in einer Handschrift aus dem Jahr 1900 beschreibt der Verfasser Sitten und Gebräuche, Wohnsituation, Kleidung, Arbeitsgeräte etc. in einem württembergischen Dorf am Fuß der Schwäbischen Alb.
Teilweise sind diese Ausführungen so stichwortartig und knapp, dass sie heute, nach rund 120 Jahren, mehr Fragen aufwerfen als beantworten.
Dies trifft auch auf die im Folgenden zitierten Zeilen zu, in denen ohne weitere Erläuterung Begriffe aufgelistet werden, die offenbar die Bestandteile eines damaligen Zugpferdegeschirrs waren:
Zum Begriff „Kummet“ lässt sich im Internet u. in der Literatur vieles finden, auch gutes Bildmaterial.
Zur „Schmierbüchse“ konnte ich herausfinden, dass es sich „um eine hölzerne Büchse mit einem Deckel“ handelt, „worin sich das Wagenschmier befindet, und welche auf der Reise unten an den Wagen gehängt wird; […]“.
[ Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 1574. Digitalisierte Fassung unter http://www.zeno.org/Zeno/0/Suche?q=Schmierbüchse&k=Bibliothek ]
Sehr schwierig wird es aber bei den übrigen Begriffen:
Was ist ein „Scheibenzaum“? Ein Zaum mit Scheiben am Gebiss?
Sind „Messingrosen“ rosenähnliche Zierelemente aus Messing? Wo waren diese befestigt?
Was ist in diesem Kontext mit „Kamm“ gemeint? Wo befand sich dieser? Als „Steckkamm“ in der Mähne?
Was hat es mit dem „roten Schal“ und der „Dachsdecke“ (= Dachsfell?) auf sich? Wo und wie waren sie befestigt?
Was sind „Rosenriemen“? Wo am Geschirr befanden sie sich? Welche Funktion hatten sie?
beim Rosenriemen bin ich sicher, dass es sich um einen reinen Schmuck ohne Funktion handelt: an den sichtbaren Außenseiten ans Kummet gehängt, ursprünglich ging es da um Reservematerial vergleichbar mit im PKW mitgeführten Ersatzreifen - das ist beim Rosenriemen aber stilisiert, oft mit runden Messingbeschlägen „Rosen“ verziert.
Weils so schön ist: Vinzenz Danner senior, lange Jahre der älteste Teilnehmer am Biberacher Schützenfestzug, hat regelmäßig die Schwedenkanone im „Historischen Umzug“ vierspännig mit Belgisch Kaltblut gefahren, mit allem Brimborium am Geschirr, das zu einem Festgeschirr gehört. Berühmt wurde der Tag, wo er nach einigen Halben Adlerbräu Moosbeuren am Ende den Parkplatz mit dem Pferdeanhänger nicht mehr gefunden hat und dann kurzerhand zu Ross mitsamt Kanone (natürlich ein harmloses Modell) und nagelbeschlagenen Holzrädern über die Landstraße nach Schussenried heimgefahren ist…
Messingrosen sind Verzierungen zB am Kopfstück oder am Kumt (Kummet)
Den Schal zog der Kutscher an - bei den Kutschfahrern gibt es (auch heute noch) sehr genaue Kleidungsvorschriften. Erstens ist es durch den Fahrtwind immer kalt auf dem Bock, wenn nicht gerade Hochsommer ist. Da es üblich ist, eher gedeckte zur Kutsche passende Farben zu tragen, wird ein roter rote Schal eher von einfachen Leuten getragen worden sein - womöglich gab es damals nur bestimmte Fahrer, die einen ROTEN Schal tragen durften (Kohlefahrer, Milchwagen, Postkutsche oder sowas )
Dachsdecke - aus der Kleidervorschrift zitiert:
„Es gehört sich, dass der Fahrer eine Bockschürze oder –decke anlegt, die umgeschnallt wird und etwa zwanzig Zentimeter über den Schuhen endet und aus einem Stoff gemacht ist, der zum Wagen passt“
Wenn die aus Dachsfell und damit halbwegs wasserdicht ist - um so besser
Kamm bzw. Kammdeckel ist ein Teil der Anspannung, die über den Widerrist (den Kamm) des Pferdes geht - an dem sind Ringe befestigt durch die die Leinen geführt werden
Scheibenzaum da gibt es zwei Möglichkeiten
ein Trensengebiss, das seitlich vom Pferdemaul mit einer Scheibe begrenzt wird, damit der Ring nicht ins Maul gezogen werden kann (was sonst lustige bzw. gefährliche Reaktionen beim Pferd auslösen kann) heute wird üblicherweise (aus Sicherheitsgründen) auf Kandare oder sonstigen Stangengebissen gefahren - Trensengebisse sind mittlerweile eher unüblich, aber WENN mit Trensengebiss, dann eben mit Scheiben dran
ein Gebiss, das eine im Maul auf der Zunge liegende Scheibe hat, um das Pferd daran zu hindern die Zunge über das Gebiss zu nehmen und damit unkontrollierbar zu werden (das ist beim Reiten schon gefährlich aber mit einer Kutsche hinten dran ggf. tödlich für alle Beteiligten)
evtl. sind mit den Scheiben auch die Scheuklappen gemeint, die seitlich am Zaumzeug auf Augenhöhe befestigt sind um den Pferden das Sichtfeld einzuschränken
Gruß h.
P.s. einige der Vorschriften zur Kleidung klingen kleinlich sind aber oft eine Frage der Sicherheit Bockdecke - damit man die Leinen nicht versehentlich unter die Füsse bekommt und sich verfängt
Handschuhe - weil die Lederleinen sehr schnell rutschig werden, wenn sie nass werden
Hut - gegen Sonnenstich und Regen
Peitsche - um die Pferde besser steuern und ggf. auch mal antreiben zu können
es war nicht einfach, zu diesem sehr speziellen und völlig aus der Zeit gefallenen Thema fündig zu werden. Durch einen Hinweis aus einem Pferdeforum bin ich auf ein Buch gestoßen, das alle meine Fragen ausführlichst beantwortet.
Hier die Ergebnisse (in leicht gekürzter Form):
Scheibenzaum / Messingrosen:"[…] Auf den ländlichen Genre-Bildern und den Darstellungen von Festumzügen […] besteht der [Geschirr-]Schmuck hauptsächlich aus verschieden großen Randscheiben, Rosen, Ringen, Schiebern und Schnallen aus Messing, farbigen Bändern, Schals und Maschen in allen Breiten und Längen. […]"
Kamm: "Ursprünglich ein beinerner oder eiserner Kamm, der zum Kämmen von Mähne und Schweif verwendet wurde. Später, gefertigt aus Messing, wurde er zum Zierstück und wird auf der Außenseite des Kumt [= Kummet] befestigt. Die heute verwendeten Zierkämme […] aus sprödem Messingguss […] können nicht mehr zum Kämmen verwendet werden […]. Der Schmuckkamm ist jetzt auf einem Lederstück aufgesteckt. […] Der Kamm ist […] am Kumtholz befestigt. […]"
Schmierbüchse: "Die Schmotzbüchse ist mit einem Lederriemen auf der Innenseite des Kumts [= Kummets] des Zaumgaules [siehe Anm. unten!] zwischen innerem Hörnle und dem inneren Zügelring bzw. der Schwanzriemenschnalle eingeschnallt. Die Schmotzbüchse enthielt ursprünglich Dachsfett zur Behandlung von Geschirrdrücken, sie entwickelte sich von einer verschließbaren Büchse mit Klappdeckel zu einem Zierstück. […]"
roter Schal: "Ein […] markantes Schmuckstück des Hand- und Zaumgauls [siehe Anm. unten!] ist der hochrote Schal. Größe des Schals ca. 30 x 110 cm. […] Der lange Teil des Schals hängt an der Kumtaußenseite herunter, ist unten ausgebreitet und mit ein paar Stichen am Dachsfell festgemacht, damit er nicht allzu sehr flattert. […]"
Dachsdecke: "Die Dachsdecke wird gleichermaßen vom Hand- wie vom Zaumgaul [siehe Anm. unten!] getragen. Das Dachsfell hängt mit dem unteren Teil auf der Außenseite des Kumt herunter. Durch die Maulöffnung und durch ein Augenloch […] wird das Dachsfell auf die Kumthörnle aufgesteckt. […] Das ungegerbte Dachsfell wurde ursprünglich zum Einfetten von Pferdehals und -Brust bzw. Kumtinnenseite gegen Drücke mitgeführt. Wenn der Dachs kurz vor Beginn des Winterschlafs erlegt wurde, war auf der Fellinnenseite eine Fettreserve, die gut ein Jahr für das Einfetten ausreichte. […]"
Damit lagst Du absolut richtig!:
Rosenriemen: „Ein besonderer Geschirrschmuck der rechts laufenden Gäule ist der Rosenriemen. Ursprünglich war es wohl ein ca. 20-25 cm breites und 80-100 cm langes Stück Leder, das in verschieden breite Streifen geschnitten war. Von diesem wurden im Bedarfsfall einzelne Lederstreifen für Reparaturen als Näh-Verbindungsriemen verwendet. […] In neuerer Zeit wurden die Rosenriemen immer aufwändiger ausgestattet und jedem Gaul an die Außenseite ans Geschirr gehängt.“
[Quelle: Kurz, Manfred: Das traditionelle Arbeite- und Festgespann - Vierspännig vom Sattel gefahren - Geschirre, Anspannungen und Wagen am Beispiel des schwäbischen Fuhrwerks. Starke Pferde-Verlag, Lemgo. 3. Auflage 2023]
Noch ein paar abschließende Anmerkungen:
Es geht hier um vierspännige Fuhrwerke, die zumeist vom Sattel - also nicht vom Bock des Fahrzeugs - gefahren wurden! „Vom Sattel fahrend konnte der Fahrer sein Gespann besser überblicken und blieb auch in schwierigen Situationen besser Herr über seine vier Pferde.“ [Quelle: a. a. O.]
Der Gespannführer/Fahrer saß auf dem sog. „Sattelgaul“, das war das Pferd hinten links. Rechts neben dem Sattelgaul war der „Handgaul“. Das Pferd links vorne wurde als „Riemengaul“, das Pferd rechts vorne als „Zaumgaul“ bezeichnet.
wird bis heute im Pferdeland Oberschwaben gepflegt - eine sehr gute Gelegenheit, das realiter zu betrachten und zu bewundern, sind die beiden Umzüge beim Biberacher Schützenfest, z,B, hier im vollen Festgeschirr:
und hier sechsspännig mit zwei Sattelgäulen und einem Kutscher auf dem Bock: