Wie keine andere lebt die deutsche Gesellschaft in der Gewissheit dass die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart. Doch diesmal zielt der Begriff der Zeitenwende (Scholz) auf Verluste an Freiheit, Wohlstand und internationaler Kooperation. Die Welt ist in gewaltige Krisen verstrickt, die in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel sind.
Was das Überleben unserer Spezies auf diesem Planeten betrifft, sind wir am Eintritt in ein Endzeitszenario, aus dem es keinen Ausweg mehr geben wird. Die winzige Chance, die uns noch bleibt, setzt entschlossenes, weltweites Handeln voraus. Gegenwärtig sind wir aber sehr weit von einer Einigung auf eine globale Strategie zur Bewahrung unserer Existenz entfernt.
Neben der Klimakrise sind wir von weiteren ernsten Konflikten bedroht. Mit dem Fall des Kommunismus glaubten viele, die Dichotomie zwischen westlichen-liberalen Demokratien und autoritären Systemen sei überwunden. Doch die Zuversicht, liberale Demokratie, zivile Gesellschaftsformen und Menschenrechte würden sich als alternativlos erweisen und global durchsetzen, hat sich in herbe Enttäuschung verwandelt. Ausgerechnet auf dem friedlichen Kontinent Europa findet ein Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine statt, mit tiefgreifenden Schädigungen für die Europäische Sicherheit.
Über die Gefahr eines neuerlichen kalten Krieges hinaus droht der Mittelklasse eine Schubumkehr der seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges positiven Entwicklung. In dieser Phase etablierte sich der Fortschrittsimperativ („The best is yet to come“), der seit 1947 geradezu religiöse Bedeutung erlangte. Jetzt stehen Verluste ins Haus und die Gesellschaft ist bestenfalls beunruhigt.
Der Soziologe Andreas Reckwitz nennt verschiedene Gründe für die Aversion gegen Verluste. Neben der allgemeinen Abneigung des Individuums gegen sozialen Abstieg und Statusverlust sind Einbußen wichtiger Teile der eigenen Identität besonders schwer zu verkraften. Zu diesen zählen zum Beispiel die Abkehr vom Fleischkonsum, das Ende des von fossilen Brennstoffen bewegten Automobils, der Verzicht auf Fernreisen und vieles mehr, das zum Selbstbild des Mittelstandes gehört. Ebenfalls ein wesentlicher Grund für den Unmut der Gesellschaft ist die Unumkehrbarkeit der zur Krisenabwehr getroffenen Entscheidungen, hat doch die Abwendung vergangener Krisen oft nur wenige Monate wenn nicht Wochen in Anspruch genommen.
Wie wird die Gesellschaft auf diese Herausforderungen reagieren? Auch hier hält Reckwitz verschiedene Ansätze bereit. Die Strategie der Resilienz gehört zu den anspruchsvolleren Antworten auf die diversen Problemfelder der Gegenwart. Gegen die drohenden Fährnisse sollte eine institutionelle Widerstandsfähigkeit etabliert werden. Verbunden werden kann diese Strategie mit einem ökologisch unterfütterten Ansatz, der Wachstum nicht länger als Fortschritt deutet. Eine neue Interpretation von gesellschaftlicher Wohlfahrt sollte Verzicht und sozialen Abstieg deutlich relativieren. Diese oder eine ähnliche Strategie muss zum Erfolg führen.
Denn schon jetzt stehen die verschiedenen Richtungen der Populisten bereit, die suggerieren, ein Zurück in die politischen und gesellschaftlichen Strukturen der Vergangenheit brächte die „gute alte Zeit“ zurück. Diese Nostalgie ist immer autoritär grundiert. Ein Deutschland, das zum zweiten Mal Kurs auf den Abgrund nimmt, wäre die schlimmste anzunehmende Entwicklung für unsere Gesellschaft.
Alle Demokraten müssen, über die verschiedenen politischen Richtung innerhalb des demokratischen Lagers hinweg, klare Kante gegen die Volksverhetzer zeigen. Wir sollten jetzt damit beginnen.
Gruß, Hans-Jürgen Schneider