Hallo,
vorweg die Frage: was soll man denn unter
Religionsfreunde
verstehen?
Bisher gelang es mir aber leider nicht einmal eine gute
lexikalische Definition des Begriffs Religion ausfindig zu
machen.
das iegt daran, dass es eine solche nicht gibt und angesichts der Komplexität und Vielgestaltigkeit des Phänomens ‚Religion‘ auch nicht geben kann. Wie Religion jeweils definiert wird, hängt davon ab, wozu man eine solche Definition braucht - also davon, welche speziellen Aspekte von Religion man untersuchen möchte. Schleiermacher jedenfalls ist da lediglich ein Fossil, das zwar ideengeschichtlich von Interesse, für die aktuelle Diskussion jedoch längst bedeutungslos geworden ist.
Natürlich wurde das Thema hier schon mehrfach behandelt. Leider ist das Archiv hier in einem erbarmungswürdigen Zustand, so dass ich Dir keine Links setzen kann. Ich habe allerdings ein privates Archiv, daher kann ich aus früheren Beiträgen von mir zitieren. Ich beginne mit einer Definition Keiji Nishitanis aus seinem Werk ‚Was ist Religion?‘:
„Erstens: Religion ist stets etwas, das jeden Einzelnen persönlich angeht. Darin ist sie anders als die Kultur. Kultur betrifft zwar jeden einzelnen, aber nicht jeder einzelne muß sie auch zu seinem persönlichen Anliegen magen. Was Religion ist, läßt sich demnach nicht von außen verstehen. Das heißt: Allein das religiöse Bedürfnis ist der Schlüssel zum Verständnis dessen, was Religion ist. Einen anderen Weg gibt es nicht. Hinsichtlich der Frage nach dem Wesen der Religion ist dies der wichtigste Punkt. Zweitens: Wenn vom Wesen der Religion die Rede ist, so befindet sich die Frage: „Welchen Zweck hat Religion für uns?“ bereits als Frage im Irrtum. Aus ihr spricht eine Haltung, welche Religion ohne religiöses Bedürfnis zu verstehen sucht. Diese Frage wird daher von einer anderen Frage durchbrochen, die aus dem Fragenden selbst kommen muß. Einen anderen richtigen Weg zum Verständnis dessen, was Religion ist oder welchem Zweck sie dient, gibt es nicht. Die Frage, welche die erste Frage durchbricht, ist die Gegenfrage: „Wozu existieren wir?“ Hinsichtlich alles anderen können wir fragen, welchen Sinn seine Existenz für uns habe. An die Religion lässt sich diese Frage jedoch nicht richten. In Hinblick auf alle anderen Dinge können wir uns selbst (oder die Menschheit) zum telos ihrer Beziehung zu uns machen und demgemäß ihren Wert für unser Leben und unsere Existenz bestimmen. Wir können uns (oder die Menschheit) zum Mittelpunkt machen und uns ausrechnen, welche Bedeutung ihnen als Inhalte in unserem Leben (oder im Leben der Menschheit) zukommt. Wenn diese Daseins- und Denkweise, in der wir uns zum telos aller anderen Dinge machen, erschüttert wird und die dieser Haltung entgegengesetzte Frage auftaucht: „Wozu existieren wir selbst denn?“, dann tut sich erst der eigentliche Ort auf, von dem aus Religion in Sicht kommt.“
Vielleicht ist es hilfreich, von den allgemein gängigen, allzu oft sehr einfachen oder auch einfältigen Antworten auf diese von Nishitani genannte Frage einmal abzusehen und sich stattdessen auf die Frage selbst zu konzentrieren. Sicher sind da die unterschiedlichsten Antworten denkbar und im Laufe der Geschichte auch gegeben worden. Ich persönlich bin der Ansicht, dass es Kennzeichen des wahrhaft religiösen Menschen ist, auf diese Frage seine ganz persönliche Antwort zu suchen und zu finden. Ich nenne dies - mit Nishitani - ‚Religion‘. Dabei ist mir durchaus klar, dass das ein relativ weites Verständnis von Religion ist. Vor allem aber ist es ein substanzielles Verständnis, das sich mit rein funktionalen Definitionen wie z.B. der Emile Durkheims nicht deckt - nicht zuletzt auch, weil Religion nach Nishitanis Verständnis (wie schon angedeutet) eine individuelle ‚Angelegenheit‘ ist, keine kollektive:
„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und
Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man
Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. […] wenn man zeigt, dass die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, dass die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist.“
(Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens)
Selbstverständlich ist ‚Kirche‘ hier nicht im spezifisch christlichen oder theologischen Sinn zu verstehen, sondern einfach im Sinne eines Kollektivs, einer „moralischen Gemeinschaft“, wie es Durkheim nennt. Das ist eine rein funktionale Sichtweise. Natürlich ist eine solche Sichtweise nicht nur legitim, es ist sogar die einzig mögliche, wenn man Religion als soziales Phänomen betrachten will. Damit - und das ist der Nachteil der funktionalen Betrachtungsweise - trifft man aber über den Gegenstand der Betrachtung lediglich indirekte Aussagen. Man beschreibt also im hier vorliegenden Falle die soziale Funktion von Religion - wobei offen bleiben muss, ob diese Beschreibung erschöpfend ist; ob sie die Funktion von Religion vollständig erfasst. Selbst wenn dies der Fall wäre, wird damit darüber, was Religion substanziell ist, nichts ausgesagt. Es wird beschrieben, wie Religion im gesellschaftlichen Zusammenhang funktioniert, nicht, was Religion eigentlich ist. Wenn man nun argumentiert, das Wesen der Religion erschöpfe sich in seiner Funktion, so halte ich das persönlich für gar nicht einmal so falsch. Schief wird es allerdings meines Erachtens, wenn man diese Aussage noch weiter auf eine ‚soziale Funktion‘ einschränken will. Soziale Funktionen sind immer etwas Abstraktes. Tatsächlich handeln und fungieren immer konkrete Individuen aus konkreten Antrieben heraus. Die soziale Gestalt, die das konkrete Denken und Handeln von Individuen, die ein gemeinsames soziales Bezugssystem haben, annimmt, ist immer ein abstraktes Konstrukt. Konkret als Handelnde und damit Verantwortliche treten immer auch konkrete Individuen auf. Die Verantwortung (ggf. ‚Schuld‘) für ein Handeln der Gesellschaft, der Religion oder der Ideologie zuzuschieben oder sonstige transzendente Mächte zu bemühen (was ja zweifellos immer wieder geschieht), ist nichts als fadenscheinige Exkulpation.
Kehren wir zurück zu Nishitanis substanziellem Ansatz: Religion als persönliche Antwort auf die Sinnfrage, die Frage nach der eigenen Bestimmung. Offensichtlich kann diese Frage die unterschiedlichsten Antworten finden - selbst Antworten, die lediglich im Handeln ausgedrückt werden und keines gedanklichen Überbaus, keiner konsistenten Theo- oder Ideologie bedürfen. In der Regel allerdings ist es so, dass die meisten Menschen ein tradiertes Muster (die ‚funktionale Religion‘) übernehmen und diesem ihren eigenen Sinn geben. Dass dabei bestimmte Muster einer speziellen Sinngebung eher entsprechen können als andere, ist offensichtlich. Trotzdem lassen die traditionellen religiösen Überlieferungen mit ihrem Vorrat an vieldeutigen Zeichen der persönlichen Sinngebung weiten Raum. Nicht umsonst spielen Symbole, Gleichnisse, Parabeln etc. da eine große Rolle. Nicht immer, um das eigentlich Unsagbare auszudrücken, sondern eben auch, um einem großen Spektrum von Sagbarem Raum zu lassen.
Man darf dabei nicht von der stillschweigenden Voraussetzung ausgehen, dass die Antwort des Einzelnen auf die Sinnfrage allemal eine ethisch hochstehende oder nach gängigen Maßstäben auch nur ethisch akzeptable Antwort sein müsse. Dies wäre wirklich allzu blauäugig. Dies hieße z.B., die religiösen Aspekte der faschistischen Herrenmenschenideologie zu übersehen oder die messianische Verehrung von Menschheitsbeglückern wie Stalin.
Ich habe hier Nishitani und Durkheim gewissermaßen als ‚Gegenpole‘ einander gegenübergestellt. Das ist natürlich eine starke Vereinfachung des sehr komplexen Diskurses über den Religionsbegriff. Weiterführende Hinweise gab da einmal die schon seit einigen Jahren hier abgemeldete Userin Taju, die ich hier ebenfalls zitieren möchte:
_"Nach Durkheim (klassisch-funktionale Theoriebildung) ist Religion ein kohärentes System von Glaubensüberzeugungen und Praktiken, das sich auf sakrale, also abgesonderte Dinge bezieht. Mauss hat diese Theorie weiterentwickelt, indem er vor allem im Kult die Funktion einer Kanalisation von Gewalt sah. Noch vor Weber hat er Religion als „Phénomène social total“ bezeichnet, um bei der Deskription von Religion eine unsachliche Trennung von Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Religion zu vermeiden. Malinowski ging noch darüber hinaus, indem er auf die wichtigen Determinanten Geographie und Klima aufmerksam machte.
Einen anderen Ansatz vertritt Geertz, dessen Ansatz an Semiotik und am Systembegriff orientiert ist. Danach ist Religion ein Symbolsystem, das
- darauf abzielt, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen
- indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und
- diese Vorstellungen mit einer Aura der Faktizität umgibt.
- Diese Stimmungen und Motivationen scheinen dabei völlig der Wirklichkeit zu entsprechen.
Angesichts der wissenschaftlichen Aporien, einen Religionsbegriff zu formulieren, hat Pollack 1995 Forderungen für einen Religionsbegriff aufgestellt:
- Er sollte Universalität und Konkretion kombinieren
- Er stellt eine Überschreitung des jeweiligen Selbstverständnisses von Religion unter Einbeziehung sozialer, psychologischer und historischer Aspekte dar
- Jede Religion hat einen verbindlichen Geltungsanspruch, der von der Wissenschaft nicht verifiziert werden kann
- Die zu erstellende Definition von Religion muß als problemanzeigender Begriff formuliert werden, der sich empirisch füllen und korrigieren läßt.
Abschließend sei noch auf Weber hingewiesen, dem „Vater“ der Soziologie, der zumindest unter den klassischen Religionssoziologen als einziger auf eine Definition von Religion verzichtet hat."_ E.d.Z.
Tatsächlich sind wir auch heute nicht weiter - wir wissen zwar, was eine Definition von Religion leisten können soll (s. Pollack) - aber eine allgemeingültige Definition haben wir damit noch lange nicht.
Freundliche Grüße,
Ralf