Wie viel würde ich 'damals' verstehen?

Huhu,

ich interessiere mich sehr dafür, wie das Leben in der Vergangenheit zu verschiedenen Zeiten - ganz besonders hier in meiner Heimat BadenWürttemberg - ausgesehen hat.

In letzter Zeit habe ich mir öfters überlegt, wie viel vom gesprochenen Wort ich (mit recht guter Dialekt-Kenntnis des Schwäbischen) hier wohl verstehen würde, wenn ich plötzlich um 200/500/1000/2000 Jahre zurückversetzt würde.

Könnte ich mich verständigen? Wäre ich hoffnungslos verloren, wie in einem komplett fremdsprachigen Land?

Was meinen die Sprachexperten?

Vor 200 Jahren hättest Du Dich, nach anfänglichen Schwierigkeiten eventuell verständigen können; vor 500 Jahren würdest Du kaum mehr als gelegentliche einzelne Worte identifizieren können.
Vor 1000 Jahren und davor wärest Du, sprachlich gesehen, in einem absolut fremden Land, und würdest absolut nichts verstehen.
Hinzu kommt noch das Problem, daß viele der heute genutzten Formulierungen und Wörter „Lehnwörter“ darstellen, die erst zu späteren Zeiten Eingang in die „Sprache“ gefunden haben, sowie die Tatsache, daß viele andere „Wörter“ sich auf Begriffe, Tätigkeiten oder Dinge beziehen, die es zur jeweiligen Zeit noch gar nicht gegeben hat.
Besser bedient wärest Du wohl mit profunden Kenntnissen der „lateinischen Sprache“, die Dir zumindestens die Kommunikation mit der „gebildeten Schicht“ ermöglicht haben würde…

Gruß
nicolai

Besser bedient wärest Du wohl mit profunden Kenntnissen der
„lateinischen Sprache“, die Dir zumindestens die Kommunikation
mit der „gebildeten Schicht“ ermöglicht haben würde…

Und die wäre vor 1000 Jahren dem heutigen Italienisch ähnlich gewesen?
Nur Deutsch (das es natürlich so vor 1000 Jahren nicht gab) hätte sich verändert?

MfG
GWS

Servus,

wenn Du muttersprachlich südlich des 48. Breitengrades drhuam wärest, könntest Du das Mittelhochdeutsche bis zu einer Zeit vor ca. 700 - 800 Jahren wahrscheinlich nach ganz kurzer Eingewöhnung verstehen: Wenn man einem Seehasen oder einem Hotzenwälder das Nibelungenlied gibt, kann er es vom Blatt lesen und beim lauten Lesen auch weitgehend verstehen - im Alemannischen ist seit dem Mittelhochdeutschen nicht mehr viel passiert; viel weniger als in den zurückliegenden ca. 50 Jahren, wo es sich in dramatischem Umfang dem Schwäbischen (im Osten) und dem badischen Südfränkisch (im Westen) angepasst hat.

Schöne Grüße

Dä Blumepeder

Vor 200 Jahren hättest Du Dich, nach anfänglichen
Schwierigkeiten eventuell verständigen können

Goethes Faust ist 204 Jahre alt. Mal abgesehen davon, daß Goethe im hessischen Dialekt gesprochen hat (was man an einigen Reimen deutlich merkt), dürfte man sich mit ihm einwandfrei verständigen können - zumindest nicht schwieriger als mit einem Hessen heute. :smile:

vor 500 Jahren
würdest Du kaum mehr als gelegentliche einzelne Worte
identifizieren können.

AM anfang schuff Gott Himel vnd Erden.
2 Vnd die Erde war wüst vnd leer / vnd es war finster auff der Tieffe / Vnd der Geist (1) Gottes schwebet auff dem Wasser. Joh. 1.; Col. 1.; Ebre. 11.; Psal. 33.
3 VND Gott sprach / Es werde Liecht / Vnd es ward Liecht.
4 Vnd Gott sahe / das das Liecht gut (2) war / Da scheidet Gott das Liecht vom Finsternis /
5 vnd nennet das liecht / Tag / vnd die finsternis / Nacht. Da ward aus abend vnd morgen der erste Tag.
6 VND Gott sprach / Es werde eine Feste zwischen den Wassern / vnd die sey ein Vnterscheid zwischen den Wassern.
7 Da machet Gott die Feste / vnd scheidet das wasser vnter der Festen / von dem wasser vber der Festen / Vnd es geschach also.
8 Vnd Gott nennet die Festen / Himel. Da ward aus abend vnd morgen der ander Tag.
9 VND Gott sprach / Es samle sich das Wasser vnter dem Himel / an sondere Örter / das man das Trocken sehe / Vnd es geschach also.
10 Vnd Gott nennet das trocken / Erde / vnd die samlung der Wasser nennet er / Meer. Vnd Gott sahe das es gut war.

Das st die Lutherbibel von 1545 - etwas mehr als „gelegentliche“ Worte versteht man da auch noch heute. Sicher, auch hier haben wir das Mundartproblem - aber das hast du heute auch, wenn du einen Bibeltext von einem Sachsen vorgelesen bekommst.

Selbst das 800 Jahre alte Nibelungenlied ist noch grob verständlich:

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit
von helden lobebæren, von grôzer arebeit,
von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nû wunder hœren sagen.

Vor 1000 Jahren und davor wärest Du, sprachlich gesehen, in
einem absolut fremden Land

Absolut nicht, aber bis auf einzelne Brocken ist das Althochdeutsche in der Tat kaum mehr verständlich:

Ik gihorta dat seggen,
dat sih urhettun ænon muotin,
Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem.
sunufatarungo iro saro rihtun.
garutun se iro gudhamun, gurtun sih iro suert ana,
helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun.

Gruß,
Max

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Servus,

Und die wäre vor 1000 Jahren dem heutigen Italienisch ähnlich
gewesen?

nein, sondern dem Latein, das heute noch in Teilen der rk Kirche gesprochen wird.

Eine wesentliche Veränderung hat das gesprochene Latein in der beginnenden Neuzeit etwa um 1500 erfahren, als die Humanisten sich wieder stärker dem klassischen Latein und den antiken Schriftstellern zuwandten. Ich habe vor einigen Tagen in Séléstat einen Brief von Zwingli an Beatus Rhenanus zu lesen versucht und alle Mühe damit, Zwinglis Latein zu verstehen: Der Mann hatte bigoscht seinen Seneca studiert.

Nicht nur die Aussprache ist unterschiedlich; das Alltagslatein, das z.B. manche Kirchenleute unter sich bis heute sprechen, ist auch grammatisch einfacher aufgebaut und den modernen romanischen Sprachen ähnlicher. Kirchenlatein, wie es seit ungefähr 1.500 Jahren gesprochen und geschrieben wird, kann man verstehen, wenn man Caesar versteht - viel mehr ist da nicht dran, abgesehen natürlich von dem erweiterten Vokabular für Gegenstände und Begriffe, die es erst seit Neuerem gibt.

Schöne Grüße

Dä Blumepeder

…wobei Du allerdings die Ausspracheweisen übersiehst; denn auch holländische oder schwedische Zeitungen lassen sich mit etwas Sprachgefühl zumindest „grob und oberflächlich“ verstehen, bzw. lesen, die gesprochene Sprache hingegen eher nicht…
…und konfrontiert wird der OP wohl eher mit dem „gesprochenen Wort“; als Beispiel diene etwa : „Haschama zitug gsih ? Ban znünabrenna hanisno ghan…“ (Vorarlbergisch)

Gruß
nicolai

Ich danke euch allen für eure Antworten :smile: Nun habe ich auf jeden Fall ein klareres Bild vor mir! Spannend finde ich auch die verschiedenen Textbeispiele - man versteht doch wirklich einiges, wobei ich bei der althochdeutschen Textprobe tstächlich an meine Grenzen gestoßen wäre.

Da kommt es ja aber auch immer nochmal drauf an, wie die Leute das dann laut ausgesprochen hätten … ein Wort im geschriebenen Zustand kann ja sehr fremd wirken und im gesprochenen dann plötzlich sehr vertraut (wenn ich z.B. mal an ein paar Irische Vornamen denke, da ist mir das schon passiert).

…wobei Du allerdings die Ausspracheweisen übersiehst

Unwahrscheinlich, da ich sogar explizit darauf hingewiesen habe, daß es Mundartprobleme gibt. Diese Probleme sind aber unabhängig von der Zeit. klar hat Goethe derbstes Hessisch gebabbelt - das Verständigungsproblem liegt darin, daß ich Münchner bin, nicht daß ich 200 Jahre später lebe.

…und konfrontiert wird der OP wohl eher mit dem
„gesprochenen Wort“; als Beispiel diene etwa : „Haschama zitug
gsih ? Ban znünabrenna hanisno ghan…“ (Vorarlbergisch)

Ja, aber dieses Verständigungsproblem besteht unahängig von der Zeitreise.

In der Fragestellung ging es explizit um eine „mundarttreue“ Reise, bei der Fragesteller in seinem eigenen Mundartgebiet zurückreist, und er die Mundart gut beherrscht.

Gruß,
M.

Ich vermute, dass man auch mit der eignen Mundart vor 500 bis 700 Jahren Probleme haben würde. Dabei ist das geschriebene Deutsch (bzw. der geschriebene Dialekt) leichter verständlich wie das gesprochene.

Zimbrisch wird z.B. als bairische Mundart/Sprache gesehen. Obwohl ich die meisten bairischen Mundarten problemlos verstehe, tue ich mir bei Zimbrisch schon auch schwer, da es noch einige alte Formen verwendet, die bei uns schon lang nimmer üblich sind. Als Beispiel möcht ich bringen. Auch wenn der Dialekt nur einige alte Forme…

Gsibergisch
Servus,

mit diesem Beispiel:

„Haschama zitug gsih? Ban znünabrenna hanisno ghan…“

wendest Du aber einen Trick an. Es wird nur durch das Wörtlein „gsih“ schwer verständlich, und ich zweifle daran, dass man zwischen Doren und Mellau wirklich „gsih“ sagt und nicht „gsäh(a)“, weil gleichlautend „gsî“ soviel wie anderwärts „gwäa“ bedeutet, daher auch die neckende Bezeichnung des Wälder Idioms als „Gsibergisch“.

Bei der „zitug“ bin ich übrigens auch nicht so sicher, ob sie nicht doch wie im übrigen alemannischen Raum „Zîtig“ heißt?

BTW: Wenn man das bereits angezogene Nibelungenlied nicht silbenstoppelnd liest wie die neumodischen „Mittelalter“-Reenactors, sondern als einen fließend gesprochenen Text, klingt das durchaus wie in der „Sonne“ in Gossau.

Schöne Grüße

Dä Blumepeder

1 Like

…will ja nicht motzen, aber bezüglich „Xibergisch und so“ bist Du wohl hier http://www.ostarrichi.org/forum.html besser aufgehoben als bei mir…:wink:)
(war ja auch nur ein „Beispiel“)

Grüße
nicolai

Der Fersentaler Dialekt kann auch als Beispiel für einen konservativen südbairischen Dialekt hergenommen werden. Hörbeispiele sind
oderServus,Roland