Hierzu unbedingt interessant :
" «2019=1919+1929»: Das deutsche Innenministerium denkt in einem Strategiepapier über Szenarien zwischen einem geordneten Krisen-Ausstieg und Corona-Aufständen nach
Erstaunlich genau prognostizierte ein Dokument des deutschen Innenministeriums Mitte März die Auswirkungen der Corona-Notmassnahmen in Deutschland. Es gibt darin aber auch Katastrophenprognosen für den Fall, dass die Krise ausser Kontrolle gerät.
Christoph Prantner, BerlinAktualisiert05.04.2020, 19.16 Uhr
Deutschland verzeichnete am Sonntag rund 100 000 Corona-Infektionen. Die Spitäler (im Bild eine Krankenstation in Bochum) konnten den Ansturm der Patienten bisher aber bewältigen.
Sascha Schuermann / Getty
Das Papier kursiert schon seit einigen Tagen in Berlin. Mitte März wurde es im Bundesinnenministerium (BMI) verfasst, danach mit dem Vermerk «Nur für den Dienstgebrauch» im Rundlauf an andere Ministerien verschickt. Auf 17 Seiten setzen Experten darin unter dem Titel «Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen» auseinander, was politische Handlungsoptionen und mögliche Szenarien in der Corona-Krise sein könnten. Das Feld, das sie dabei beschreiben, ist weit – und manchmal erschreckend düster.
Eine Unterschätzung der derzeitigen Situation könne «zu immensen, irreversiblen Schäden führen», heisst es in dem vertraulichen Dokument, dessen Authentizität vom BMI auf Nachfrage nicht dementiert wird. Im schlimmsten Fall könne eine ungebremste Ausbreitung der Corona-Pandemie in Deutschland allein im Jahr 2020 eine Million Menschen das Leben kosten. Es sei deshalb oberste strategische Priorität, dieses Worst-Case-Szenario zu vermeiden.
«Verschweigen des Worst Case keine Option»
In den Handlungsanleitungen unterstreichen die Verfasser des Papiers, dass transparente Kommunikation, politische Geschlossenheit, aktives Krisenmanagement und eine substanzielle Erhöhung der Testkapazitäten dringend geboten seien, um die Akzeptanz für die «freiheitsbeschränkenden Massnahmen» der Regierung in der Bevölkerung zu steigern.
Die gesellschaftlichen Durchhaltekräfte müssten mobilisiert werden. Deswegen sei das «Verschweigen des Worst Case keine Option». Auch das mag einer der Gründe sein, weshalb das Dokument nun an die Öffentlichkeit gelangte.
Die Experten gehen davon aus, dass 5 Prozent der insgesamt infizierten Personen hospitalisiert werden müssen. Von den in den Spitälern Aufgenommenen würden 30 Prozent eine intensivmedizinische Betreuung und weitere 20 Prozent mindestens eine Beatmung benötigen.
Die Sterberate wird im Modell «bei guter Krankenhausversorgung mit 1,2 Prozent angenommen und bei Rationierung wegen nicht ausreichender Krankenhausversorgung mit 2,0 Prozent» der Angesteckten.
Unterstellt wird dabei eine – inzwischen erreichte – Aufstockung der Notfallkapazitäten auf 40 000 Intensivbetten mit 28 000 Beatmungsplätzen. Insgesamt stünden in Deutschland 300 000 Klinikbetten zur Verfügung, noch einmal 60 000 könnten in Messehallen und dergleichen aufgebaut werden.
Ausbreitungsgeschwindigkeit 9,6 Tage
Zur Ausbreitungsgeschwindigkeit vermerken die Verfasser, dass im Worst Case eine Verdopplung der Infektionen Ende April in nur 9 Tagen erfolgen würde. Dann wäre das Gesundheitssystem massiv überlastet: «Über 80 Prozent der intensivpflichtigen Patienten müssten von den Krankenhäusern mangels Kapazitäten abgewiesen werden.» Tatsächlich betrug die Ausbreitungsgeschwindigkeit – also der Zeitraum, in dem sich die Zahl der Angesteckten verdoppelt – aber bereits am Sonntag (5. 4.) 9,6 Tage.
Als das beste anzunehmende Szenario wird eine Projektion genannt, die der spanisch-amerikanische Ökonom und Manager Tomas Pueyo in einem Artikel zur Corona-Krise «Hammer and Dance» genannt hat. Durch umfangreiches Testen und Isolieren könne ein weitaus milderer Verlauf der Pandemie erreicht werden.
Dann würde sich eine Million Deutsche mit Corona infizieren, etwa 12 000 davon würden an Covid-19 sterben. Dieser Zustand würde rund zwei Monate dauern, heisst es, danach müsste es wegen der geringen Immunisierung der Bevölkerung aber weiterhin eine lange Periode der Wachsamkeit geben.
Vier ökonomische Szenarien
Die ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen schätzen die Autoren als schlimmer ein als jene der Finanzkrise von 2008. Die Gleichung «2019=1919+1929» wird gemacht und für die externe Kommunikation empfohlen, also eine Krisenkombination aus Spanischer Grippe und Weltwirtschaftskrise als Analogie zur heutigen Situation.
Massgeblicher Faktor sei hier «die Dauer der Unterbrechung normaler Arbeitsteilung und Marktprozesse». Selbst im besten Fall («Szenario 1: Schnelle Kontrolle») werden monatelange schwere Störungen des Wirtschaftslebens erwartet. Möglich seien auch eine «Rückkehr der Krise» durch ein Wiederaufflammen der Infektionen, ein «langes Leiden» oder – im schlimmsten Fall – der «Abgrund».
In dieser Situation sehen die Experten des BMI einen Einbruch des BIP um 32 Prozent voraus und einen der Industrie um 47 Prozent. Eine beschleunigte Abwärtsdynamik wären nicht auszuschliessen. «Dieses Szenario kommt einem wirtschaftlichen Zusammenbruch gleich, dessen gesellschaftliche und politische Konsequenzen kaum vorstellbar sind.» Um also auf Kurs für Szenario 1 zu bleiben und nicht in Aufstände zu geraten, müsse es umgehend Steuerentlastungen, Kurzarbeit, staatliche Unternehmensbeteiligungen, Liquiditätshilfen und am Ende der Krise ein Konjunkturpaket geben.
20. April als Tag X
Essenziell ist auch, wann und wie die restriktiven Massnahmen aufgehoben werden. Nach Ostern müsste es den Menschen wieder gestattet werden, zu konsumieren. In einem Zeitrahmen, der erstaunlich genau mit der bisherigen Entwicklung übereinstimmt, wird für den 20. April im besten Fall Folgendes empfohlen: «Schrittweise Lockerung der Ausgangsbeschränkungen; Wiederaufnahme des Schulbetriebes, sobald dies ohne erneutes Aufflammen der Epidemie möglich ist.» Mit einer Einschränkung: Bis dahin müssen sich alle Bürger an die restriktiven Massnahmen halten. "