Wie präsent ist das Kastrationsmotiv im Judentum und im Täufer-Narrativ?

Die Frage steht in der Titelzeile.

Ich möchte als Diskussionsgrundlage weitere (fundierte) Spekulationen zur Täufer-Thematik unter Einbeziehung psychoanalytischer Aspekte zur Diskussion stellen.

(Ich habe die Texte natürlich nicht extra für dieses Forum geschrieben, sie sind ältere Entwürfe für längere Studien)

Bin gespannt, ob wieder jemand mit Stephen Hawking antanzt, der hier wie dort ganz fehl am Platze ist.

Also:

Freud hat drei Bereiche von ´psychologischer Realität´ beschrieben: der unbewusste, der vorbewusste und der bewusste, wovon die wichtigsten natürlich der unbewusste und der bewusste sind. Aus psychoanalytischer Sicht wird die bewusste Realität in der Wahrnehmung unbewusst symbolisch transformiert (bzw. interpretiert). Als die fundamentalste symbolische Struktur gilt (für die meisten, aber nicht alle Freudianer) der Ödipuskomplex. Seine auf Männer bezogene Variante – die für das anstehende Thema einzig relevant ist – besagt das inzestuöse Begehren der Mutter und die damit verbundenen Gefühle der Angst und des Hasses gegenüber dem Vater. Als ´bewältigt´ gilt der Komplex, wenn trotz des inneren Konflikts eine Identifikation mit dem Vater (= Über-Ich-Bildung) gelingt.

Für die Entstehung der jüdischen Religion spielt der Ödipuskomplex eine kaum zu überschätzende Rolle. Ich nenne als zentrale Stichworte die Beschneidung und die Maskulinität des einzigen Gottes (mit geringen Beigaben weiblicher Attribute). Die Beschneidung ist als Ersatz-Kastration anzusehen nach dem Prinzip ´ein Teil für das Ganze´. Sie wurde im klassischen Judentum zuallermeist, wenn nicht immer, vom Vater ausgeführt (Vorschrift im Talmud). In der Regel wurde keine Anästhesie durchgeführt. Untersuchungen im Jahr 1995 haben ergeben, dass die Herzfrequenz eines gerade beschnittenen Babys in einem kritischen Bereich liegt. Laut Prof. Paul M. Fleiss von der California State University entsprechen sie Werten, die auch unter Folter auftreten, siehe:

http://www.cirp.org/library/pain/fleiss/

Zitat:

These rates are consistent with torture.

Ergänzend:

http://www.cirp.org/library/pain/taddio/

Das Ritual generierte (ich thematisiere hier nur das klassische Judentum) also sehr früh, nämlich im Alter von 8 Tagen, eine Vaterangst, die den Ödipuskomplex auf radikale Weise vorwegnimmt, der, wenn er im Alter von 4-5 Jahren in seiner Freudianischen Phase emergiert, auf einer schon bestehenden verinnerlichen, aber ins Unbewusste verdrängten Angst -Basis aufbaut . Man bedenke nun, dass alle ur- und frühchristlichen Protagonisten der Jesusbewegung diese Erfahrung gemacht hatten und sowohl ihren mitmenschlichen Beziehungen als auch ihre religiöse Phantasiewelt ganz wesentlich unter dem Aspekt väterlicher Autorität wahrnehmen.

Kurz: Der Ödipuskomplex gehört zur innersten Struktur des Täufer-Narrativs, gleich ob historisch oder nicht. Das ist leicht erkennbar, da die theophanische Vaterfigur neben der Sohnfigur Jesus eine entscheidende Rolle spielt.

Zum Kastrationsmotiv im Täufer-Narrativ:

(Die Historizität der Herodias-Episode wird von den meisten Forschern angezweifelt. In einer psychologischen Analyse der Episode kann es also nicht um reale Figuren, sondern nur um die unbewussten Phantasien des oder der Autoren der Episode gehen. Einige Argumente für die Nichthistorizität stehen am Schluss des Beitrags.)

Es weist bei der Enthauptung des Täufers einiges auf symbolische Kastration im Zusammenhang mit Oralität hin. Man unterscheidet oralen von analem Sadismus. Letzerer zielt auf Macht und Unterwerfung, ersterer auf Einverleibung und Vernichtung. Herodias ist innerhalb des Narrativs der oralsadistische Typ, wenn auch sicher nicht im kannibalistischen Sinne. Warum? Ein Analsadist hätte bei der Hinrichtung zugeschaut, um seine Macht über das Opfer unmittelbar auszukosten. Aus oralsadistischer Sicht macht die Überbringung des Kopfes (auf einer Schale) deutlich mehr Sinn.

Man bedenke auch die Worte der Tochter (Mt 14,8):

Gib mir hier auf einer Schüssel das Haupt Johannes des Täufers!

Es reichte also nicht, die Enthauptung zu fordern – damit hätte Herodias ihr Ziel, den Ankläger ihrer Ehe zu beseitigen – ja erreicht, nein, es musste auch ein orales Ritual zelebriert werden, dass ihre tieferen Empfindungen ansprach. Man bedenke auch den immensen symbolischen Wert, den die Episode in Kunst und Literatur hat. Erklärlich ist das nur durch die symbolische Tiefenstruktur, die über Jahrtausende hinweg – bis hin zu Strauss´ ´Salome´- die Gemüter bewegt hat.

Der Täufer hatte die symbolische Position einer Vaterfigur auch im Kontext von Herodias. Als vehementer Ankläger der Ehe Herodias´ stand er deren inzestuösen Wünschen im Wege, was genau die Situation im Ödipuskomplex ist, wo der Vater in diese Rolle erscheint.

Ich habe oben die immense Rolle des Vaters im Judentum betont. Sexuelle Fruchtbarkeit war dabei ein bedeutsamer Faktor. Bekanntlich bestand Abrahams Hauptaufgabe, als Jahwe mit ihm einen Bund schloss, in zwei Dingen: möglichst viele Nachkommen zu erzeugen und für deren Beschneidung Sorgen zu tragen. Warum alle drei ´Vater´-Figuren des Jesus ´ symbolisch kastriert´ (Joseph als nichtbiologischer Vater, der Täufer als Enthaupteter, ´Gott´ als von Jesus teilweise Entmächtigter) sind, ergibt sich aus der Funktion der Jesusfigur als unbewusste Symbolfigur eines Aufstandes gegen die Allmacht des ´Vaters´, vor allem des mit den Römern, Sadduzäern und Pharisäern scheinbar ´kollaborierenden´ jüdischen Vater-Gottes.

Man sollte bedenken, dass die Geschichte der Israeliten und des udentums – sowohl auf der historischen wie auf der ´mythologischen´ Ebene (z.B. Genesistexte) – von Beginn an eine Geschichte der Rebellion ist: Eva und Adam rebellieren gegen Jahwe, Kain gegen den göttlichen Willen, Ham gegen Noah, Hebräer gegen die Ägypter, später gegen Moses, dann die Propheten gegen Polytheisten und die eigenen Könige, die Könige gegen Besatzermächte, dann viele Juden gegen die eigene Religion (was zum Makkabäerkrieg führte) und später dann die diversen Aufstände gegen Rom. Das gehört zur Dialektik des Judentums – nach innen sehr autoritär, nach außen sehr rebellisch, ganz im Sinne der Beschneidung als symbolischem Akt, der nach innen Identität (Identifikation mit der väterlichen Macht) und nach außen Abgrenzung (gegen Nichtbeschnittene) generiert.

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Zur Nichthistorizität der Herodia-Episode:

Juristisch wäre Antipas als Regent von Roms Gnaden gar nicht in der Lage gewesen, gemäß dem angeblich an die Tänzerin gegebenen Versprechen die Hälfte seines Herrschaftsbereichs an eine andere Person abzutreten.

Hinzu kommt, dass Mk 6,21 die „Vornehmsten von Galiläa“ als Gäste des Banketts nennt. Diese wären von einer Neuaufteilung der innergaliläischen Herrschaft unmittelbar betroffen und über Herodes´ angebliche Eid-Kapriole eher entsetzt als amüsiert gewesen, zumal ihre potentielle neue Gebieterin noch im pubertären Alter stand (dazu unten mehr). Einem erfahrenen Regenten wie Antipas wäre ein so massiver Affront bestimmt nicht unterlaufen.

Weiterhin spricht gegen die Historizität der Perikope der in meinem Vorpost schon erwähnte Bezug auf das Buch Esther, das seinerseits in der Bibelwissenschaft als hochgradig fiktional gilt. Hier sind nochmals Zitate zum Vergleich:

Ester 5:

6 sprach der König zu Esther, da er Wein getrunken hatte: Was bittest du, Esther? Es soll dir gegeben werden. Und was forderst du? Auch die Hälfte des Königreichs, es soll geschehen.

Mk 6:

23 Und er schwur ihr einen Eid: Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis an die Hälfte meines Königreiches.

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Tja, und wie seht IHR das?