Selbst lesen statt ‚irgendwo hören‘
Hi,
Ich hörte mal wieder irgendwo das Zitat:
„Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
wie bei jedem anderen Text auch, so auch besonders in Texten der Antike, kommt man mit einem einzelnen Satzzitat natürlich nicht weiter. Man muß schon mindestens die gesamte Passage im Blick haben, aus der das Sprengsel entnommen ist. Und jede Interpretation hat mindestens auch (leider) die Voraussetzung einiger Sachkenntnisse der Sprache, in der der Text ursprünglich verfaßt ist. Davon ausgehend zeigt sich, daß die Textvariante, die dir zu Ohren gekommen ist, und die man allerdings sehr oft in schludrigen Übersetzungen findet, schlicht falsch ist. Der Text sagt unter anderem sehr eindeutig, wer und was mit den „Geringsten“ gemeint ist.
Wie Ralf/Tychiades bereits zusammengefaßt hat, geht es in der Christus-Darstellung der Evangelien nämlich überhaupt nicht um eine soziale/politische Umwälzung. Es geht in der „message“ ausschließlich um die Unmittelbarkeit jeder einzelnen zwischenmenschlichen Begegnung „hier und jetzt“.
Zunächst die Passage: Matthäus 25.31-46. Hier geht es um die metaphorische Darstellung eines (für die drei synoptischen Evangelien, aber nicht für das Joh.-Ev., typischen) endzeitlichen Gerichtes, in dem der „Menschensohn“ einem König gleich auf einem Thron sitzt, „alle Völker“ zusammenruft, und sie in Analogie zu einem Hirten in „Schafe“ (die „Gerechten“) und Ziegenböcke" (die „Verfluchten“) aufteilt.
Dann spricht dieser König zu ihnen …
„Ich bin hungrig gewesen …“
„Ich bin durstig gewesen …“
„Ich bin ein Fremder gewesen …“
„Ich bin nackt gewesen …“
„Ich bin krank gewesen …“
„Ich bin im Gefängnis gewesen …“
Diese Aufzählung macht der König zweimal in gleichem Wortlaut. Einmal zu den „Gerechten“ und einmal zu den „Verfluchten“. Nur daß die einen ihm der jeweiligen aktuellen Not entsprechend geholfen haben, die anderen aber nicht. Und diese Aufzählung wird beide Male von den Angesprochenen komplett wiederholt.
Beide Gruppen fragen nun zurück nach dem Wieso, denn sie seien ihm, dem König, ja niemals in solchen Notlagen begegnet.
Und nun heißt es bei beiden, der König werde darauf antworten:
„(Genau) so, wie ihr Einem[Zahlwort] dieser(!) meiner xxx Brüder getan habt, habt ihr mir getan.“
Und entsprechend bei den anderen:
„(Genau) so, wie ihr Einem dieser(!) xxx nicht getan habt, habt ihr mir nicht getan.“
Das hier nun mit „xxx“ angedeutete Wort heißt in dem damls im Mittelmeerraum verbreiteten Griechisch („Koine“): „eláchistos“. Dies ist zunächst, rein grammatisch, der Superlativ von „mikros“ = klein, geringfügig, unbedeutend.
Aber ein (grammatischer) Superlativ hat im Griechischen nicht nur die Bedeutung des Superlativs, sondern auch die des Elativs. Was das ist, lese man hier nach: Elativ.
Den kann man im Deutschen nur durch zusätzliche Adjektive oder Präpositionen ausdrücken. Im Griechischen erkennt man das an der Satzstellung: attributiv oder substantivisch. Im NT ist nach meiner Kenntnis dieses „eláchistos“ in nur einem einzigen Fall substantivisch verwendet: 1. Kor. 15.9 „der Geringste/Kleinste der Apostel“. Alle anderen Beispiele sind adjektivisch und bedeuten dann „winzig klein“, „völlig unbedeutend“, „ganz geringfügig“. Und eben nicht"kleinste", „geringste“, „unbedeutendste“, d.h. im Verhältnis zu anderem.
Und an dieser Textstelle hier (bei „xxx“) steht „eláchistos“ ebenfalls als Attribut, und zwar zu „Brüder“. Bleiben wir vorläufig mal bei der Übersetzung „gering“, dann heißt der Satz eben nicht (!):
„So wie … dem Geringsten meiner Brüder …“
sondern:
„So wie … Einem dieser meiner äußerst geringen Brüder …“
Es gibt nur ganz wenige Übersetzungen, bei denen das eindeutige „dieser“ nicht unter den Tisch fallen gelassen wird. Es steht aber an beiden(!) Textstellen. Und worauf sich dieses „diese“ bezieht, ist allein rein grammatisch bereits eindeutig: Nämlich auf eben diese Menschen, die in der - im Text 4-fach (!) aufgezählten Form einer exremen Notlage befinden. Mit einer sozialen Rangordnung hat diese metaphorische (bzw. eschatologische) Rede nicht das geringste zu tun!
Und wenn man mit dem Bedeutungsspektrum des Wortes „mikros“ in der Koine vertraut ist, und eine möglichst adäquate deutsche Übersetzung gesucht wird, dann bietet sich diese an:
„Genau so, wie ihr Einem dieser meiner in elender Not befindlichen Brüder (nicht) getan habt, habt ihr mir (nicht) getan.“
So, und nun kannst du anfangen, diese Rede zu interpretieren …
Gruß
Metapher