Hallo Norah,
Du hast natürlich recht.
Du auch
Im Ernst: Ich mag Elias gerne, und Duerr eigentlich gar nicht, bin aber durchaus der Meinung, dass Duerr einige wunde Punkte der Zivilisationstheorie erkannt hat:
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den Eurozentrismus-Vorwurf halte ich tendenziell für zumindest nicht unbegründet
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den Soziologismus-Vorwurf (also den des Vergessen des anthropologischen Anteils an der Scham) halte ich als Kritik ebenfalls für nicht ganz unbegründet
(auch wenn ich wiederum Duerrs positive Konzeption der Funktionen des Schamgefühls etwa bei der Codierung der sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau keineswegs mitgehe…)
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den Vorwurf, Elias habe die mittelalterlichen Quellen aus ihrer Stellung im Zusammenhangsmechanismus der Kunst unreflektiert herausgelöst und dabei übersehen, dass sich viele Darstellungsformen von Nacktheit etwa nur im Sinn-Rahmen der Kunst finden lassen, und auch im MA nicht davon ablösbar waren.
Diese Kritik halte ich für sehr berechtigt.
Andererseits habe ich Dürr auch
desalb nicht erwähnt, weil er sich recht simpel (und mit den
Argumenten der Zivilsationstheorie) widerlegen lässt. Ich
persönlich halte ihn nicht für einen „guten“, d.h. überzeugend
argumentierenden Gegner, im Gegenteil erreicht er häufig das
Gegenteil, d.h. er möchte Elias Thesen stürzenm stützt sie
aber stattdessen.
Ein Beispiel:
Dürr argumetiert die Existenz des Schamgefühls anhand eines
Gesetzestextes aus dem …? Jahrhundert (kann ich so aus dem
Kopf jetzt nicht sagen - Mittelalter wäre meine Vermutung),
welche die Nacktheit, d.h. das öffentliche Zurschaustellen der
Nacktheit mit drakonischen Strafen belegt.
Argumentation Dürr hier: Weil es Gesetze gegen Nacktheit gab
war diese schon immer (oder zumindest schon zu dieser Zeit)
stark tabuisiert.
Argumentation Elias: Gerade die Härte der angeführten Strafe
zeigt, unter welch großem Fremdzwang den Menschen damals den
Körper zu verstecken lernten. Durch die Internalisierung
dieses Fremdzwanges wurde er zum Selbstzwang und das Objekt
dieses Zwanges (Nacktheit) mit Gefühlen von Scham und
Peinlichkeit belegt. Und gerade weil das so ist, sind die
Gesetze zur öffentlichen Zurschaustellung der Nacktheit heute
wesentlich milder - sie müssen nicht mehr so drastisch sein,
da die Menschen „gelernt“ haben, dass es ihnen peinlich ist,
nackt zu sein.
Genau das aber halte ich für ein Grundproblem der Zivilisationstheorie.
Als ich oben die Zeilen zur „Kunst“ geschreiben habe, ist mir assoziativ eingefallen, dass eigentlich (zumindest meines bescheidenen Überblicks über die Kunstgeschichte nach) Goyas „Maja desnuda“:
http://www.strambotica.com/blog/data/upimages/goya_m…
vielleicht die erste Darstellung völliger Unbekleidetheit war, also die erste Darstellung einer Frau, die nicht einmal den „Schleier der Göttlichkeit“ (also die künstlerische Kennzeichnung, dass die dargestellte nackte Frau keine begehrbare Frau, sondern eine per se sinnlich unbegehrbare Göttin ist) trägt.
Dann habe ich mir gedacht: Führ das lieber nicht an, denn die Zivilisationstheorie würde sagen: ja, aber das spricht eben gerade für die Erhöhung der Schamschwellen, weil der Körperscham eben erst im 18. Jhdt. so weit zum Selbstzwang geworden ist, dass eben der Fremdzwang „göttlicher Schleier“ wegfallen konnte (so ähnlich wäre doch das richtige Argument?)
Mein Problem mit der Zivilisationstheorie ist die Tatsache, dass sie einfach jedes empirische Faktum integrieren kann.
Lässt sich eine eine zukünftige Entwicklung denken, welche grundsätzlich nicht in die Zivilisationstheorie mittels Selbstzwang-Fremdzwang-Informalisierung-Reformalisierung integrierbar wäre? (höchtens eine „Katastrophe“, also ein Zusammenbruch des -abendländischen?- Zivilisationsprozesses, durch was weiß ich die Weltherrrschaft der Islamisten oder so.)
Anläßlich einer sozialpsychologischen Hausarbeit zu Norbert Hohls Artikel „Die zivilisatorische Zähmung des Subjekts“ in Keupp: „Zugänge zum Subjekt“ habe ich mal folgendes Fazit gezogen, vielleicht interessiert es Dich ja. Ich kopier es einfach mal rein:
Der Zivilisationstheorie mangelt es - an Theorie. Was Hohl als „Mut zur Theorie“ bezeichnet, erscheint uns nicht viel mehr zu sein als eine sonderbare Form von „induktiver Metaphysik“. Wie Hohl ja auch sagt, belässt es Elias nicht beim Sammeln von Einzelbefunden, sondern integriert diese zu einem theoretischen Gesamtkonzept (S. 51). Diese Vorgehensweise erscheint uns als „dogmatischer Empirismus“. Elias scheint zu glauben, man könne die Befunde vor der Theorie haben, könne „untheoretische“ Befunde post festum theoretisieren. Tatsächlich aber erhält er diese empirischen Daten nicht als Gegebene, sondern als von anderen Theorien (Marxismus, Psychoanalyse, etc.) Genommene. Und zwar - und das ist der Ort unserer Kritik - als unreflektiert Genommene, weil nicht in theoretischer Abarbeitung mit diesen Theorien geschehen. Gestützt finden wir unsere These dadurch, dass Hohl [als Elias-Adept]in seinem Aufsatz völlig unproblematisch zu Marx, Adorno, Freud greift, wie es ihm gerade beliebt, ohne theoretische Spannungen zu erzeugen, aber auch dadurch, dass die Zivilisationstheorie unserer Meinung nach mit großen terminologischen Schwierigkeiten belastet ist, viele ihrer Begriffe mit expliziten oder impliziten Anführungszeichen versehen muss [z.B. die „Natur“, welche jedoch in der Zivilisationstheorie nicht schlich Natur meinen darf, sondern ein unterbestimmter Gegenbegriff zur „Zivilisation“ ist]. Dazu kommt, dass -wie es uns erscheint- alles in die Theorie integrierbar ist. Hohl sieht dies selbst, wertet dies allerdings positiv als Zeichen der großen Integrationskraft der Theorie. Wir würden die Zivilisationstheorie lieber als gigantische Tautologie werten, die alles einbezieht, aber nichts herausgibt. Wie selbstverständlich greift Hohl in der Frage der „Lockerungen der letzten Jahrzehnte“ zu Elias’/Wouters Informalisierungs-These, wie selbstverständlich bei den „allerneuesten Gegentendenzen zu den Lockerungen“ zur „Reformalisierung“ (S. 33). Wie selbstverständlich kann er Duerrs Gegenthesen „gegen den Strich lesen“ - um sie zu Bestätigungen der Zivilisationstheorie zu machen. Und ja auch „Hexenverfolgung“ und „Judenvernichtung“ sind nach Hohl grundsätzlich mit der Zivilisationstheorie vereinbar (S. 45), wenn auch nach Hohl nur unter einigen Korrekturen. Unserer Meinung nach sind die angführten Korrekturen aber nicht einmal erforderlich. Was immer die historische Großwetterlage bringen will - die Zivilisationstheorie hält.
Viele Grüße
franz