Interpretandum und Interpretament
Hi.
Aber bei wem wäre man denn nun der „echte (gute) Christ“?
Jehovas, römisch-katholisch, evangelisch, freikirchlich … ?
In letzter Konsequenz fragst du, wenn ich das recht verstehe, nach dem sogenannten „Urchristentum“, also der vermeintlich unverfälschten Originallehre des christlichen Glaubens, und möchtest wissen, welche historische Ausformung des Christenglaubens diesem Original am nächsten kommt. Das ist die schwerste Frage, die im Bereich der Religionswissenschaft gestellt werden kann.
Warum? Weil die christliche Textquellensituation, wie ich hier schon oft betont habe, extrem prekär ist. Für das 1. Jh., in welchem das Christentum angeblich entstanden ist, liegen weder archäologische noch gesichert authentische Text-Zeugnisse vor, welche die Existenz eines Christentums belegen. Die kanonischen Evangelien sind erstmals um 180 bei Irenäus bezeugt. Ihr zeitlicher Entstehungsrahmen wird von konservativen Wissenschaftlern in die Jahre zwischen 70 und 110 gelegt, was eine willkürliche Festsetzung ist. Sie könnten genauso gut auch in der Mitte des 2. Jh. entstanden sein. Justin z.B. erwähnt diese Evangelien um 150 in seinem umfangreichen Werk nicht ein einziges Mal, was doch erstaunt.
Paulusbriefe treten erstmals um 140 in Erscheinung, herausgegeben vom Gnostiker Marcion etwa 80 Jahre nach ihrer von der katholischen Kirche behaupteten Entstehung Mitte des 1. Jh. Auch die Figur des Paulus kann somit in puncto Geschichtlichkeit angezweifelt werden.
Es bringt daher nicht viel, deine Frage damit zu beantworten, dass das „Urchristentum“ in den Evangelien seinen wesentlichen Niederschlag gefunden hat, und dass ein „echter Christ“ sich für seinen Glauben allein auf diese Texte stützen und die späteren theologischen Konstrukte (z.B. Trinitätsdogma) ignorieren solle. Das Risiko, das er/sie dabei eingeht, liegt darin, „urchristliche“ Inhalte in Texten zu verorten, die mit einiger Wahrscheinlichkeit nur Interpretationen der hypothetischen Ur-Lehre und damit verbundener Ereignisse wiedergeben.
In der Religionswissenschaft unterscheidet man zwischen den hermeneutischen Kategorien " Interpretandum" und " Interpretament". Ersteres ist ein Ding oder Ereignis, das zu interpretieren ist, letzteres die erfolgte Interpretation. Bei der Auslegung des Tanach und des NT sind Exegeten permanent mit der Frage beschäftigt, zu welcher Kategorie ein geschildertes Ding oder Ereignis zu rechnen ist.
Beispiel:
Ist die „Auferstehung“, so wie sie im NT dargestellt wird, ein Interpretandum, ein zu interpretierendes Ereignis, oder bereits ein Interpretament, also die Interpretation eines Ereignisses, das den Exegeten unbekannt ist, auf das sie aber durch Interpretation des Interpretaments (also die Interpretation einer Interpretation) Schlüsse zu ziehen bemüht sind?
Anderes Beispiel:
Ist die Art und Weise, wie die Erschaffung der Eva in der Genesis geschildert wird, ein Interpretandum oder bereits ein Interpretament? Mit hoher Wahrscheinlichkeit liegt eine Allegorie vor, die etwas uns Unbekanntes, das wahre Interpretandum, symbolisch visualisieren soll.
Hier stellt sich zuerst die Frage, wie bewusst die Priesterautoren eine solche Allegorie produzierten. Ernst Cassirer ist der Auffassung, dass antike Mythen unbewusst fabriziert wurden, also ohne Reflexion auf die Differenz zwischen dem Interpretandum und dem Interpretament. Erst in der Neuzeit sei es, in totalitären Systemen, zu bewusst erzeugten Mythen gekommen. Das halte ich für eine einseitige Sicht und meine, dass antike Mythen sowohl bewusst als auch unbewusst produziert wurden, wobei im Einzelfall (hypothetisch) zu entscheiden wäre, wie hoch, wenn überhaupt, ein Bewusstseinsgrad bei der Mythographierung gegeben war.
Im Fall der „Erschaffung der Eva“ sehen feministisch-kritisch orientierte AutorInnen eine Interpretation am Werk, welche die patriarchalische Unterdrückung der Frau in der Antike (also auch in der israelitischen Gesellschaft) durch ein theologisches Konstrukt zu legitimieren bemüht ist. Die soziale Entrechtung der Frau ist in dieser Sicht das Interpretandum und der Eva-Mythos das Interpretament. Dadurch, dass Eva durch den Willen des „Herrn“ (1) zeitlich nach Adam und (2) als Teil seines Körpers entstand, wird die soziale Zweitrangigkeit des Weiblichen gegenüber dem Männlichen theologisch gerechtfertigt. Um letzte Klarheit zu schaffen, heißt es dann in Gen 3,16 (von „Gott“ an Eva gerichtet):
Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen.
Verbunden ist dieser Unterwerfungsakt mit der Tatsache, dass der Schöpfergott, von primär männlichem Geschlecht (auch wenn manche Exegeten „ihn“ für androgyn halten wegen Gen 1,27), ohne beigesellte Göttin existiert, d.h. eine weibliche Gottheit ist aus dem religiösen Denken eliminiert worden. Auch dieses Faktum ist - in Form einer Leerstelle - als Interpretament anzusehen, als legitimierende Interpretation der realen politischen Ohmacht der Frauen.
Interessanterweise trägt die Eva aber noch deutliche Spuren ihrer ideellen Herkunft aus der antiken Muttergöttin an sich: Sie wird die „Mutter alles Lebendigen“ genannt (3,20), was ein typisches Muttergöttin-Epitheton ist, und ihr Name (Hawwa) ist nicht nur der einer syrischen Fruchtbarkeitsgöttin, sondern bedeutet aramäisch auch „Schlange“ (ein mit vielen Göttinnen typischerweise verknüpftes Symbol).
+++
(Diese thematische Abschweifung soll nur das Problem der Beziehung von Interpretandum und Interpretament verdeutlichen)
+++
Fazit:
Über das hypothetische Urchristentum lässt sich nur spekulieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es inhaltlich von seiner Darstellung in den Evangelien so weit entfernt, dass diese nur als Sammelsurium von Interpretamenten anzusehen sind, deren Interpretandum uns unbekannt ist.
Es gibt Ursprungshypothesen, die eine Abkunft des christlichen Glaubens aus den antiken Mysterien annehmen, wobei bestimmte Mytheme, die ursprünglich auf transzendente Gottheiten bezogen waren, auf eine fiktive, also pseudohistorische Gestalt übertragen wurden, die wiederum durch Legenden über historische Gestalten inspiriert war (z.B. jüdische gesteinigte oder gehängte Märtyrer im Mix mit dem gekreuzigten Spartakus, einem damals prominenten Helden im Kampf gegen römische Unterdrückung).
Gibt es evtl. sogar einen Religionsgipfel o.ä. wo nach einer „Superreligion“ gesucht/gearbeitet wird (…)?
Völlig ausgeschlossen, wenn du darunter einen Zusammenschluss von z.B. Christentum und Buddhismus verstehst. Beide Religionen liegen soweit auseinander wie entgegengesetzte Enden des Universums. Es gibt zwar Annäherungen mystisch orientierter Christen an das Buddhistische, insbesondere den Zen; da die christliche Mystik den existentiellen Abgrund zwischen Mensch und Gott (ein christliches Kerndogma) aber negiert und von der essentiellen Identität beider überzeugt ist, kann sie nicht als Repräsentant des Christentums gelten, sondern als Randerscheinung, die vom offiziellen Christentum auch immer beargwöhnt und ggfs. unterdrückt wurde.
Chan