Zustand nach Gewalterlebnis-Todesangst-Hilfestellung

Hallo zusammen,

mein Vater hatte gestern ein starkes, traumatisches Erlebnis:

Er war allein im Büro. Ein ihm Unbekannter betrat sein Büro, nahm ihm seine Brille ab, zerstörte diese, bedrohte ihn mit einem Messer „Wenn Du Dich bewegst, bist Du tot“.

Er fügte ihm im Gesicht und am Hals mehrere Schnittwunden zu, zerstörte die gesamte Büroeinrichtung, bewarf ihn mit Gegenständen, zwang ihn dann, mit ihm Schach zu spielen und schlug oder schnitt jedesmal zu, wenn ihm ein Zug nicht passte. Das ganze ging eine Stunde lang. Dann nahm er das Bild von den beiden Enkelkindern vom Schreibtisch, fragte meinen Vater, ob das seine Familie sei, er bejahte dies, woraufhin der Täter dieses Foto ganz sanft auf den Tisch stellte, die Ausgangstür eintrat und floh.

Mein Vater verfolgte den Gewalttäter 20 Minuten lang, bis die Polizei eintraf. Es brauchte fünf Beamte, um den Mann zu bändigen und zu verhaften. Es handelte sich wohl um den Sohn einer Frau aus dem Haus, der seit sechs Jahren nicht mehr vor Ort war. Mein Vater hat seine Büroräume erst seit einem halben Jahr in dem Gebäude, der wahrscheinlich psychisch kranke Mann war ihm völlig unbekannt.

Mein Vater wurde im Krankenhaus versorgt und ist dann gegen ärztlichen Rat nach Hause gegangen. Mich hat er PER EMAIL heute morgen benachrichtigt, ich wohne eine Dreiviertelstunde entfernt. Ich wollte sofort zu ihm, er wollte ausdrücklich, dass ich ihn erst morgen besuche. Unsere Kinder soll ich erstmal zuhause lassen, da er viele Wunden im Gesicht und am Hals hat und nicht möchte, dass die Kleinen (2+5) ihn so sehen. Seine Frau ist bei ihm.

Nun meine Frage: 
Ich fahre morgen früh zu ihm und möchte ihm natürlich Trost spenden und alles dafür tun, damit er gut darüber hinwegkommt. So etwas ist eine absolut außergewöhnliche Situation und ich bin sehr aufgerührt, möchte nichts falsch machen. 

„Tipps“ ist in dem Zusammenhang ein unpassendes Wort, aber mir fällt kein passendes ein. Könnt ihr mir ein paar Do’s and Don’ts sagen oder einfach was ihr tun oder mir empfehlen würdet, wenn ihr in der Situation wärt?

Ich freue mich über jeden Hinweis!

Viele Grüsse in die Runde,

Marcel

Hallo Marcel,

erst einmal tut mir leid, was Deinem Vater passiert ist. Das war ganz schön heftig - und das hat ihn vermutlich auch traumatisiert.

Es kann sein, dass er am Anfang seine Gefühle versucht zu verdrängen - um sich vor den heftigen Gefühlen zu schützen. Das ist auch ein - unbewusster - Schutzmechanismus der Seele. So wie wir bei schweren Verletzungen Hormone ausschütten, dass wir die Schmerzen am Anfang nicht so spüren - die uns verrückt machen würden. Es kann aber auch sein, dass er von den Bildern „verfolgt“ wird und die Situation in sogenannten „Flashbacks“ immer wieder und wieder erlebt - als wäre er wieder in dieser Situation. Dabei ist es hilfreich, ihm klar zu machen, dass das nur in seinem Kopf ist und er jetzt in Sicherheit ist. Wenn er sich z.B. zu Hause befindet kann man ihm klar machen, dass er jetzt im Wohnzimmer sitzt (und nicht im Büro) und er soll sich umschauen und ggf. die Möbel anfassen, damit er sicher ist, zu Hause zu sein.

Ich würde ihm empfehlen, therapeutischen Rat einzuholen. Es gibt eine Therapiemethode, die EMDR heißt = Eye Movement Desensitization and Reprocessing (kurz EMDR , wörtlich auf deutsch: ‚Augenbewegungs-Desensibilisierung und Wiederaufarbeitung‘). Ich habe da auch schon gemacht, da ich von meinem Vater missbraucht wurde und habe sehr gute Erfahrungen gemacht. Dinge, die mich sonst an den Missbrauch erinnert haben und dann Panikattacken ausgelöst haben, machen mir heute nichts mehr aus.

Was auch wichtig ist, dass Ihr als Familie für ihn da seid. Das ist auch eine große Hilfe. Auch wenn er ungewöhnlich reagiert … seid für ihn da. Aber passt auch auf, dass Ihr Euch auch mal Auszeiten nehmt. Wenn Du eine Partnerin hast rede mit ihr darüber, dass auch Du Dich ausprechen kannst. Du kannst mir auch eine Privatmail über wer-weiss-was senden …

Wenn Du noch weitere Fragen hast - frag ruhig.

LG Agnes

Hallo Marcel,
-in erster Linie ist es erstmal gut und wichtig einfach da zu sein.
-ihm Raum und Zeit zu lassen, das Erlebte in seinem Tempo und in seiner Art zu verarbeiten ist wichtig.
-wenn er in die traumatische Situation „fällt“, wenn ihn die Erinnerungen überschwemmen, dann einen Bezug zum Hier und Jetzt wieder herstellen und ihn aus dem dort und damals (gestern) heraus holen. „heute bist du hier in Sicherheit - hier steht ein Tisch, fass ihn an - du bist nicht mehr dort - der Man ist gefasst“ usw.
-dabei nicht die Dinge verniedlichen „das geht schon vorbei“ oder ähnliches
-ebenso ist es nicht nützlich davon zu reden, dass sie ihn verstehen können, dass sie igendwas davon nachempfinden können. Das macht das Erlebte kleiner, weil es ist für einen Außenstehenden nicht nachzuempfinden, die lebensbedrohliche Situation war und ist noch  für jeden Einzelenen einzigartig.
-aber sie können und sollten ihn reflektieren „ich merke, du bist noch ganz außer dir - …du bist wütend, traurig“ etc.
-und Sie können und sollten auch davon sprechen, was das mit Ihnen macht, was Sie fühlen und denken: „ich fühle mich ganz hilflos - ich würde am Liebsten… - ich merke, wie angespannt ich bin“ usw. Das eröffnet unter Umständen auch Ihrem Vater die Möglichkeit darüber zu reden.
-darüber hinaus zusehen, das auch zumindest ein Minimum an Normalität wieder hergestellt wird. Mahlzeiten zu sich nehmen, spazieren gehen oder, oder, was halt im Leben für Ihren Vater sonst zum regelmäßigen Alltag dazu gehört(e).
-und nicht darauf bauen, dass morgen irgendwas gelöst oder verarbeitet wird. Solche traumatischen Erlebnisse brauchen ihre Zeit. Und wenn sich die Dinge nach einer angemessene Zeit nicht verbessern oder die Belastungen und Erinnerungen bleiben oder gar mehr werden oder wenn ihrem Vater danach ist, wenn er das Bedürfnis danach verspürt, dann ist es Zeit sich professionelle Hilfe zu suchen.

So, das soll erstmal reichen. Mehr würde Sie vermutlich auch nur überfordern.
Für weitere Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung und wünsche Ihnen für morgen alles Gute.
Thomas Kühn

PS: und zwischendurch immer mal wieder bewußt atmen hilft selbst die Füße auf dem Boden zu behalten und bei sich zu bleiben.

Hallo Marcel,

von meinem Mitgefühl und ersten Tipps allein hast Du in diesem Fall nicht genug. Deshalb habe ich meinen Partner gebeten, diese Fragen für Dich zu beantworten. Er ist erfahrener Traumatherapeut.

Euch alles Gute

LG
Angel


hallo marcel,
ich bin der partner von angel. kurz zu mir: klinischer psychologe, traumatherapeut, gestalttherapeut, etc. als traumatherapeut arbeite ich seit über 20 jahren.

du wolltest dos and donts für dein verhalten gegenüber deinem vater, um ‚nichts falsch zu machen‘.

du kannst nichts ‚falsch‘ oder ‚richtig‘ machen - es ist allein dein vater, der für sich entscheidet, ob er dein verhalten (und auch das aller anderen betroffenen wie seiner frau usw.) als freundlich, zugewandt, richtig, zur situation passend oder nicht empfindet und dementsprechend reagiert.

a) grundsätzlich wichtig finde ich, dass du deinem vater so begegnest wie sonst bei ‚normalen‘ besuchen|treffen - falls ihr ein enges verhältnis habt und euch z.b. zur begrüssung umarmt, mach das auch morgen. falls ihr ein distanziertes verhältnis habt, fang nicht an, ihn zu umarmen oder zu betätscheln.

b) warte darauf, dass er zu erzählen anfängt, und dann höre einfach zu. lass ihn seine geschichte|sein erlebnis in seinem tempo erzählen - und bleibe nach möglichkeit ruhig. unterbreche ihn nicht, frage erstmal nicht nach, wenn du etwas nicht genau verstanden hast, und halte dich mit mitleidsäusserungen sehr zurück.

c) frage ihn NACH DEM ENDE SEINER GESCHICHTE danach, wie es ihm geht, wie er sich fühlt. DANACH kannst du ihm von deinen momentanen gefühlen erzählen.

d) und DANACH solltest du, falls dein vater nicht zu erschöpft ist und von sich aus blockt, dir die ganze geschichte nochmals erzählen lassen - und diesmal mit nachfragen nach genauen details und fragen, wie er sich in genau dem moment, von dem er erzählt hat, gefühlt hat, was ihm durch den kopf ging, usw.

warum ich diese vorgehensweise für wichtig halte?

  1. bietest du so deinem vater die möglichkeit, seine geschichte erstmal ungefiltert zu erzählen, und zwar dir - und nicht seiner frau, der polizei oder anderen menschen.
  2. hörst du die geschichte von deinem vater nicht nur schriftlich via mail, sondern live, und bekommst seinen stimmausdruck und seine körpersprache mit - du kannst dir also viel eher ein eigenes bild machen.
  3. hast du beim zweiten erzählen die möglichkeit, liebevoll und mitfühlend nachzufragen.
  4. kannst du durch den direkten kontakt mit deinem vater und euer gespräch auch deine ‚aufgewühltheit‘ und deine gefühle besser kontrollieren, zulassen und verarbeiten.

e) versuche mit deinem vater abzuklären, wie es für ihn den nächsten tag bzw. die nächsten tage weitergehen soll|wird - also z.b. arztbesuche, gespräche mit der polizei, protokolle erstellen, versicherung wg büroeinrichtung verständigen, hausmeister wg eingetretener tür, etc. etc.
alles in kleinen schritten, aber sehr konkret - um ihm eine möglichkeit zu geben, reales leben zu erfahren.

f) sei nicht ‚übervorsorglich‘ und ‚bemuttere bzw bevatere‘ ihn nicht. dränge dich nicht auf,
sei präsent, aber gehe , wenn er dich dazu auffordert.

zu deinem vater:
je nach typ (also je nachdem, wie ‚stabil‘ - psychisch und physisch - dein vater ist) kann er das ganze durchaus locker ‚wegstecken‘ und muss nicht unbedingt traumatisert sein.
sinnvoll ist es sicher, wenn er sich in sehr naher zukunft professionelle therapeutische unterstützung sucht und mit der therapeutin | dem therapeuten zusammen abklärt, was wie wann für ihn sinnvoll erscheint.

so, ist ziemlich viel geworden.
ich wünsche dir, dass du damit etwas anfangen kannst.
dir und euch allen alles gute und lg

dominic

Affektstau
Hallo madmorphi,

Ein ihm Unbekannter betrat sein Büro, nahm ihm seine Brille ab, zerstörte diese, bedrohte ihn mit einem Messer „Wenn Du Dich bewegst, bist Du tot“.

Er fügte ihm im Gesicht und am Hals mehrere Schnittwunden zu, zerstörte die gesamte Büroeinrichtung, bewarf ihn mit Gegenständen, zwang ihn dann, mit ihm Schach zu spielen und schlug oder schnitt jedesmal zu, wenn ihm ein Zug nicht passte. Das ganze ging eine Stunde lang. Dann nahm er das Bild von den beiden Enkelkindern vom Schreibtisch, fragte meinen Vater, ob das seine Familie sei, er bejahte dies, woraufhin der Täter dieses Foto ganz sanft auf den Tisch stellte, die Ausgangstür eintrat und floh.

Das klingt nach einer Affekttat, eine langanhaltende Unterdrückung emotionaler Konflikte und einem vermutlich unverhältnismäßig erscheinenden Auslöser, durch den beim Täter eine Sicherung durchgebrannt ist.

Das Betrachten des Fotos der Enkel muss die Bewußtseinseinengung des Täters aprupt beendet haben.
Wie ein Separator aus einem hypnotischen Zustand.
Es dürfte den Abriss der Affektentladung beim Täter bewirkt haben.

Ich flechte diese Betrachtung nur ein, weil sie helfen kann, einen Täter nicht als übermächtig zu erleben, sondern die Tat als übermächtige Hilflosigkeitssituation des Täters selbst, und deren Umkehr nach außen zu verstehen.

Mein Vater verfolgte den Gewalttäter 20 Minuten lang,

Dein Vater war also noch in der Lage den Täter zu verfolgen.
20 Minuten sind eine lange Zeit, und zwar als abschließende Erfahrung der Gewaltsituation, in der er selbst den aktiven Part übernommen, und sich emotional in die Position des Verfolgers gesetzt hat.
Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass keine schwerwiegendere Traumatisierung zu erwarten ist.
Trotz der irrsinnig langen Zeit von 1 Stunde! hat dein Vater noch das Adrenalin und die Kraft aufgebracht, dem Täter hinterher zu laufen.Das deutet auf einen starken Charakter und darauf dass er wütend war,
also nicht in einer seelisch zerstörten Situation gefangen.Das ist ein wichtiger Aspekt.

psychisch krank

Das wird ihm übrigens was die Beurteilung der Straftat betrifft, wenig nützen.
Psychisch krank im strafrechtlichen Sinne von Schuldfähigkeit, und psychisch krank im klinisch-therapeutischen Sinne unterliegen verschiedenen Kriterien.

Viele Grüße
Heidi

Ohne therapeutische Ausbildung, aber mit ein paar Erfahrungen in Gesprächen mit Delinquenten.
(und selbst Betroffene eines brutalen Überfalls, bei dem ich glücklicherweise die Kontrolle über die Situation erlangen konnte)