Die häufigsten Interpretationen von Gen 1,1 sind folgende (basierend auf den Untersuchungen von Bruce K. Waltke und anderen):
A.
Die konventionelle Interpretation: Vers 1 schildert den absoluten Beginn der Schöpfung, dessen Ergebnis in Vers 2 im Hinblick auf den Zustand der Erde genauer beschrieben wird. In Vers 3 setzt dann die schöpferische Ausgestaltung des Anfangszustandes ein.
B.
Die unkonventionelle, sich aber in den letzten Jahrzehnten verstärkt durchsetzende Interpretation: Die in Vers 2 beschriebene Weltzustand ist präexistent und geht dem Schöpfungsprozess zeitlich voraus. Vers 1 gibt also eine Zusammenfassung der Ereignisse des Kapitels Gen 1 wieder. Vers 2 schildert dementsprechend einen präexistenten Anfangszustand der Welt, ohne dass eine Aussage darüber gemacht wird, ob dieser Zustand selbst einmal einen Anfang hatte oder aber anfanglos ist.
Die Verfechter der konventionellen Interpretation A gehen, wie gesagt, davon aus, dass mit Vers 1 ein chronologischer Bericht der Weltschöpfung beginnt. Elohim (= Gott) bringt unvermittelt - eventuell ex nihilo - den Himmel (Pluralform: schamajim) und die noch unvollkommene Erde hervor. Sie nehmen weiterhin an, dass im weiteren Verlauf die Perfektionierung der ´wüsten´ Erde und die Schaffung eines zweiten physikalischen Himmels (Gewölbe, Firmament) beschrieben wird, der zu dem (so interpretierten) obersten ´göttlichen´ Himmel von Vers 1 hinzukommt.
Gegen die Interpretation A sprechen u.a. folgende Argumente:
Eine Schöpfung ´durch das Wort´, wie sie bis zum sechsten ´Tag´ erfolgt, ist in Vers 1 nicht erkennbar. Was durch ´das Wort´ unmittelbar geschaffen wird, ist das Licht, das Firmament (Himmel), die Himmelskörper, die Tiere und eventuell auch die Menschen. Bei anderen Schöpfungsakten fungiert die ´Erde´ als vermittelndes Organ des göttlichen Willens.
Für Vertreter der Interpretation B belegt die Nichterwähnung einer Schöpfung ´durch das Wort´ in Vers 1 also die Präexistenz der in Vers 2 beschriebenen unvollkommenen Erde, die erst im weiteren Schöpfungsprozess ´durch das Wort´ zur Vollkommenheit gelangt. Auf diese Vervollkommnung bezieht sich laut Interpretation B Vers 1 und damit auf einen Endzustand, der erst nach dem sechsten ´Tag´ eintritt – statt auf einen unvollkommenen Anfangszustand, wie ihn die mit der Zusatzannahme eines göttlichen Himmels belastete Interpretation A behauptet.
Dass ein Himmel nicht nur in Vers 1, sondern auch in Vers 7 – dort als ´Gewölbe´ (raqia) - geschaffen wird, wirft die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden ´Himmel´ (identisch oder verschieden, und wenn letzteres, in welcher Weise) auf. In den altorientalischen Religionen, auch im Judentum, wurde in der Regel eine Mehrzahl von Himmeln angenommen, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen.
Eine Differenzierung zwischen verschiedenen Himmeln ist in Gen 1 aber nicht explizit ausgeführt und somit auch nicht belegbar. Argumentativ kann die doppelt erwähnte Schöpfung der ´Himmel´ in Vers 1 und 7 daher weder von Verfechtern der einen noch der anderen Interpretation genutzt werden. Tendenziell bestärkt sie aber die unkonventionelle Interpretation B (präexistente Materie), weil diese nicht die für Gen 1 unbelegbare Zusatzannahme einer Hierarchie von Himmeln erfordert (Ockhams Rasiermesser).
Ein weiteres Argument erfordert einen Blick auf den hebräischen Originaltext. Vers 2 beginnt mit einem ´und´ = ´wa´ (וְ), das dem Wort für ´Erde´ ohne Leerstelle vorangestellt ist (wie bei ´wa´ im Hebräischen üblich). Von rechts zu lesen:
וְהָאָ֗רֶץ („und die Erde“)
In der gängigen deutschen Übersetzung erweckt das ´und´ den Eindruck, als leite es zu einer Aussage über, die sich dem vorausgehenden Satz (Vers 1) sequentiell anschließt. Das entspricht der Interpretation A, die Vers 2 als erläuternde Fortsetzung von Vers 1 deutet. Die syntaktische Beschaffenheit von Vers 2 im hebräischen Original widerspricht dem aber. Man unterscheidet zwei Verwendungen von ´wa´, wenn es am Satzanfang steht:
Ist die Satzstellung ´wa + Verb + Subjekt´, dann handelt es sich um einen sequentielle Konstruktion, d.h. der mit mit ´wa´ eingeleitete Satz schließt sich an den vorausgehenden Satz an.
Ist die Satzstellung aber ´wa + Subjekt + Verb´, dann ist der Satz keine Sequenz, sondern eine Umstandsbestimmung des auf ihn folgenden Satzes.
In Vers 2 folgt auf das ´und´=´wa´ das Subjekt ´Érde´ und erst dann das Verb ´war´. Er liefert somit eine Hintergrundinformation für Vers 3, in welchem Elohim ´“spricht: Es werde Licht´“ usw.
Vers 3 ist dagegen ein Beispiel für eine sequentielle Verwendung des ´wa´: Dort folgt auf das ´und´ im hebräischen Original das Verb ´sprach´ und dann das Subjekt ´elohim´.
Daraus folgt: Vers 1 geht Vers 2 nicht chronologisch voraus, woraus wieder folgt, dass er höchstwahrscheinlich eine Kapitelüberschrift bzw. Kapitelzusammenfassung ist.
Abschließend die Frage: Welche Interpretation ist am einleuchtendsten? A oder B?
The Pusha