Moin,
schön, dass du die Gegenposition einnimmst, dann kann ich
besser erklären, was ich meine. Deine Auffassung verstehe ich
als allgemein übliches Verständnis des Themas.
Vielleicht wäre es hilfreich, wenn du hier deine Definition von „Wert“ in abgrenzung zum Beispiel zum Begriff „Bedürfnis“ darlegst, nur damit man nicht aneinander vorbei redet.
Werte können keine Handlung anstoßen.
Doch, sicher. Wenn Hilfsbereitschaft für jemanden z.B. ein
Wert ist, dann wird dieser spontan für jemanden die Tür
öffnen, der schwer bepackt davor steht, oder in der Bahn für
einen Menschen aufstehen, der offensichtlich nicht gut auf den
Beinen ist, und ihm seinen Platz anbieten.
Meine Erklärung für dieses Verhalten ist so, dass es ihm aus
welchen Gründen auch immer ein Bedürfnis ist, zu
helfen, es ihm vielleicht sogar Freude macht und er
abgesehen davon auch den Wert „Hilfsbereitschaft“ gutheißt.
Werte sind häufig etwas, was dem „normalen Egoismus“ zuwider läuft. Natürlich ist es für einen selbst erstmal bequemer und angenehmer, einfach auf seinem Platz sitzen zu bleiben. Der Wert „Hilfsbreitschaft“ lässt den Handelnden jedoch über seinen Egoismus hinauswachsen. Warum sollen Werte als Handlungsauslöser nicht auch Freude verursachen? Vielleicht schmerzen dem Stehenden nach einer Weile die Beine oder er wird in der U-Bahn hin und her geworfen. Denoch wird er vermutlich Freude empfinden, weil er dies der anderen Person erspart hat oder sich einfach über seinen „inneren Schweinehund“ zugunsten seiner Wertevorstellung hinweg gesetzt hat.
Man könnte allerdings darüber diskutieren, ob Werte und das Handeln nach Werten nicht ein Bedürfnis „an sich“ sind und dem Individuum einen Rahmen und ein Ziel gibt, über sich (also den normalen Egoismus) hinaus zu wachsen. Selbst Kriminelle leben häufig nach einem „Wertekodex“.
Die Wertvorstellung löst aber die Handlung nicht aus, sie
begleitet die Handlung nur. Ich behaupte, dass er die Hilfe
unterließe, wenn diese bepackte Person ihn vorher beschimpft
hätte. Wenn das so ist, dann kann er nämlich offenbar trotz
seiner Wertvorstellung anders handeln. Sein Bedürfnis hat sich
geändert, die Freude bliebe aus.
Natürlich ist es gar kein Problem, auch gegen den persönlichen Wertekodex zu handeln. Schließlich sind es ja nicht nur Werte, die unser Handeln beeinflussen oder verursachen, sondern eben auch der bereits genannte Egoismus oder persönliche Bedürfnisse, Bequemlichkeit, Emotionen und persönlichen Ziele, die z.B. auch Tiere zu bestimmten Handlungen bewegen.
Zum Beispiel kann jemand, der normalerweise den Wert „Hilfsbereitschaft“ nicht sonderlich hoch schätzt und zum Anlass seines Handelns nimmt trotzdem aufstehen und die Tür aufreißen, wenn z.B. sein Chef sich nähert, weil er sich dadurch einen Vorteil bei seinem persönlichen Ziel (Karriere) verspricht. Das Handeln allein lässt also nicht unbedingt einen Rückschluss darauf zu, ob dem Handeln wirklich ein Wert oder nicht etwas ganz anderes zugrunde liegt (siehe auch z.B. Menschen, die im Helfersyndrom gefangen sind)
Doch, sicher. Wenn jemand z.B. die Wahl hat, ob er
Zigarettenkippen in die Gegend wirft, oder sie bis zum
nächsten Mülleimer aufhebt, um sie dort zu entsorgen, dann ist
der Wert „Schutz der Umwelt“ die Richtlinie, die dem Handeln
zugrunde liegt. Viele Menschen Handeln nach Werten, die weit
über das hinaus gehen, was z.B. vom Gesetzgeber gefordert
wird.
Hier hat er das Bedürfnis , die Umwelt sauber zu halten,
oder sich selbst als vorbildlich zu sehen.
Es gibt Menschen,
die z.B. Zigarettenkippen zum Mülleimer tragen, aber ein Auto
fahren, dass viel Abgase produziert. Wie ist es möglich,
widersprüchlich zu handeln, wenn Werte das Handeln bestimmen?
Rauchen selbst kann man schon als Widerspruch zum Umweltschutz
sehen.
Dieses Bedürfnis besteht aber nur deshalb, weil derjenige die Umwelt sauber zu halten als Wert ansieht. Vermutlich haben viele Menschen das Bedürfnis nach einer sauberen Umwelt. Wer lebt schon gerne auf einer Müllkippe. Allerdings handeln sie nicht entsprechend, weil der Wert „Schutz der Umwelt“ bei ihnen nicht ausreichend entwickelt ist, so dass er Handeln aus Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit ersetzen könnte.
Sehr schön erkennt man diese Zusammenhänge zum Beispiel daran, dass viele Menschen alles mögliche (z.B. eine saubere Umwelt) als Bedürfnis haben, aber wenn es darum geht, dass sie selbst etwas dazu beitragen sollen, das auf Kosten ihrer Bequemlichkeit geht, dann überwiegt das Bedürfnis der Bequemlichkeit.
Je nachdem wie stark ein Wert in einerm Menschen verankert ist, wird er sich auch gegenüber Handlungen, die anders motiviert sind (z.B. durch Bequemlichkeit oder sogar den Überlebenswillen) durchsetzen. Es gibt z.B. Menschen, die sich eher einsperren oder sogar töten lassen, als einen anderen Menschen zu töten. Hier wiegt der Wert „Schutz von Menschenleben“ sogar höher als das eigene Leben.
Für die meisten Handlungen muss man sich weder rechtferigen,
noch kann man damit irgendwen manipulieren. Letztendlich muss
der Mensch sein Handeln vor sich selbst rechtfertigen.
Vor wem er es rechtfertigt, vor anderen oder vor sich selbst,
ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Handlungen nicht
willkürlich aussehen, sondern einer Art Theorie folgen, also
sinnvoll sind und allgemein anerkannten Werten entsprechen.
Genau. Wie ich aber bereits unten Ausführte, dienen Werte dann nicht der Rechtfertigung, sondern dienen als Maßstab. Näheres siehe unten.
Dies
setzt aber voraus, dass er bestimmte Werte für sich anerkennt
und sich bemüht entsprechend zu handeln. In diesem Fall dienen
Werte nicht der Rechtfertigung, sondern sind im Gegenteil der
Maßstab, an dem sich Handeln messen lassen muss.
Da gebe ich dir Recht. Ich stelle aber dar, dass diese
Bemühungen und dieser Maßstab Illusionen sind.
Keineswegs. Wenn jemand z.B. als Wert „Schutz der Umwelt“ habe, und dennoch mit dem Auto zum Laden um die Ecke fahre, statt mit dem Fahrrad, dann kann er dies z.B. mit meiner momentanen Bequemlichkeit, seinem derzeit kaputten Fahrrad oder einer vorübergehenden körperlichen Einschränkung, die das Fahrradfahren unmöglich macht, rechtfertigen. Wenn ihm der Wert „Schutz der Umwelt“ aber wirklich etwas bedeutet, dann wird er dies vielleicht zum Anlass nehmen, sein Fahrrad zu reparieren oder sich vornehmen, beim nächsten Mal seinem inneren Schweinehund nicht nachzugeben. Hier wird sowohl der Maßstab (Schutz der Umwelt), als auch das Bemühen durch z.B. die Reparatur des Fahrrads, um das nächste Mal mit dem Fahrrad zu fahren, sehr konkret und keineswegs illusorisch.
Sie konstruiert nur eine Theorie, in der die Handlungen
sinnvoll und konsistent erscheinen. Gehandelt wird nach
Bedürfnissen und Interessen, begründet wird mit Werten.
Wie gesagt, Gründe für eine bestimmte Handlungsweise können sehr unterschiedlich sein. Werte sind nur einer der möglichen Gründe, neben Bedürfnissen wie z.B. Bequemlichkeit oder Interessen wie z.B. Karriere.
Die Gesetze bilden das Bedürfniss nach Sicherheit und Ordnung
ab.
Sie gehen konform mit einem TEIL unserer Werte, was kein
Wunder ist, da es für alles die passenden Werte gibt.
Genau. Das ist das, was ich als gesellschaftlichen Mindestkonsens bezeichnet habe. So findet sich hier z.B. keine Spiegelung der Hilfsbereitschaft in dem Sinne, dass irgendwer gezwungen ist, für jemand anderen seinen Platz im Bus freizumachen. Der Mindestkonsens ist jedoch, dass es z.B. speziell gekennzeichnete Sitzplätze für Behinderte geben muss, die auf Verlangen freizumachen sind.
Ja, so läuft es. Aber weder der Politiker noch der Wähler
halten sich konsequent an die Werte, die sie hochhalten. Jeder
Politiker würde sagen, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit seien
ihm wichtig und doch gibt es korrupte Politiker. Jeder Wähler
würde sagen, Freiheit sei ein guter Wert und doch gibt es
Wähler, die z.B. ihre Angestellten oder Kinder unterdrücken
und herumkommandieren. Auch hier sieht man, dass man sich zu
Werten bekennen, aber doch anders handeln kann, weil Werte
eben das Handeln nicht bestimmen.
Ich bin auch nicht der Annahme, dass die Werte, denen jemand folgt, an dem festzumachen sind, was er sagt , sondern nur an der Art und Weise, wie er handelt. Gerade dann, wenn es eine Diskrepanz zwischen Handeln und proklamierten Werten gibt, dann sollte man schon genauer hinschauen, ob hier nicht andere Handlungsmotive eine Rolle spielen. Man müsste diese Personen also mal fragen, wie sie ihr Verhalten rechtfertigen (und hier die proklmierten Werte als Maßstab nehmen).
Das muss nicht so sein. Jemand, der von seinen Werten wirklich
überzeut ist, wird eher Reue empfinden und den Vorsatz fassen,
sich beim nächsten Mal anders zu verhalten.
Auch dies räume ich ein. Aber das ist eher der Schmerz
darüber, dass die Theorie nicht aufgeht. Wie gesagt, die
Menschen haben ein Bedürfnis nach einer stimmigen Theorie
ihres Handelns.
Da könnte man es sich dann ja einfach machen und gleich auf jegliche Werte verzichten und z.B. einzig Bequemlichkeit und direkten Eigennutz zur Grundlage des eigenen Handelns machen. Beim Ziel einer „stimmigen Theorie ihres Handelns“ sind Werte eher im Weg, da der Mensch immer wieder in Situationen geraten wird, wo er sich motiviert sieht, entgegen seinen Werten zu handeln und so in Konfliktsituationen gerät.
Gruß
Marion