Hallo,
Erlernt wird durch Nachahmung, auch ohne die Regeln zu kennen.
das ist falsch, wenn du nicht zwischen Sprache und Schrift im Allgemeinen bzw. Orthografie im Besonderen differenzierst. Für Sprache trifft zu, dass explizite Regelkenntnis entbehrlich ist; sonst könnte kein Kind eine Sprache erlernen, von der keine gute deskriptive Grammatik vorliegt – was für mehr als 90% der lebenden Sprachen gilt. Der Zugang zu Schriftsystemen hingegen ist stets im weiteren Sinne akademisch: Durch reine Begegnung mit Schriftzeichen lernt niemand, welcher Inhalt durch bestimmte Symbole ausgedrückt wird. Auch läuft das Lernen nicht dergestalt ab, dass Wortlisten memoriert werden; vielmehr spielen explizite Regeln und Generalisierungen eine zentrale Rolle. Wer die deutsche Rechtschreibung beherrscht, kann sofort sagen, dass jedes Nomen in dieser Sprache mit einem Großbuchstaben beginnen ›muss‹; dagegen können nur linguistisch ausgebildete Sprecher des Deutschen erklären, wann ein Adjektiv ›stark‹ und wann es ›schwach‹ flektiert wird, obwohl dies keine nennenswerte Fehlerquelle ist.
Je mehr Falsches man liest, desto falscher wird die Sprache insgesamt.
Welchen Begriff von ›richtig‹ und ›falsch‹ setzt du voraus?
Konzepte verändern sich schneller, je größer und heterogener die Gruppe der Personen ist, die mit ihnen umgeht. Das hat, wie ich finde, nachvollziehbare Gründe: Während es möglich und nicht übermäßig aufwändig ist, einen kleinen Zirkel, der Zeit, Geld und Motivation mitbringt, erfolgreich an ein komplexes System voller Ausnahmen heranzuführen, spielen Faktoren wie Lernbarkeit und Praktikabilität eine wichtigere Rolle, sobald es nicht nur eine Elite ist, die von einem System Gebrauch machen soll. Auf der Handwerkerrechnung ist es gleichgültig, ob der ›Thürrahmen‹ oder der ›Türramen‹ gestrichen wurde: Verständlich sind beide Schreibweisen, eine gesellschaftliche Implikation hat die Orthografie hier nicht. Dass die Betrachtung konformer Rechtschreibung als ästhetisches Gebilde und als Selbstzweck vor diesem Hintergrund an Gewicht verliert, ist ebenso erwart- wie hinnehmbar.
Wir sind hier in einem Internetforum, und diesem Medium sind derartige Abkürzungen üblich.
Ja, ich weiß. Aber auch saloppe Formulierungen wie ›Das macht Sinn‹ oder ›Er hat einen guten Job gemacht‹ sind in gewissen Kontexten üblich (geworden). Deine sprachliche Sensibilität, was den Einsatz sprachlicher Mittel in bestimmten Medien angeht, passt mit deiner Pauschalkritik an gewissen Wendungen nicht zusammen. Um es bildlich auszudrücken: Du kritisierst den Bankdirektor, der im Pyjama vor dem Fernseher sitzt, als trüge er ihn auf der Arbeit statt seines Anzugs – wobei es im Übrigen noch vor rund hundert Jahren vielfach und unbeanstandet ›statt seinem Anzug‹ geheißen hätte. Ob man mit besagtem Pyjama an die Tür gehen darf, vielleicht auch an den Hausbriefkasten oder gar zum Kiosk an der Ecke – das ist praktische und soziale Verhandlungssache, wie auch die Frage, welchem Register bestimmte Formulierungen zuzuordnen sind oder ob gewisse Schreibdifferenzierungen aufrechterhalten werden sollen. Dass etwa die Unterscheidung von ›das‹ und ›dass‹ noch eine Weile bestehen bleibt oder zumindest vehement verteidigt wird, nehme ich an. Dagegen ist der Posten von Schreibungen, die ihre fremdsprachliche Herkunft über die gängigen deutschen Laut/Buchstaben-Zuordnungen stellen (›Portemonnaie‹ statt ›Portmonee‹), weitgehend verloren.
›Wegen Lawine(n) gesperrt‹ – welcher Kasus ist das?)
Genitiv ist das. Wer es nicht weißt, schlägt nach.
Kannst du es am Wort selbst zeigen? Nein. Die Gewissheit, dass es sich dabei um Genitiv handelt, ist durch nichts begründet; sie ist eine theoretische Annahme, die auf Vergleichsfällen basiert. Beim Erwerb solcher Strukturen gibt es keinerlei Hinweis an der Oberfläche, um welchen Kasus es sich handelt. Weil wir hier das Gebiet der Orthografie verlassen haben, auf dem (wie ich argumentiert habe) explizite Regelkenntnis weiter verbreitet ist als in grammatikalischen Fragen, ist davon auszugehen, dass ein Kind erst nachschlagen kann, wenn es längst vieltausendmal mit Präpositionalphrasen konfrontiert wurde. Auf Basis der Datenlage – ein paar Genitive, viele Dative, einige unentscheidbare Fälle – kann es zu keinem anderen Schluss kommen, als dass beide Kasus möglich sind, und dann wird offensichtlich der insgesamt häufigere, also der Dativ, vorgezogen. Wer an dieser Stelle vor Sorge um den Genitiv aufjaulen möchte, springe bitte zwei Absätze zurück: Die Sprachpraxis einer Schicht, die von einem im konservativen Sinne sprachbewussten Umfeld und intensivem Regelunterricht geprägt ist, muss sich anders entwickeln als die einer Gruppe von Personen, für die metasprachliches Denken (das ist schade) und tradierte Normen (das ist halb so schlimm) wenig Bedeutung haben.
Es geht hier um die Form, und die leidet.
Sie verändert sich, wie so vieles, weil sich auch die Bedürfnisse und Erfordernisse verändern. Deine Klage ist insofern wenig sprachspezifisch: Es ist eine Gemengelage aus Wertkonservatismus und Abgrenzungsversuchen, die sich auf, zum Beispiel, Kleidung (›Die jungen Mädchen mit ihren nackten Bäuchen – wie die Dirnen!‹) oder Umgangsformen (›Wer hält einem heute noch die Tür auf?‹) übertragen lässt. Dass du in diesen beiden Bereichen so denkst, will ich nicht unterstellen, aber die Ähnlichkeit deines Denkens mit den dorther bekannten Argumentationslinien ist frappierend.
Gruß
Christopher