ich habe mich mit der Charles Manson und seiner „Family“ befasst. Mansons bedeutendste Jüngerin, Lynette „Squeaky“ Fromme, glaubte offenbar auch noch Jahrzehnte später an ihn (kann man auf Wikipedia nachlesen, z.B. brach sie knapp 20 Jahre nach seiner Inhaftierung aus, um ihn zu sehen). Dabei saß sie auch in einem (anderen) Gefängnis, war also räumlich getrennt, hatte also ein neues Lebensumfeld, machte neue Erfahrungen. Wie kann es sein, dass man dann nicht irgendwann „aufwacht“? Ein Mensch, der sich von einem Guru alles befehlen ließ, muss doch unabhängiger werden, sobald diese ständige Autorität weg ist. Oder verhindert vielleicht gerade das Gefängnis, wo diese Frau ja auch kaum eigene Entscheidungen zu treffen hatte, ein Selbständigwerden?
Gibt es so etwas öfters bei Sekten? Über so einen langen Zeitraum?
Aus meiner Sicht haben ganz viele Menschen den Wunsch, an etwas zu Glauben. Wenn der Wunsch nach „Glauben dürfen“ groß genug ist, können sich die abstrusesten Ideologien fest setzen, denen dann nicht mehr durch die Ratio beizukommen ist.
Das kann man in so unglaublich vielen Bereichen beobachten:
Menschen, die glauben wollen, dass
Windows XP das beste jemals gemachte Betriebssystem war und auf gar keinen Fall ein neueres benutzen wollen
Homöopathie ein „ganzheitliches" Naturheilverfahren sei, das gleichberechtigt neben der Medizin stünde
Lautsprecherkabel aus Silber anders klingen als Kabel aus Kupfer
kein Mensch auf dem Mond war
Deutschland „umvolkt“ werden soll
Adolf Hitler im Inneren der Erde lebt und den 4. Weltkrieg vorbereitet
die Erde ein Scheibe sei
ein mehrere Lichtjahre entfernte Stern einen größeren Einfluss auf ihr Leben habe, als das Krankenhaus und die Hebamme, die sie zur Welt gebracht haben
man mit einem Stöckchen „Wasseradern“ finden kann
es Wasseradern gibt
sie von transdimensionalen Wesen erschaffen wurden, diese Wesen ihr Leben bestimmen und sie dereinst zu diesen Wesen reisen dürfen
ihr Fußballverein der beste der Welt ist, obwohl er nur verliert und vom Abstieg in die vierte Liga bedroht ist
In der inneren Logik solcher Glaubensbilder, solcher Ideologien wird nicht selten die Rationalität als Feind definiert. Logische Argumente werden als Angriff erkannt, der dazu führen kann, dass der Glauben, die Ideologie sogar noch vertieft wird. Und so kann es aus meiner Sicht passieren, dass die gläubige Person sich noch fanatischer in ihren Glauben zurück zieht, wenn sie von ihrer Glaubensgruppe isoliert und nur noch von gegensätzlichen Meinungen umringt wird.
Deine Frage ist aus meiner Sicht weniger eine der Esoterik, denn eine der Psychologie.
Da gibts verschiedene Mechanismen, die ineinander greifen. Zum einen wird es schwer fallen, sich selbst einzugestehen, dass man einer völlig falschen Idee und völlig falschen Vorbildern anheim gefallen ist. Das würde das eigene Selbstbild schmerzhaft destabilisieren.
Erst recht, wenn man für diese Ideen und Vorbilder schwere Verbrechen begangen hat oder zumindest begehen wollte. Durch "Aufwachen" wird man von einem, der für "das Wahre" oder für "den Fortschritt der Menschheit" oder "die Verteidigung der eigenen Rasse" gekämpft hat, zum ganz banale Verbrecher. Die alten Rationalisierungen brechen zusammen, damit ein wichtiger Teil der eigenen Identität. Das greift weit in den Persönlichkeitskern hinein, und wie schwierig eine Veränderung dort ist, ist etwa von ehemaligen Terroristen gut bekannt.
Zum anderen werden diese Mädels (und Jungs) ja innerlich auf der Suche nach irgendetwas sehr Wichtigem gewesen sein, wenn sie sich Manson damals angeschlossen haben. Manson und seine Ideen können als (lebenslange) "Plombe" (das ist nicht meine Metapher, sondern ein Fachbegriff, der in der Kürze nicht gut zu umschreiben ist; vielleicht war der viele Sex und die sexuelle Gewalt eine ganz buchstäbliche Version dieser "Plombe") gewirkt haben für ein inneres Defizit bei ihnen, etwa ein tiefer Mangel an Anerkennung oder was auch immer.
Zum dritten hat es der charismatische Manson offenbar gut gekonnt, sehr starke Loyalitätsbindungen herzustellen. Bei manchen Menschen ist es sehr schwer, ihnen je den Rücken zu kehren, weil man das Gefühl hat, damit etwas sehr "Böses" zu tun. Manche missbräuchlichen Mutter-Sohn-Beziehungen funktionieren so und richten damit furchtbares Elend an.
"Manson & seine Family" zeigt ja schon, dass es wohl vorrangig um die Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen ging, und wohl gar nicht so sehr um den spezifischen Gehalt dieser ganzen Wahnideen.
Nein, weil ein "Guru" (im schlechtesten Sinn des Wortes) schnell (lebenslanger) Teil deiner inneren Objektwelt wird. Du schleppst den überall hin mit. Genauso wie du im Grund auch deine Eltern lebenslang mitschleppst. Den Eltern gegenüber haben die meisten Menschen aber eine ambivalente Haltung. Das eine finden sie gut an ihnen, das andere finden sie schlecht usw. Davon kann man sich unabhängig machen Ein "Guru" dagegen ist eine hochgradig idealisierte Figur.
Hallo Spontanphilosoph,
m.E. sind bisher sehr gute Antworten gefallen! Was ich noch hinzufügen möchte: eine Sekte hat auf alle, wirklich alle Fragen eine Antwort und bildet somit eine in sich geschlossene Weltsicht. Es kann gut sein, dass sich ein Sektenmitglied außerhalb seiner Sekte irgendwann von seinem Glauben abwendet, da spielen viele Faktoren eine Rolle. Will der Mensch allerdings in seiner Weltsicht bleiben, gibt es trotz einer andersdenkenden Umgebung kaum einen Weg hinaus. (wobei der Fall häufiger ist, dass Sektenmitglieder sich regelmäßig sehen, um sich gegenseitig im Glauben zu unterstützen).
Es gibt Therapeuten, die sich auf das Thema spezialisiert haben und die hierbei Erfolge verzeichnen, dabei muss das Sektenmitglied aber freiwillig zum Therapeuten gehen. „Deprogrammierungen“, d.h. zwangsweises Festhalten von Sektenmitgliedern mit dem Ziel, sie aus ihrer Gedankenwelt zu holen, werden meines Wissens nicht mehr gemacht.
Willst du in das Thema reinlesen, empfehle ich das Thema mit dem „Sektenbarometer“ von Schmid zu googeln, das wird in vielen wissenschaftlichen Arbeiten aufgegriffen und beschreibt die gesunde oder ungesunde Tiefe des Glaubens.
Außerdem empfehle ich (da es dir ja um das Warum geht) eine nicht ganz einfach zu bekommende Diplomarbeit mit hervorragend anschaulichen Beispielen von zwei Diplomandinnen namens Rauchfleisch und Rüf („Kindheit in religiösen Gruppen - zwischen Abgrenzung und Ausgrenzung“), die das schwere Gefangensein in der Sekten-Gedankenwelt und das Aussteigen dokumentieren. Es geht wie der Titel sagt, um die Kindheit in Sekten, aber generell ist das der beste und aufklärendste schriftliche Einblick in das Thema Sektengläubigkeit, den ich kenne.
Eine Diplomarbeit ist keine Dissertation (=Doktorarbeit). Letztere wäre über die Uni-Bibliothek zu beziehen, erstere befindet sich mit Glück noch im Zugriff des betreuenden Instituts (oder wie das an der jeweiligen Uni heißt).
Edit: anders als von Mira angegeben, ist es wohl doch eine Dissertation und über die Unibibliothek Köln bestellbar. Ich hoffe, der Link geht auch bei dir:
Danke Christa, ja es ist eine Dissertation, ich hatte mich verschrieben. Außerdem heißt die eine Autorin „Weibel-Rüf“.
Ich hatte es damals auch über einen wissenschaftlichen Versandservice von der Uni Köln gekriegt, bei allen anderen Unibibliotheken war das Buch gerade ausgeliehen, und meines musste ich nach einem Monat wieder hergeben wegen einer anderen Anfrage. Da hilft nur: kopieren.