Die Abgeordneten des Bundestages und der Länderparlamente sind Teil eines Experiments geworden. Bis heute wissen sie nichts davon. Anfang des Jahres verschickte ein Forscher des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln E-Mails an alle 2503 Volksvertreter. Er gab sich als „Alexander Müller“ oder „Peter Schmidt“ aus, behauptete, im jeweiligen Wahlkreis zu wohnen und bei einem bestimmten politischen Thema verunsichert zu sein. Dann fragte der fiktive Wähler, ob eine bestimmte Information stimme, die er gehört habe. Diese Information war allerdings falsch, eine klassische Fake News.
Die Daten für diese Fake News waren nicht frei erfunden. Schon im Jahr zuvor hatte der Forscher, er heißt Matthias Diermeier, bei einer repräsentativen Umfrage gesehen, dass Wähler bestimmte Sachfragen falsch einschätzen – und dass das abhängig von ihrer Vorliebe zu bestimmten Parteien ist. Wähler der AfD etwa überschätzten den Anteil der arbeitslosen Migranten, sie glaubten durchschnittlich, es betreffe 48 Prozent und nicht 14. Wähler der Grünen hingegen unterschätzten den Anteil der erneuerbaren Energien in Deutschland. Sie glaubten durchschnittlich, er läge bei 35 Prozent, obwohl er bei 45 Prozent liegt.
Wie oft antworten Abgeordnete?
Diese falschen Zahlen machte sich Diermeier zunutze. Er besprach sich mit dem Ethikrat der Universität Duisburg-Essen und konzipierte drei unterschiedliche Anfragen. Eine zum Thema Migration, eine zu erneuerbaren Energien und eine neutrale zur Wirtschaft. Wer welche Anfrage bekam, war Zufall, aber jeder Abgeordnete bekam nur eine. Die Grünen also auch die Migrations-Anfrage, die AfD auch die Anfrage zu den erneuerbaren Energien. Diermeier wollte Folgendes herausfinden: Wie oft antworten Abgeordnete ihren potentiellen Wählern? Hatte das mit den Themen zu tun? Und: Berichtigen die Abgeordneten die Fake News – auch dann, wenn die Falschnachricht zu ihrem Wahlprogramm passt? Schließlich, und das war seine Hauptfrage: Verhalten sich die Rechtspopulisten anders als die anderen Parteien?
Diermeier hatte zwei Hypothesen, bevor er mit dem Experiment begann: Erstens glaubte er, dass das Thema der Anfrage auch die Antwortrate bestimmen würde. Dass sich also Abgeordnete der AfD öfter zurückmeldeten, wenn ein Wähler sich für das Thema Migration interessierte. Zweitens vermutete er, dass die Toleranz gegenüber Fake News zunimmt, je radikaler ein Abgeordneter gegenüber einem Thema eingestellt ist. Ein AfD-Abgeordneter, so die Mutmaßung, würde mehr Fake News zum Thema Migration durchgehen lassen, ohne sie zu korrigieren, ein Grüner mehr zu erneuerbaren Energien.
AfD weniger volksnah als behauptet
Beide Hypothesen waren letztlich falsch. Es zeigte sich, dass durchschnittlich die Hälfte der Abgeordneten auf die Wähleranfrage antwortete, im Bundestag mehr als bei den Landesparlamenten, und dort wiederum mehr, wenn eine Wahl anstand. Im Vergleich zu anderen Staaten ein ziemlich guter Schnitt. Die etablierten Parteien unterschieden sich nicht groß voneinander, aber die AfD war ein Ausreißer: Hier meldeten sich nur 39 Prozent der Abgeordneten bei ihren potentiellen Wählern. Und das, obwohl sie sich immer als die besonders volksnahe Partei darstellten.
Beim Thema Migration, dem Kernthema der AfD, antworten knapp 37 Prozent, weniger als bei allen anderen Parteien. Außerdem zeigte sich, dass AfD-Abgeordnete deutlich öfter Fake News tolerierten. Jeder Dritte ihrer Abgeordneten ließ die falschen Fakten des fiktiven Wählers so stehen, beim Thema Migration war es sogar die Hälfte. Im Gegensatz dazu berichtigten bei den anderen Parteien durchschnittlich 95 Prozent die Angabe. Am wehrhaftesten war die SPD: Hier waren es 98 Prozent. Diermeier hatte vermutet, dass es bei den Grünen Tendenzen geben würde, die Anfrage zu den erneuerbaren Energien weniger stark zu korrigieren. Dem war nicht so. Und interessanterweise überholte auch hier die AfD mit Abstand.
Diermeier glaubt deshalb, dass die AfD ein „strukturell anderes Antwortverhalten“ habe. Ihre Antworten gingen „häufig völlig an der abgefragten Fehlinformation vorbei“. Ein Abgeordneter schrieb etwa: „Die Arbeitslosenquote der Migranten ist das bestgehütetste Geheimnis in Deutschland“. Diermeier fand die Zahl bei Google mit einem Klick.
Das Ergebnis seines Experiments findet er „erfrischend“. „Man kann ja sonst nicht reingucken in solche private Kommunikation.“ Außer bei der AfD seien die Antworten durchweg wohlwollend, hilfsbereit, verständnisvoll und wenig anfällig für Fake News gewesen.
Bitteschön, Hans-Jürgen Schneider