Zwiebeltürme in Bayern?

Hallo,

ich hoffe, dass ich in diesem Brett einigermaßen richtig bin, aber als religionswissenschaftliche Frage würde ich das jetzt auch nicht ansehen…
Mein Azubi-Kollege fragte mich gerade, warum quasi sämtliche Kirchen im süddeutschen Raum eigentlich Zwiebeltürme haben. Das wusste ich nicht, Wikipedia bringt auch nicht die richtige Erleuchtung und jetzt grübele ich auch.
Also, bitte beendet unser Grübeln! Woher kommt diese Häufung von Zwiebeltürmchen?? Mode? Geschichtliche Hintergründe?? Regionale Bedeutung??? Immerhin gibt’s im norddeutschen Raum ja auch katholische Kirchen - nur ohne Zwiebel… *nachdenk*

Grübel-Grüße
Seestern

Hallo,

Seestern!

Es handelt sich um eine Folge der Barockisierung, die als Mode im 18. Jahrhundert Süddeutschland erfasst hat. Nicht nur das Kircheninnere wurde im Stil des Barock (und des Rokoko) umgestaltet, sondern dem Ersatz des rechten Winkels und der Geraden durch geschwungene Linien wurden auch die Türme unterzogen.
Ob in der Barockzeit so sehr viele Kirche völlig neu erbaut wurden, weiß ich nicht. Aber diese Barockisierung könnte auch mit der Gegenreformation zu tun haben, weil Kirchen, deren Ausstattung der Reformation zum Opfer gefallen war, bei der Rekatholisierung neu „eingerichtet“ werden mussten. Darüber wissen die vom Brett Kunstgeschichte sicher mehr.
Auffallend ist, dass dann von der nächsten Mode, der Neogotik im 19. Jahrhundert (dem „Hausstil“ der Wittelsbacher-Könige in Bayern), im wesentlichen nur die Kircheneinrichtung, aber kaum mehr der Kirchturm geprägt wurde, so dass häufig außen der Zwiebelturm grüßt, während es innen gotisch ausschaut - falls die Kirche nicht als Folge des Konzils von puristischen Pfarrern und ihren Helfershelfern ausgeweidet wurde.
Gruß!
Hannes

Hallo Seestern,

mit der Renaissance gelangt Wissen aus dem Mittelmeerraum und dem Orient verstärkt nach Europa und beeinflusst auch die Architekturformen. Das Osmanische Reich erstreckte sich im 15./16 Jh. bis Ungarn.
Architekten und Kunsthistoriker nennen die Turmdächer auch:

"Welsche Haube .
Etymologisch leitet sich das Wort „welsch“ von dem keltischen Stamm Volcae ab. Seit dem SpätMA verbindet man mit „welsch“ die Bedeutungen romanisch, französisch, italienisch und allgemein „fremd(sprachlich)“ (vgl. Kauderwelsch).

Bezeichnung für eine mehrfach geschweifte Turmbedachung, die in der klassischen Form aus einer glockenförmig geschweiften Haube, einem laternenartigen Zwischenstück darüber und einer abschließenden Zwiebelhaube besteht. Die Dachform wurde in der Renaissance vor allem in Süddeutschland und Österreich gebaut, erstmals bei den Türmen der Liebfrauenkirche in München. Es gibt auch Ausführungen, die aus drei geschweiften Dachformen und zwei * Laternen zusammengesetzt sind."
Zitat aus: http://www.beyars.com/de_wissen.html

Und hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Haube_%28Architektur%29

Freundliche Grüße
rotmarder

Hallo,

ich hoffe, dass ich in diesem Brett einigermaßen richtig …

Hallo,

Seestern!

Es handelt sich um eine Folge der Barockisierung, die als Mode
im 18. Jahrhundert Süddeutschland erfasst hat. Nicht nur das
Kircheninnere wurde im Stil des Barock (und des Rokoko)
umgestaltet, sondern dem Ersatz des rechten Winkels und der
Geraden durch geschwungene Linien wurden auch die Türme
unterzogen.

Wurde das Ulmer Münster vielelicht dadurch vor der Barockisierung bewarht, daß der Turm erst nach dem Barock vollendet wurde?

Ob in der Barockzeit so sehr viele Kirche völlig neu erbaut
wurden, weiß ich nicht.

Schon einige. Dabei fällt mir auf, daß ich selbst nicht eine einzige deutsche Kirche aus dieser Zeit kenne, die *nicht* in barocker Bauweise gestaltet wurde.

Auffallend ist, dass dann von der nächsten Mode, der Neogotik
im 19. Jahrhundert (dem „Hausstil“ der Wittelsbacher-Könige in
Bayern), im wesentlichen nur die Kircheneinrichtung, aber kaum
mehr der Kirchturm geprägt wurde, so dass häufig außen der
Zwiebelturm grüßt, während es innen gotisch ausschaut

Oft wurden ja auch in diesen Gegenden später noch neu erbaute Kirchen in barocker Bauweise errichtet. So ist die Lindenberger Pfarrkirche erst nach 1900 erbaut worden:

http://www.lindenberg.de/Bilder%20So/Stadtpfarrkirch…

Ostlandreiter

Und was ist mit den vielen russischen Zwiebeltürmen, die schon teilweise im 11. Jahrjundert gebaut wurden?

Diese Form hat doch ganz sicher einen religiösen Hintergrund.

Wenn eine Kirche eine Kirche baut, geht die ganz sicher nicht nach dem Zeitgeschmack!

mfgConrad

Diese Form hat doch ganz sicher einen religiösen Hintergrund.

Wenn eine Kirche eine Kirche baut, geht die ganz sicher nicht
nach dem Zeitgeschmack!

mfgConrad

Soweit ich weiß, wurden die meisten Kirchen von einem Landesherr oder einer Stadtbürgerschaft gebaut, und die waren natürlich vom Zeitgeist beeinflußt.

Grüße
Ostlandreiter

Servus,

Wenn eine Kirche eine Kirche baut, geht die ganz sicher nicht
nach dem Zeitgeschmack!

dochdoch, das tut sie.

Hier sind zwei Beispiele aus dem süddeutschen Rokoko, die beiden bedeutendsten Werke des Stararchitekten Dominikus Zimmermann Steinhausen und Wies. Beide hätten vor 1720 ziemlich und nach 1780 ganz und gar anders ausgesehen - ausschließlich eine Frage von Mode und Zeitgeist. Wallfahrten waren eine frühe Form des Tourismus, und die Leute wollten etwas sehen für ihr Geld. Steinhausen war eine riesige Investition, die das Kloster Schussenried finanziell in arge Bedrängnis gebracht hat und dem verantwortlichen Abt Didakus Ströbele auch einige Schwierigkeiten gebracht hat. Der Erfolg seiner Maßnahme gab ihm dann aber recht.

http://www.gds2.de/projekte/Barock/zimmermann/zimmer…

Wieauchimmer: Freilich kann man sehr viele Details dieser spätbarocken Zentralbauten quasi „theologisch“ erklären, aber auch diese Erklärungen sind durch den Filter von Mode und Zeitgeist gegangen.

Hier hammer noch einen anderen „Popstar“ aus der Epoche, Balthasar Neumann. Die Ähnlichkeiten mit den Werken von Zimmermann sind keineswegs zufällig - beide sind Kinder ihrer Zeit:

http://www.gds2.de/projekte/Barock/neumann/neumann.htm

Besonders interessant ist hier das späte Werk in Neresheim, an dem man sieht, dass nach Plänen ein und desselben Architekten um 1790, im Übergang zum Klassizismus, bereits anders gebaut wurde.

Und hier, bloß mal als Kontrast, ein Beispiel dafür, wie das 850 Jahre vorher gemacht worden ist; um 1750 wäre ein solcher Bau völlig undenkbar gewesen:

http://www.rund-um-den-bodensee.info/3.html

Schöne Grüße

MM

1 Like

Die Zwiebel aber sicher nicht.
Woher kommt denn die Idee in Rußland, 600 Jahre früher?

Zufall/Geldknappheit
Die Frauenkirche in München, (die mit dem UR-Zwiebelturm) war ursprünglich mit einem Spitzdach geplant, vergleichbar mit dem Kölner Dom.

Dann ist denen vor Vollendung der Türme das Geld ausgegangen und damit es nicht reinregnet wurden diese Zwiebeltürme (Holzgerüst mit irgendeinem Blech darüber) oben drauf gesetzt!
Eigentlich sollte das eine Zwischenlösung sein und wenn wieder cash da ist mit Spitztürmen vollendet werden.
Dann haben sich die Münchener dran gewöhnt und das ist so geblieben!

Nachdem München ja Vorbildwirkung auf ganz Bayern hat, könnte ich mir vorstellen, daß der Dom oft kopiert wurde!

Vor ca 5 Jahren war der Aprilscherz in der Abendzeitung, daß jetzt mit der Vollendung der Spitztürme begonnen werden soll und die Stadtbevölkerung aufgefordert wird zu einer DEMO dagegen zu erscheinen.

Woher kommt denn die Idee in Rußland, 600 Jahre früher?

Ich habe immer gedacht, die Zwiebelförmsei byzantinisch und über die Türken nach Deutschland gelangt. Ob das stimmt, weiß ih nicht. Ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, daß die katholische Kirche ihre Architektur an der Ostkirche orientiete.

Grüße
Ostlandreiter

Hallo,

so kenne ich das auch. Nach den Kriegen im 17. Jahrhundert (Prinz Eugen, Wien) wurden viele türkische Ingenieure/Baumeister als Kriegsgefangene nach Bayern verschleppt.

Dort bauten sie dann auch Kirchen und übernahmen die Zwiebelform der byzantinischen Kirchen und Moscheen in der (heutigen) Türkei.

In München habe ich an einer Straße, durch die ein kleiner Kanal (oder kleiner Fluss) ging (könnte Südl. Auffahrtsallee gewesen sein) viele Brücken gesehen, wie ich sie von der Verzierung her an Brücken aus Istanbul kenne.

Ich habe mal gelesen, dass viele Kriegsgefangene damals in Bayern blieben und sich dort mit den „Ureinwohnern“ mischten. Viele „Deutsche“ Leute in Bayern haben den Nachnamen Türk und stammen angeblich von diesen ehemaligen Kriegsgefangenen ab.

Übrigens soll es einen berühmten türkischen Baumeister auch in Russland gegeben haben, der dort Kirchen gebaut hat.

Die uns bekannten Moscheeformen wurden im Übrigen von den christlichen Kirchen im „oströmischen Reich“ also dem heutigen Istanbul übernommen. Die Moscheen hatten und haben fast alle die christliche Kirche Hagia Sophia als Vorbild. http://www.kirchengucker.de/2007/07/04/funf-jahr-bau… Sie wäre, wenn sie nicht in eine Moschee und später sekularisiert und zum Museum umfunktioniert worden wäre, noch heute eine der größten (ich glaube die dritt- oder viertgrößte) Kirche der Welt.

Die meisten Christen in der Türkei waren und sind Orthoxe Christen. In Russland ist das auch die überwiegende Glaubensrichtung. Also ist die ähnliche Form der Bauwerke keine Überraschung.

Gruß
Ingrid

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