. Wenn er ihn hörte, geriet er sehr in Zweifel. Dabei hörte er ihn gern. 21Als der günstige Tag gekommen war, dass Herodes an seinem Geburtstag ein Festmahl gab für seine politischen Machthaber und die Kommandanten seines Heeres und die Ersten von Galiläa, 22und als die Tochter jener Herodias hereinkam und tanzte, gefiel sie dem Herodes und denen, die mit ihm zu Tisch lagen. Der König sagte zu der jungen Frau: »Bitte mich, um was du willst, und ich werde es dir geben.« 23Und er schwor ihr: »Alles, worum du mich bittest, werde ich dir geben bis zur Hälfte meines °Königreichs.« 24Und als sie herausging, sprach sie zu ihrer Mutter: »Um was soll ich bitten?« Die antwortete: »Um den Kopf Johannes des °Täufers.« 25Und als sie hereinkam, bat sie unverzüglich und eilig den König: »Ich will, dass du mir sogleich auf einer Platte den Kopf Johannes des Täufers geben lässt.«
26Obwohl der König sehr traurig wurde, wollte er sie wegen des geschworenen Eides und der mit ihm zu Tisch Liegenden nicht abweisen. 27Sofort schickte der König einen Soldaten der Leibgarde und ordnete an, seinen Kopf zu bringen. Der ging weg und enthauptete ihn im Gefängnis. 28Er brachte seinen Kopf auf einer Platte und gab ihn der jungen Frau, und die junge Frau gab ihn ihrer Mutter. 29Als die °Jüngerinnen und Jünger des Johannes das hörten, kamen sie und hoben seinen Leichnam auf und legten ihn in ein Grab.
Die Tänzerin wird in den griechischen Handschriften als ´korasion´ bezeichnet. Nach altorientalischen Kriterien ist sie damit jünger als 12,5 Jahre, also vermutlich 10-12. Eine betont erotische Note des Tanzes wird in den Evangelien nicht erwähnt, ist aus der begeisterten Reaktion der männlichen Zuschauer und insbesondere des Antipas aber herauszulesen. Nach den Kriterien der Antike verstößt diese Reaktion gegen kein moralisches Tabu. Der Tanz einer Aristokratin auf einer solchen Feier, gleich ob Tochter von Herodias oder Antipas (dazu unten mehr), hätte allerdings gegen die Norm jener Zeit verstoßen, dass solche typischerweise erotischen Darbietungen nur von Sklavinnen ausgeführt wurden und für Aristokratinnen unstatthaft waren. Manche Exegeten halten schon aus diesem Grund die Authentizität der Tanzszene für fragwürdig.
Ein möglicher Einwand, dass der Tanz nicht notwendigerweise erotisch gewesen sein müsse, wäre als Versuch, die Historizität der Szene mit einer unrealistischen Konstruktion zu retten, zurückzuweisen. Ernster zu nehmen ist ein anderer Einwand: dass eine Herodianerin, in diesem Fall die Tochter von Herodias oder Antipas, durchaus imstande gewesen sein könnte, Konventionen ihrer Zeit zu sprengen und - beispielsweise - auf einem Bankett verführerisch zu tanzen. Dagegen spricht aber die Nichtpräsenz der Herodias auf dem Bankett, die sich somit einer Konvention der Zeit fügt, der gemäß solche Feiern nur unter Männern stattfinden, ausgenommen eben tanzende Sklavinnen. Dass eine 10-12-jährige vermag, was die viel mächtigere Herodias nicht vermag, nämlich eine soziale Norm zu sprengen, ist mehr als unwahrscheinlich. Hinzu kommt, dass Antipas angesichts der Darbietung sehr überrascht wirkt. Handelte es sich wirklich um seine oder der Herodias´ Tochter, müssten ihm die Fähigkeiten des Mädchens doch vertraut sein, außer sie hätte, auch unwahrscheinlicherweise, ohne Antipas´ Wissen das Tanzen erlernt. Damit erledigt sich unter Voraussetzung der Tochterschaft der Tänzerin (von Herodias oder Antipas, mehr dazu im nächsten Abschnitt) auch die Möglichkeit, dass Antipas der Initiator der Tanzdarbietung (und damit des Konventionsbruchs) ist, da er in diesem Fall von der Qualität des Tanzes kaum überrascht wäre.
Das Motiv der Großzügigkeit des Antipas gegenüber dem Mädchen ist vermutlich ein sexuelles. Wer wie Antipas ein tanzendes Mädchen so attraktiv findet, dass er ihm ein halbes Königreich schenken würde, hat sexuelle Gründe, keine ästhetischen. Im Mk steht klar und deutlich, dass nicht der Tanz dem Antipas und seinen Gästen gefällt, sondern das Mädchen:
22und als die Tochter jener Herodias hereinkam und tanzte, gefiel sie dem Herodes und denen, die mit ihm zu Tisch lagen.
Zudem verbieten die Inzestregeln im Buch Leviticus eine sexuelle Beziehung zwischen Vater und Tochter nicht. In unserem Zusammenhang spielt das aber keine Rolle, da nicht ein konkreter Inzest zu diskutieren ist, sondern ein psychologischer, d.h. eine Inzestphantasie seitens des Antipas, egal ob als Vater oder als Stiefvater. Hinzu kommt, dass der König im Ester-Buch sein Versprechen aus sexuellen Gründen gibt. Wer immer dem Antipas das gleiche Versprechen (klar als Zitat aus dem Ester-Buch erkennbar) in den Mund gelegt hat, wird nicht nur selbst das sexuelle Motiv damit assoziiert, sondern diese Assoziation auch vom Leser erwartet haben.
Die genannten Ungereimtheiten legen nahe, dass der in Mk 6 geschilderte, unzweifelhaft erotische Tanz einer Tochter der Herodias oder des Antipas auf einem Bankett als ahistorisch und fiktional anzusehen ist.
In alten Quellen herrscht Konfusion in der Frage, wessen Tochter das tanzende Mädchen ist oder sein soll. In Markus-Handschriften wie z.B. dem Alexandrinus-Manuskript ist von einer „Tochter der Herodias“ die Rede, während andere Ausgaben, Sinaiticus, Vaticanicus und der Codex Bezae, die Variante „seine Tochter, Herodias“, also eine Tochter des Antipas mit Namen Herodias, anbieten.
Aufgrund der Nennung der Herodias-Tochter Salome (aus ihrer Ehe mit Philipp I.) in den Antiquitates von Josephus hat die Übersetzung „Tochter der Herodias“ eine Zeitlang die Oberhand behalten, wird aber zunehmend in Frage gestellt und in einigen neueren Bibelausgaben durch „seine (des Herodes Antipas) Tochter, Herodias“ ersetzt. Bestärkt wurde die traditionelle Version sicher durch das Fehlen einer Tochter des Antipas in der historischen Überlieferung. Hinzu kommt, dass eine Tochter-Beziehung der Tänzerin zu Herodias der Tendenz in Mk 6, ihr die Schuld am Tod des Täufers anzulasten, viel mehr entgegenkommt als eine Tochter-Beziehung zu Antipas, der nur als unfreiwilliges Instrument für die Tatausführung gezeichnet wird.
Darüber hinaus ergeben sich chronologische Komplikationen bei der Identifizierung der Tänzerin mit Salome. Laut Ant. 18.136 hat sich Herodias von Philipp I. relativ kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Salome scheiden lassen, um seinen Halbbruder Antipas zu heiraten. Legt man Josephus´ Chronologie des Aretas-Konflikts zugrunde, der zufolge Antipas und Herodias nicht vor 34 CE heirateten, wäre Salome zur Zeit des Banketts (zwischen 34 und 37 CE) ein Kleinkind gewesen und für die Identität der Tänzerin natürlich keine Option.
Zudem müsste Herodias zur Zeit von Salomes Geburt um die 40 gewesen sein. Geboren wurde sie jedenfalls vor 7 BCE, da in diesem Jahr Herodes d.Gr. seinen Sohn Aristobul, Herodias´ Vater, hinrichten ließ. Mit 40 und darüber bekamen in jener Zeit viele Frauen noch Kinder; seltsam ist nur, dass kein früheres Kind von Herodias historisch überliefert ist. Gesetzt, sie hat Philip I. mit etwa 16 geheiratet, wie bei herodianischen Frauen üblich, wäre sie über 20 Jahre lang entweder kinderlos geblieben oder ihre ausgetragenen Kinder wären alle frühzeitig gestorben.
Beide vorgenannten Unstimmigkeiten legen nahe, einer abweichenden Chronologie bei Josephus den Vorzug zu geben, der zufolge Salome spätestens 22 CE geboren war. In den Antiquitates heißt es, ein Bruder von Herodias, Agrippa I., habe nach dem Tod seines Jugendfreundes Drusus, einem Sohn des Tiberius, kurz nach 23 CE eine Reise zu Herodias nach Galiläa angetreten, um sie um finanziellen Beistand zu ersuchen. Zu diesem Zeitpunkt sei sie bereits mit Antipas verheiratet gewesen, der dem Hilfesuchenden zu einer Unterkunft in Tiberias und einem stattlichen Einkommen verhalf. Das weicht von der vorgenannten Chronologie um etwa 10 Jahre ab und wäre deutlich kompatibler mit dem Alter der Tänzerin in Mk 6, das wie gesagt auf 10-12 Jahre anzusetzen ist.
Unterm Strich ist aber zu sagen, dass eine definitive Festlegung auf eine Identität der Tänzerin nicht möglich ist. Weder ist entscheidbar, ob es sich um Herodias´ oder Antipas´ Tochter handeln soll, noch gestatten die divergenten Chronologien bei Josephus eine sichere Bestimmung des Alters von Herodias´ Tochter Salome. Klar ist immerhin, dass eine Identifizierung der Tänzerin mit Salome nur unter Vorbehalt erfolgen kann.
Zu den Quellen, welche die mutmaßliche Fiktion der Tanzszene inspirierten, dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Bericht über Lucius Quinctius Flaminius gewesen sein, der bei Livius, Cicero und Seneca nachzulesen ist und 184 BCE zu Flaminius´ Ausschluss aus dem Senat führte. Der Senator hatte auf einem Bankett dem Wunsch einer von ihm geliebten Kurtisane nachgegeben, an Ort und Stelle Zeugin einer Enthauptung zu sein, und einen verurteilten Gefangenen herbeibringen und vor den Augen der Kurtisane und der anderen Gäste köpfen lassen. Setzt man Antipas an die Stelle des Flaminius, Herodias bzw. die Tochter an die Stelle der Kurtisane, den Täufer an die Stelle des Gefangenen und die (fiktive) Verliebtheit des Antipas in die Tänzerin an die Stelle der Liebe des Flaminius zur Kurtisane, ergibt sich eine Analogie, die kaum zufällig ist.