Hallo!
Heute 60-Jährige waren am Ende der DDR Mitte 30 und vom System geprägt. Viele kamen mit dem Staat ganz gut zurecht, schließlich hätte er sich andernfalls nicht jahrzehntelang gehalten. Sie wollten D-Mark haben, lieber Golf statt Trabi fahren, sahen sich aber schnell als Verlierer. Mit der LPG, die hoffnungslos überbesetzt hunderte Menschen beschäftigte, verschwand der Arbeitsplatz. Beinahe jedes Dorf hatte einen Bahnhof mit etlichen Beschäftigten, die Gütertransport abwickelten und allesamt arbeitslos wurden. An fürchterliche Matschpisten als Straßen und an nur ein Telefon im Dorf hatte man sich gewöhnt. Ein, zwei Schweine, ein paar Hühner, selbst angebauter Tabak und ein Job als Traktorist brachte Landbewohner in eine Situation, in der sie sorgenfrei leben konnten. Das fiel nach der Wende alles in sich zusammen. Statt dessen rückten den Leuten massenhaft Glücksritter auf die Pelle, die für 'n Appel und 'n Ei alles aufkauften, den unerfahrenen Leuten überteuerten Blödsinn andrehten und sie nach Strich und Faden über den Tisch zogen. Viele Berufsabschlüsse waren plötzlich nichts mehr wert. Manche Abschlüsse waren tatsächlich nichts wert. So wurde mancher Brigadeführer zum Ingenieur ernannt, ohne jemals eine Hochschule von innen gesehen zu haben und fand sich nach der Wende in der Sozialhilfe wieder. So mancher Schweißer von einer Werft hatte urplötzlich vom Rat des Kreises oder sonstwoher einen Meisterbrief, leitete eine Trabi-Werkstatt, die er nach der Wende für teuer Geld kaufte, nach Beschwatzen von geschäftstüchtigen Westlern eine Vertragswerkstatt für irgendein West-Fabrikat daraus machte und alsbald an die Wand fuhr. Die Vertragspartner im Westen hatten nämlich nur Goldgräberstimmung, aber keine Ahnung, das hinter lt. Einigungsvertrag anzuerkennenden Berufsabschlüssen oft nur linientreue heiße Luft steckte und der urplötzlich verschuldete Werkstattinhaber hatte nicht die Spur einer Ahnung vom Kaufmännischen und kaum mehr Ahnung von der Technik der Autos, die er instandsetzen sollte.
So ging die Wende mit massenhafter Existenzvernichtung einher; viele Menschen bekamen seitdem beruflich keinen Boden mehr unter die Füße, sind Jobcenter-Dauerkunden oder arbeiten für Niedriglohn in einem der zahllosen mit Subventionen hingestellten Gewerbegebiete.
Im Westen gab es das Vorurteil, wonach alle Ossis faul waren. Das Bild konnte angesichts der maroden Infrastruktur und des traurigen Anblicks, den ganze verfallende Ortschaften vermittelten, durchaus entstehen. Umgekehrt entstand der Eindruck, Wessis sind allesamt Betrüger und gierige Banditen. Es wird wohl noch eine Generation brauchen, bis die im Zuge der Wende entstandenen Verwerfungen abgebaut sind. Vielleicht dauert es noch länger, bis in der Fläche Ostdeutschlands wieder ein gesunder Mittelstand aus Handwerks- und Industriebetrieben gewachsen ist, den die DDR gezielt zerstörte.
Die meisten Leute, die in Ost und West den Kalten Krieg und den Kampf der Systeme inszenierten, leben noch, viele davon bis heute in Amt und Würden. Auch die meisten Leute, die an den Grenzen schikanierten, in der DDR ihre kleine Macht auslebten oder sich ganz einfach mit dem System arrangierten, sind ja noch da. Je kleiner der Ort, desto spezieller die Atmosphäre. In Schattierungen gilt das auch für kleine Orte im Westen. Auch dort bist Du nach 10 Jahren immer noch der Zugereiste. Aber Dörfer in M-V sind ein besonders geschlossener Zirkel, in dem es schwer ist, einen gemeinsamen Draht zu finden. Arbeitsplätze außer den wenigen in der Landwirtschaft sind rar. Deshalb finden junge Leute und Familien kaum eine Existenzgrundlage und die Ortschaften überaltern. In den 13 Jahren, die ich inzwischen in M-V lebe, verlor das Land 200.000 Menschen. Das riesige Land hat inzwischen weniger Einwohner als die Stadt Hamburg und der Trend setzt sich fort.
Du bist nicht Melker, nicht Traktorist, nicht mal als Held der Arbeit ausgezeichnet und hast keine Ahnung, was ein Kollektiv ist, womöglich bist Du ein Studierter, gerade erst (vor 13 Jahren) frisch zugezogen, dann auch noch aus dem Westen - kann mit den falschen Vorstellungen ein ziemlich hartes Brot werden ; -) Aber man kann damit auch ganz gut zurecht kommen; immerhin gibt es hier mehr Waschbären, Rehe und Wildschweine als Menschen und ganz viel Platz. Einige sehr gut verträgliche und vernünftige Leute gibt’s natürlich auch.
Auf komische Zeitgenossen kann man überall treffen. Mit denen muss man sich ja nicht abgeben. Wenn Dir also eine der vielen verschiedenen Regionen in M-V gefällt, lasse den Zuzug nicht an alten Stasi-Vorkommnissen scheitern, obwohl es ganz sicher noch alte Seilschaften gibt. Aber die gibt es in unterschiedlichen Formen allerorten.
Gruß
Wolfgang