Guten Abend!
Ich lese gerade die Überschrift eines Vortrages an der
Akademie am Gendarmenmarkt:
„Darf Europa scheitern?“
Hm. Meine spontane Antwort darauf: „Ja, klar darf Europa
scheitern. Die Freiheit sollte man ihm lassen.“
Es wäre aber schade drum - eben wegen der Freiheit, die uns die EU gebracht hat. Ein in Großbritannien ansässiger Mensch bestellt bei mir etwas, zu liefern an den Zweigbetrieb in Prag. Die Aktion bereitet nicht mehr Probleme, als würde ich nach Ostfriesland versenden. Flüsse werden sauberer, mancherorts gibt es sogar wieder Lachse, weil wir EU-weit nach den gleichen Umweltstandards handeln. Mit meinem Personalausweis kann ich von Estland bis Gibraltar reisen, ohne mich irgendwo filzen lassen zu müssen. Nicht mal Geld muß ich tauschen und meine Krankenversicherungskarte ist auch überall gültig.
Niemand muß sich um spezielle ungarische, finnische oder spanische Bestimmungen scheren, weil alles angeglichen ist. Statt dessen kann man produzieren und liefern - in den stärksten Wirtschaftraum auf dem Globus. Wer mal dran schnuppern möchte, wie es früher war, sollte Lieferungen, Rücklieferungen, Vorführungen und Instandsetzungen in der Schweiz durchführen - davon hat man ganz schnell die Nase gründlich voll. So war es früher mit allen Ländern Europas. Besten Dank aber auch. Waren früher gewerbliche Schutzrechte für die Länder Europas ein finanzielles Abenteuer, das jedes kleinere Unternehmen überfordern mußte, ist das inzwischen kein Problem mehr.
In Grenzregionen gehen Polizisten benachbarter Länder gemeinsam Streife. Menschen gehen täglich über die Grenze, ohne etwas davon zu merken, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Ungezählte Unternehmen in der EU sind eng miteinander verflochten, über Niederlassungen in anderen EU-Ländern, Tochterunternehmen, Beteiligungen oder über Kunden- und Lieferantenbeziehungen bis hin zur gegenseitigen Abhängigkeit. Da stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob Eoropa scheitert oder man die Uhr zurück drehen kann, Europa ist an vielen entscheidenden Stellen längst zusammengewachsen.
Eigentlich könnten wir unser Militär jedenfalls in seiner heutigen Form abschaffen. Wir haben lauter Nachbarn, an deren Wohlergehen uns mehr liegen muß als an Kampfszenarien. Umgekehrt geht es den Nachbarn ebenso. Schließlich kann kein Kaufmann, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, auf die Idee kommen, seine Kunden und Lieferanten zu bedrohen. Nur Tradition und Denkbremsen hindern uns (noch), der Nato den Rücken zu kehren und U-Boote, Raketen, Panzer und Bomber abzuschaffen.
Natürlich sehe auch ich Probleme, die von anderen bereits ausreichend thematisiert wurden. Die Probleme muß man eben angehen, aber deswegen doch nicht die EU in Frage stellen. Wegen gelegentlicher Rückenschmerzen sollten wir nicht auf die Idee kommen, den Rücken zu amputieren, weil wir glauben, wir kämen auch ohne das schmerzende Teil klar.
Gruß
Wolfgang