Wieso trug Lazy Bill Lucas den Spitznamen Lazy

Hallo zusammen,

würde gerne wissen, wieso er diesen komischen Spitznamen trug,
da er auf Deutsch übersetzt faul bedeutet. Für einen so erfolgreichen Musiker passt der irgendwie nicht wirklich. Gibt es da irgendeine Hintergrundgeschichte?

Würde mich freuen, wenn mir da jemand helfen kann.

VG

Ayla

Servus,

ich glaube, dass Du hier den Begriff „erfolgreich“ 1:1 in die Chicago Blues Szene der 1940er Jahre übertragen willst. Das geht nicht. Blues ist nicht etwas, was man für DSDS oder irgendeinen Kasper von der Popakademie trainiert - Blues ist eine Lebensform.

Zum Leben im Blues gehören auch charakterliche oder körperliche Defekte, einer ist homesick, der andere blind, lazy kommt recht häufig vor; nicht wenige Spitznamen aus der Blues-Szene spielen auf kriminelle Karrieren oder mindestens einzelne Knastaufenthalte an: Iron Head Baker hat beim Holzfällen in Zwangsarbeit einen dicken Ast auf den Kopf gekriegt, sich ein wenig geschüttelt und dann weitergemacht.

Einer der größten Gitarristen des XX. Jahrhunderts heißt ausgerechnet Slowhand.

Eine scheinbare Ausnahme von dieser Bildung von pet names im Blues ist Champion Jack Dupree, aber auch bei diesem ist der Spitzname ein Hinweis auf eine Blues-Biographie: Ungeeignet für das, was „erfolgreiche Musiker“ unter ehrlicher Arbeit verstehen, stand er in den 1930er Jahren über hundert Boxkämpfen im Ring - d.h. auch bei ihm ist der pet name eigentlich ein Hinweis auf das verhauene Leben, das zum Blues gehört.

Hier, was zum Lesen:

Schöne Grüße

MM

  • vielleicht noch ganz am Rande was zum Thema „erfolgreicher Musiker“: Bis in die 1960er Jahre hinein war die Welthauptstadt des Jazz trotz der großen Anzahl der Musiker aus den USA Paris, schlicht weil die Musiker keinen Bock hatten, auf Bühnen aufzutreten, wo sie den für Lieferanten und Neger vorgesehenen Hintereingang benutzen mussten. Die Bedingungen für die Bluesnigger der 1920er bis 1950er Jahre waren nicht anders.

Ich hatte das Glück, Champion Jack Dupree gut ein Jahr vor seinem Tod nochmal in Göttingen zu erleben - er trat auf, bis er mit 84 oder 85 Jahren starb, schlicht weil er musste: Er hatte nix auf der Naht, weil er als funktioneller Analphabet (er konnte nicht nur keine Noten lesen, sondern auch Texte nur mit Mühe und der Spur nach) in allen Verträgen während seiner Karriere von Anfang bis Ende verarscht worden war. So sieht Erfolg im Blues aus.

Schöne Grüße

MM

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Hallo Aprilfisch,

vielen Dank für deine ausführliche Antwort.
Oje, dass ist ja furchtbar unter welchen Umständen die Bluesmusiker zu leiden hatten. Wir nahmen das vor langer Zeit auch im Musikunterricht durch (auch mit dem Jazz glaube ich), aber vieles davon habe ich wohl vergessen. Ich hatte Lazy Bills Namen auch nur auf einem Kalenderblatt gelesen, da er Ende Mai diesen Jahres seinen 100. Geburtstag gehabt hätte. Er war wohl auch der Leader Trios „Lazy Bill and His Blue Rhythms“. Von Blues selber habe ich leider nur wenig Ahnung, aber er wurde ja ursprünglich von den Afrikanischen Sklaven in den US-Südstaaten entwickelt. Gab es denn in den 1940ern wirklich keine erfolgreichen Bluesmusiker?

Das mit Claptons Spitznamen hat aber eher positive Hintergründe, wegen den gerissenen Gitarrensaiten und dem langsam klatschendem Publikum. Aber einer seiner Söhne ist ja mit 4 Jahren gestorben, das gehört wohl auch zum Blues.

Jedenfalls nochmals vielen Dank für deine Mühe

VG
Ayla

Aber ich würde dennoch gerne wissen, warum Bill angeblich so faul war, gibt es da irgendeine Hintergrundgeschichte?

VG
Ayla

Servus,

ich glaube kaum, dass es dazu eine konkrete Geschichte gibt. Eine „Eintrittskarte“ in die Szene brauchte man, und wenn man sonst keine geeigneten Eigenschaften, körperlichen oder charakterlichen Schwächen oder Fehler hatte, war „lazy“ eine wohlfeile Sache - wer geht schon gerne Kohlen ausliefern, ständig die Zweizentnersäcke auf dem Buckel ist nicht lustig, wenn es nix zum Frühstück gegeben hat. Dass „lazy“ der wohl häufigste pet name bei den Bluesniggern war, spricht dafür, dass es um eine Art „Joker“ geht.

Und „lazy“ war halt deswegen wohlfeil, weil es sich nicht ohne weiteres nachprüfen lässt - vgl. den schon erwähnten Bogus Ben Covington, der seinen pet name davon bezogen hat, dass er den Leuten lange Zeit vorgeschwindelt hat, er sei blind…

Und „lazy“ ist auch ein Ausdruck dafür, dass ab 1923, als das richtig losging mit dem Piano Blues, praktisch jeder, der in der Szene aktiv war, eben arbeitslos war: Da wird eine an sich (zumal für einen Schwarzen in den USA) sehr hässliche Situation mit dem Augenzwinkern des Blues „umgedeutet“ und (auch Ironie gehört zum Blues) das dumpfblöde Stammtisch-Gequake „die wolln ja garnich arbeiten, sach ich Dir“ von denen, auf die es zielt, zu einer Art Ehrenpunkt umgedreht.

Schöne Grüße

MM

Ach, und hier hab ich noch einen Tipp für Dich: Die „Großen“ des Blues aus dem XX. Jahrhundert sind inzwischen fast alle tot oder straight, d.h. tot für den Blues, aber es gibt noch ein paar ganz wenige, bei denen Du Blues atmen kannst.

Versuch doch mal, zu einem Auftritt von Paul Millns zu kommen. Paul Millns ist inzwischen Mitte Siebzig, er hat nie „gesund“ gelebt, wie sich das junge, straighte Leute heute vorstellen, man sieht ihm an, dass er nicht mehr jung ist und dass er sein Leben nicht sorgfältig umschifft hat, sondern mitten durchgegangen ist.

Wenn Du nicht so sehr weit weg von Mannheim wohnst, komm mal in Gehrings Kommode, wenn Paul Millns auch da hinkommt - die Kommode, selber eine Art Fossil, gehört zu seinem Stammrevier. Versuche, einen Platz ganz nah bei der Bühne oder (wenn es voll ist, geht das) am besten auf der Bühne zu bekommen. Der schmale, nicht mehr sehr stark erscheinende alte Mann betritt die Bühne, setzt sich vor das rote Piano, dem er einmal einen extra Song gewidmet hat, und in dem Moment, wo seine Finger Kontakt zu den Tasten bekommen, sieht das ungefähr aus, wie wenn ein frisch geschlüpfter Schmetterling sich entfaltet: DerTonus kommt in den Körper zurück, das Piano pumpt ihn mit seiner Lebenskraft auf, und dann folgt sowas:

'It’s time for some insurance /
some medication, too /
when even the Prime Minister /
is younger than you! /
You’re old enough to know -
you’re old enough to know!"

Und natürlich ist Paul Millns bei allem kein Ami, sondern pretty English - das passt besser.

Schöne Grüße

MM

Hallo Aprilfisch,

vielen Dank für die weiteren Erklärungen. Ja es gab mehrere Lazys steht ja im Artikel. Echt schlimm, wie es damals zuging, aber die Afroamerikaner werden leider immer noch unterdrückt. Da musste sich Bogus aber einiges einfallen lassen, was sagten denn die Leute als er aufflog?

Das Video von Paul ist super, leider wohne ich ziemlich weit weg von Mannheim, er ist dort laut der Homepage Anfang April zuletzt aufgetreten, aber ich versuche es mal in ein Konzert zu schaffen. Aber er ist weiß und nicht schwarz, da hatte er ja nicht so große Schwierigkeiten, oder?

VG
Ayla

No ja - wenn Du den verlinkten Artikel aus dem „Irishman’s diary“ gelesen hast, hast Du ja gesehen, dass es grundsätzlich zu einem Leben im Blues gehört, dass man Schwierigkeiten hat. Im Blues lebt keiner ‚straight‘, und wenn er es tut oder versucht, kommt nix Gutes dabei heraus, vgl. Elvis Presley.

Zwischen Lazy Bill Lucas und Paul Millns liegen nicht nur knapp dreißig Jahre, das sind völlig verschiedene Generationen, sondern auch der Atlantik - zwar haben sich die Briten im Empire und später im Commonwealth durchaus auch nicht immer als Engel aufgeführt, aber die strikte „Rassentrennung“ und Ausstattung von Bürgern verschiedener Hautfarben mit unterschiedlichen Rechten gab es im XX. Jahrhundert in Großbritannien nicht. „Segregation“ funktioniert in UK anders - wenn Du jemanden von einem britischen Golfclub fragst, ob er Dir sagen könnte, warum es in diesem Club nur Weiße gibt, obwohl doch bei den Gutsituierten in seiner Stadt alle Hautfarben des Commonwealth vertreten sind, sagt er sowas wie ‚Well, I don’t know - it just happens!‘.

Zwischen Bill Lucas und Paul Millns sind u.a. Malcolm X und Martin Luther King geboren, ungefähr gleich mit Paul Millns Angela Davis. Wer diese Leute sind und welche Bedeutung sie für die soziale Stellung von Afroamerikanern in den USA haben, kannst Du leicht selber recherchieren. Sehr wichtig war für diese Entwicklung die Zeit ca. 1965 - 1970, und ob jemand sich persönlich zum gleichberechtigten Bürger entwickeln konnte oder eben als Person trotz sehr zögerlich gewährter Gleichberechtigung Nigger blieb, hängt stark davon ab, in welchem Lebensalter er diese Zeit (als Zeitzeuge oder auch als Akteur) erlebt hat.

Wie auch immer: Im Blues war es umgekehrt, da mussten Weiße erstmal beweisen, dass sie überhaupt Blues singen und spielen konnten - in der Szene hieß es noch in den 1940er Jahren, das sei für einen Weißen ganz unmöglich - Weiße hätten weder das nötige „Kehlkopf-Timbre“ noch das nötige Feeling. Vor Johnny Winter (weißer geht’s nicht! - und bluesiger kaum) muss man Weiße im Blues auch sehr suchen. In der Blues-Szene der 1930er Jahre hätte Johnny Winter übrigens ziemlich wahrscheinlich einen pet name bekommen, der auf seinen Albinismus anspielt, „paleface“ oder sowas.

– Nebenbei: Wenn Du Paul Millns noch hören möchtest, solange er noch auftritt, muss das natürlich nicht unbedingt in Mannheim sein; aber es gibt schon Orte, die für Blues besser oder weniger gut geeignet sind; die Akustik macht es dabei gar nicht so sehr aus. Das sind solche Plätze wie die Gigelberghalle in Biberach (wo ich Champion Jack Dupree das erste Mal gehört habe) und die Stadthalle in Heidelberg (wo Johnny Winter einen seiner letzten großen Auftritte hatte).

Schöne Grüße

MM

Hallo Aprilfisch,

ja das ist schon schlimm mit der „Rassentrennung“, ist in den USA leider immer noch aktuell. Hatten wir natürlich alles in Geschichte und Religion, wobei wir in erster Linie über Dr. King gesprochen haben.

Klar Weiße müssen sich immer in den „schwarzen“ Musikgenres beweisen, dass war z.B. auch bei George Michael so. Als er 1989 2
American Music Awards und den Grammy in der Kategorie Rythm and Blues für I Knew You Were Waiting (For Me) bzw. sein Album Faith erhielt, gefiel das auch nicht allen „Schwarzen“. War auch einer der ersten Weißen (oder sogar der erste), der in dieser Kategorie ausgezeichnet wurde.

Aber Johnny Winters Stimme ist wirklich super tief, hört sich an, als wäre er „schwarz“. Da konnte er sich sicher schnell etablieren. Schade, dass er so jung gestorben ist.

Oje Biberach ist ja fast an der schweizerischen Grenze, das ist zu weit weg. Muss mal sehen, wie ich das hinbekomme.

VG
Ayla

Servus,

???

Johnny Winter ist 2017 im Alter von siebzig Jahren gestorben, das ist - zumal für sein Leben - ein ziemlich hohes Alter. Und seine Stimme, zwar rauh und oft ein wenig heiser, kann man ganz sicher nicht als Bass bezeichnen.

Und nochmal: „Etablieren“ und „beweisen“ gehören nicht zum Blues.

Mehr hören, weniger verbal drüber denken!

Schöne Grüße

MM

Hallo Aprilfisch,

klar ist 70 Jahre schon ein schönes Alter, aber heute werden so viele Leute über 80 oder sogar über 90, unsere durschnittliche Lebenserwartung liegt doch bei Mitte 80, deshalb ist die Zahl 70 für mich irgendwie nicht so alt.

Keine Bassstimme, dann aber mindestens Bariton oder gibt es noch etwas dazwischen?

Ja der Blues ist schon eine spezielles Genre, ist glaube ich auch was ganz anderes als Rhythm and Blues, da gibts viele erfolgreiche SängerInnen.

VG
Ayla

Zu den „Markenzeichen“ von Johnny Winter gehörte ein recht großer Stimmumfang „nach oben“, mit dem er mit der Gitarre gleichziehen konnte, ohne schrill zu wirken. Hier, horch mal - so klang JW in seinen guten Zeiten:

Erst in seinen letzten Jahren wurde ihm die Stimme etwas brüchig. Auch kein Wunder, weil Blues eben nicht - wie bereits ausführlich beschrieben, auch der Text von Paul Millns zum Thema Krankenversicherung ist nicht zufällig gewählt - optimale Versorgung in jeder Hinsicht bedeutet, sondern eher das Gegenteil. Blues kann man nicht machen, wenn man eine hübsche Privatpatientenpolice und ein noch hübscheres Altersversorgungspaket hinten hat. Wenn „straighte“ Leute Blues singen und spielen, wird daraus ein furchtbarer Kitsch.

JW hat in seinem Leben kaum eine Droge ausgelassen, bereits sein Album „Still alive and well“ erschien 1973 nach einer dreijährigen Pause, die notwendig war, um nicht völlig abzuschmieren. Wenn Du mal anschaust, wie er ab ca. 2005 bei Auftritten und bei Interwiews wirkte, merkst Du gleich, dass es für ihn hohe Zeit war, sich zu verabschieden: Nach einem Leben, das vielleicht nicht so lang dauerte wie das von Jeanne Calment, aber in dem doch sehr viel mehr drin gewesen war als in ihrem.

Schöne Grüße

MM

Hallo Aprilfisch,

das Video ist super, er hat wirklich einen super Stimmumfang. Aber das Problem mit Drogen und Alkohol zieht sich ja leider durch alle Genres, hat auch oft damit zu tun, dass viele nicht mit ihrem Erfolg parat kommen aber auch natürlich in der Szene überall drankommen. Hab sein letztes Interview bei Youtube gefunden, da sieht er echt schlimm und seine Stimme ist wirklich nicht mehr die beste.

Er hat wie alle großen Künstler Großes geleistet und ist wie viele Große viel zu früh gestorben. Aber ihn mit Jeanne Calment zu vergleichen ist schwierig, jeder lebt ein anderes Leben auch wenn sie reich geheiratet und finanziell ausgesorgt hatte. Dafür überlebte sie ihren Mann, ihre Tochter und sogar ihren Enkel, die beide jung starben, sowie 2 Weltkriege, sie hat bestimmt auch viel Leid erfahren. Dazu kommt, dass sie am Ende ihres Lebens lange schwer krank war. Das können wir glaube ich gar nicht so beurteilen.

VG
Ayla