Gruppendynamik
Hallo Mira,
schön, daß du dich meldest, ich dachte schon, du hättest es vergessen.
Allgemein zu deinen Beobachtungen und Selbstbeobachtungen würde ich so ziemlich unaufgefordert sagen, du befindest dich in der Phase, wo du noch die Formen und Grenzen deiner Selbstbehauptung testest und ausprobierst. Und darin wünsche ich dir viel Glück und Erfolg. D.h., ich nehme dich ernst, alsbald du mir ernsthaft geantwortet hast.
Konkret kommentiere ich zunächst das, was ich aus meiner Sicht für wichtig halte.
Ich kann durchaus wahrnehmen, wie ich mich in solchen
Situationen fühle. Wie ich die Atmosphäre empfinde
- Sind die Leute eher unruhig oder sind sie weiterhin
konzentriert?
- Wühlen auf einmal mehr Leute in ihren Taschen, beschäftigen
sich mit anderen Dingen, scharren mit den Füßen oder gibt es
ähnliche Nebenschauplätze?
- Wie ist der Blickkontakt des Publikums zur Redenden oder zum
Redenden?
Das sind gute Ausgangspunkte, und deine Schlussfolgerungen stimmen auch völlig.
Auf solche Aspekte kann ich zum Beispiel achten, wenn die Rede
von Dingen ist, die ich schon weiß oder die für mich klar
sind. Oder, ja, wenn mich das Diskussionsthema nicht
interessiert, weil ich die Fragestellung für trivial halte.
Außerdem merke ich ganz genau, wie das Publikum auf mich
reagiert. Und auf männliche Mitdiskutierende. Das gehört doch
dazu, oder nicht? (wenn nicht, bin ich vielleicht ein
Multitaskingtalent…)
Ich verneige mich vor jeder Begabung Ich wollte hier nur einmal präzisieren: wer hält die Rede, wenn es uninteressant oder trivial wird: ein Männlein oder ein Weiblein? Liegt für dich da die Grenze? Ist es auch deine Reaktion? Beobachtest du nur die anderen oder dich auch?
Wenn ein Weiblein sich bloss stellt, greifst du es an, oder nur Männlein werden geopfert? Umgekehrt? Kurz gesagt, geht es für dich in diesem Absatz um die Sache oder um die Verteilung der Punkte zwischen Mädchen und Jungen?
Mir ist es besonders in Deutsch aufgefallen. In vielen
Seminaren sind mehr Mädchen als Jungen. Und trotzdem sind die
Jungs die Stars, wenn sie nicht allzu bescheuerte Sachen
sagen. Ihre Aussage geht viel mehr in ein Gespräch ein, wird
zitiert und als Basis für eigene Statements benutzt. Das liegt
nicht daran, dass die Aussagen der Jungs einen
zusammenfassenden Charakter haben, es sei denn, er bliebe mir
bisher immer verborgen. Die Lehrenden haben keinen Einfluss.
Das verstehe ich ehrlich gesagt nicht ganz. Haben die Lehrenden keinen Einfluss oder nehmen sie keinen Einfluss oder können sie den Lauf der Dinge nicht ändern? Wo ist hier der Anfang, wo das Ende? ( aus deiner Sicht!)
Mir geht es meistens mehr um die Sache. Ich widerspreche viel
in Seminaren, einfach, um Sachen auf den Punkt zu bringen.
Dabei widerspreche ich forschen Rednern lieber und anders als
zurückhaltenden, weil ich diese nicht verschrecken will.
Richtig, nur so kannst du lernen!
Weißt Du, was ich am schrecklichsten finde? Dass ich mich von
Männern immer noch mehr einschüchtern lasse, als von Frauen.
Heute in Pflanzenphysiologie stand ich an der Tafel. Einfache
Aufgabe, nur ein logischer Haken. Ich konnte mich nicht
konzentrieren, weil der Assistent hinter mir gelacht, gegrinst
und Spökskes gemacht hat. Der Professor hat mich immer wieder
unterbrochen, und ich habe nicht auf den Tisch gehauen und
durchgesetzt, dass ich mal ordentlich nachdenken kann. So was
machen die bei Jungs nicht. Definitiv. Der eine Typ aus
unserem Kurs stand gerade vor mir an der Tafel und hatte für
einen Mechanismus Stunden Zeit.
Ich hasse solche Kollegen. Du hast in dem Punkt mein Verständnis und Mitgefühl, man kann aber sich dagegen wehren, insbesondere in einer guten Gruppe…
Cool, wenn es in Bremen anders ist (welcher Fachbereich,
welche Gruppenzusammensetzung, -größe, -struktur, welches
Semester? Kennen sich die Leute untereinander?)
Ich kann leider nur für mich sprechen, und wenn ich jetzt hier über meine Unterrichtsmethoden und Diskussionsleitungsprinzipien ausbreite, sprengt es den Rahmen des Brettes ganz bestimmt. Kurz gesagt, ich erlaube keine unsachliche beleidigende Repliken in meinen Seminaren, lasse alle ausreden, und wenn es der Sache hilft, unterstütze mit den zusätzlichen Fragen usw. In den großen Gruppen macht es Spass zu sehen, wie diejenigen, die zunächst nur schweigen, dann sich langsam eröffnen. Wenn einer sich arrogant gegenüber Frauen verhält, erlaube ich der Gruppe sich über ihn zu lachen. Wenn die Gruppe es nicht macht, übernehme ich es selbst. Ok, ich plaudere schon wieder zu viel über mich:smile:
Abschliessend: Und aus meinen Beobachtungen kann ich sagen, begabte Studenten melden sich zum Wort egal ob sie Mädchen oder Jungs sind, menschliche Reife sehe ich da trotzdem äußerst selten. Blöden Jungs melden sich eher als blöden Mädchen, da gebe ich dir Recht. Im Unterricht muß ich aber mit allen arbeiten.
Viele Grüße