Hi.
Ich möchte den „Islamischen Staat“ (IS) zur Diskussion stellen und diese mit einigen Informationen über seine Geschichte und seine religiöse Ideologie einleiten. Es geht mir dabei nicht um die Frage des Verhältnisses von Religion und Gewalt am Beispiel des IS, sondern um die Frage des Stellenwerts der vom IS beanspruchten religiösen Ideologie (Wahhabismus) bzw. der IS-Interpretation dieser Ideologie im Gesamtgefüge der islamischen Religion - soll heißen: Wie islamisch ist der IS?
- Geschichte:
Die Gruppe, aus der sich der IS entwickelte, wurde 1999 unter dem Namen „The Organization of Monotheism und Jihad“ gegründet. Im Oktober 2004 schloss sie sich unter ihrem Führer Abu Musab al-Zarqawi der Al-Qaida um Osama bin Laden an, dem al-Zarqawi Gefolgschaft schwor. Die Gruppe wurde umbenannt in „The Organization of Jihad’s Base in the Country of the Two Rivers (= Zweistromland)“, war aber auch als „Al-Qaida in Iraq“ (AQI) bekannt.
Abu Musab al-Zarqawi, ein Bombenexperte, war für viele Terroranschläge im Irak verantwortllich und gehörte zu den meistgesuchten Terroristen der Welt. Ideologisch unterschied er sich von Bin Laden durch seine Feindschaft gegenüber den Schiiten, denen Bin Laden versöhnlich gegenüberstand. Im Juni 2006 bombardierte eine US-Einheit den Standort al-Zarqawis, der seinen Verletzungen kurz darauf erlag.
Am 12. Oktober 2006 schloss sich die AQI, nunmehr auch „Mujahideen Shura Council“ genannt, mit mehreren anderen irakischen Aufstandsbewegungen zusammen. Bei der Zeremonie schworen die Beteiligten, die irakischen Sunniten von der schiitischen Unterdrückung zu befreien, Allahs Ruhm zu mehren und dem Islam den alten Glanz zurückzugeben.
Einen Tag später, am 13. Oktober, vollzog sich die Gründung des „Islamic State of Iraq“ (ISI) unter der Führung von Abu Abdullah al-Rashid al-Baghdadi (formeller Chef) und dem Topterroristen Abu Ayyub al-Masri (faktischer Chef). Die Gründung wurde von rivalisierenden Jihad-Gruppen inner- und außerhalb des Irak sehr skeptisch aufgenommen. Beide Führer wurden dreieinhalb Jahre später bei einer US-Operation im April 2010 getötet.
Am 16. Mai 2010 übernahm das jetzige Haupt des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, die Führung der Gruppe (zu dieser Zeit noch ´ISI´). Den Namen ´Abu Bakr´ übernahm al-Baghdadi vom ersten Kalifen nach Mohammed, Abu Bakr, um zu signalisieren, dass er sich in der Tradition dieses Kalifen fühlt. Al-Baghdadi wurde 1971 im Irak geboren, ist mit einer syrischen Aktivistin verheiratet und verfügt über einen Master- und Doktortitel in Islamwissenschaften, erworben an der Bagdader Universität für Islamstudien (die Angaben gehen auf IS-Quellen zurück). Die USA haben ein Kopfgeld von 10 Mio Dollar auf ihn ausgesetzt. Nur Ayman al-Zawahiri, Chef der globalen Al-Qaida, genießt einen höheren Stellenwert: Sein Kopfgeld beträgt 25 Mio. Zum Vergleich: Auf Osama bin Laden waren 50 Mio ausgesetzt.
Ab 2010 wurden unter al-Baghdadi zahlreiche Terroranschläge, darunter auf die Umm-al-Qura-Moschee in Bagdad, ausgeübt. Nach Bin Ladens Tod im Mai 2011 schwor al-Baghadi öffentlich Rache. Es begann eine Welle von Selbstmordanschlägen des ISI. Im August 2010 bekannte sich der ISI im Internet zu über 100 Anschlägen aus Rache für Bin Ladens Tod. In den nächsten Jahren brach die Kette der ISI-Terroranschläge nicht ab.
Am 8. April 2013 benannte sich der ISI aufgrund seiner auf syrisches Gebiet erfolgten Expansion in „ISIS“ um (Islamic State of Iraq and al-Sham / ´al-Sham´ steht für Syrien).
Am 29. Juni 2014 gab Abu Bakr al-Baghdadi in der Moschee von Mosul die Gründung eines Kalifats mit dem Namen „Islamic State“ bekannt. Westliche Kommentatoren notierten sarkastisch, dass er dabei eine Rolex, also ´das´ Symbol westlichen Konsumdenkens, am Handgelenk trug. Der IS verkündete im Zusammenhang mit der Kalifatsgründung: „Die Legalität aller Emirate, Gruppen, Staaten und Organisationen wird nichtig, sobald die Autorität des Kalifats sich auf ihr Gebiet ausweitet und dessen Truppen ihr Gebiet besetzt“. Damit versucht der IS die Vereinheitlichung der getrennten Gebiete von Irak und Syrien zu einem Kalifat zu legitimieren.
Mit der Kalifatsgründung hat der IS das Ziel erreicht, dass er sich - unter anderem Namen - im Jahr 2004 gesteckt hatte. Z.Zt. verfügt der IS über 6000 Kämpfer im Irak und etwa 3000-5000 in Syrien, davon die Hälfte aus dem Ausland. Fast 1000 kommen aus Tschetschenien und 500 aus Frankreich, Großbritannien und dem Rest Europas. Das Vermögen des IS wird auf zwei Milliarden US-Dollar geschätzt. Seine militärische Ausrüstung besteht u.a. in SA-7- und Stinger-Raketen, M79-OSA- , HJ-8- und AT-4-Spigot-Panzerabwehrwaffen, Type-59-Kanonen, T-72-Panzern, ZU-23-2-Flugabwehrkanonen, BM-21-Mehrfachraketenwerfersystemen, mindestens einer SCUD-Boden-Boden-Rakete usw. usf. Das IS-Militär ist extrem gut ausgebildet, teilweise sogar durch den Mossad. Seine Internet-Propaganda ist professioneller als die mancher großer US-Firmen. Seine Attraktivität auf junge Menschen ist ungeheuer - kürzlich ist z.B. eine 15jährige französische Muslimin Mitglied des IS geworden, sie hantiert jetzt mit Waffen.
- Ideologischer Hintergrund
Eine wesentliche Ursache für die Radikalität des IS stellt der in das 7. Jahrhundert zurückreichende Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten dar. Global gesehen bilden die Sunniten deutlich eine Mehrheit unter den Muslimen (85 Prozent), im Irak aber dominieren die Schiiten (etwa 2/3), was in den letzten Jahren zu einer politisch-wirtschaftlichen Unterdrückung des sunnitischen Anteils führte, großen Unmut unter den Sunniten erzeugte und damit den Aufstieg des sunnitischen IS begünstigte.
Es geht im sunnitisch-schiitischen Konflikt ursprünglich um die Frage, wer auf welche Weise die Nachfolge des Religionsstifters Mohammed antreten dürfe. Mohammed hatte bei seinem Tod 632 keine Instruktionen hinterlassen, die den Modus der Nachfolge regeln. Mehrere Männer konkurrierten um die begehrte Funktion, darunter der Schwiegervater von Mohammed, Abu Bakr, und Mohammeds Schwiegersohn Ali. Das Rennen machte Abu Bakr, Mohammeds erster Anhänger und ergebenster Gefolgsmann. Er nannte sich „Nachfolger des Gesandten Gottes“, woraus später der Kalif-Begriff entstand. Ein ´Kalif´ war somit ein von einer Versammlung gewählter Führer der muslimischen Gemeinschaft. Ali, der von seinen in der Minderheit befindlichen Anhängern als rechtmäßiger Nachfolger angesehen wurde, weil - so glaubten sie - Allah ihn als Sohn Mohammeds ausgewählt habe, gelang es erst bei der Wahl des vierten Kalifen (nach Mohammed), sich durchzusetzen. Er wurde fünf Jahre nach seinem Amtsantritt aber vergiftet.
Aus diesem Konflikt erwuchs die Spaltung der muslimischen Gemeinschaft in Sunniten und Schiiten, erstere die Anhänger eines Kalifats auf der Basis einer Abstimmung über den ´besten´ Muslim, letztere die Anhänger des sog. Imamats auf der Basis der Blutlinie, ausgehend von Mohammeds Tochter Fatima (Ehefrau des Ali) als Erbfolge aller Imame. Ein Kalif fungiert hauptsächlich als weltlicher, ein Imam als geistiger Führer. In einem Imam manifestiert sich, so die schiitische Ideologie, das ´gesegnete Licht´ Mohammeds und Alis, welche auf Erden als Inkarnationen präexistenter Engelwesen wirkten. Die Sunniten lehnen die Anschauung, Imame seien Träger des himmlischen Lichts, allerdings rigoros ab, sie beharren auf der menschlichen Führerschaft eines Kalifen.
Eine in der sunnitischen Tradition stehende radikale Erneuerungsbewegung war im 18. Jahrhundert der Wahhabismus. Diese Ideologie deckt sich weitgehend mit dem Salafismus, kann aber als eine besonders radikale Form des ohnehin schon radikalen Salafismus gelten. Eben diese hyperradikale Form ist Grundlage des IS-Denkens.
Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703–1792) war ein Prediger und Gelehrter im Gebiet von Nejd (heutiges Saudi-Arabien), der, so die Überlieferung, mit zehn Jahren den Koran auswendig kannte, die Gebete der Gemeinde seines Ortes leitete und sogar heiratete. Er studierte die Lehre des Ahmad Ibn Hanbals (780-855), des Begründers der Hanbali-Schule, der zufolge der Koran das vollständige Wissen von Allah vermittelt und daher nicht ergänzungsbedürftig ist. Al-Wahhab übernahm diesen Purismus und propagierte die Reinigung des Islam von (seiner Meinung nach) abergläubischen, den wahren Islam verfälschenden Vorstellungen. Er störte sich z.B. am Heiligenkult, an Pilgerreisen zu Schreinen und Gräbern, an Gebeten zu Verstorbenen und an der Feier des Geburtstags des Propheten Mohammed, worin er einen ähnlichen Aberglauben erblickte wie im christlichen Kult um Jesus. Auch das Errichten von Grabsteinen für Verstorbene galt ihm als Sünde gegen Gott. Alles religiöse Fühlen ist einzig auf Allah auszurichten, den einzigen und unteilbaren Gott. Wer sich daran nicht hält, ist, so al-Wahhab, ein Abtrünniger, der nicht zu leben verdient, muss also getötet werden, darüber hinaus sind die Frau und die Töchter des Abtrünnigen mit Vergewaltigung zu bestrafen und sein Besitz zu konfiszieren. Alle gelehrten Neuerungen, die nach den ersten drei Kalifaten in den Islam eingeführt wurden, erachtete al-Wahhab als nicht authentisch und nicht notwendig, sie waren also abzulehnen.
Der entsprechende islamische Begriff für Neuerungen, die nicht im Einklang mit dem Koran und der Sunna (= Verhaltensnormen, die sich aus dem Koran nach Mohammeds Vorbild ableiten lassen) stehen, lautet ´bida´. So heißt es in einem Hadith, Mohammed in den Mund gelegt:
Fürwahr, die wahrhafteste Mitteilung ist das Buch Allahs, die beste Leitung ist die Leitung Mohammeds, das schlechteste der Dinge sind die Neuerungen, jede Neuerung ist Ketzerei und jede Ketzerei ist Irrtum und jeder Irrtum führt in die Hölle.
1741 wurde al-Wahhab, nachdem er wegen seiner Radikalität aus seinem Heimatort vertrieben worden war, vom Stammesfürsten Ibn Saud aufgenommen und gefördert. Ibn Saud nutzte al-Wahhabs Lehre als Ideologie, welche die brutale Unterwerfung anderer muslimischer Stämme legitimierte (die vor der Wahl standen, wahhabistisch zu werden oder zu sterben), und errichtete bis 1790 auf dem größten Teil der Arabischen Halbinsel sein Reich, die Grundlage des heutigen Saudi-Arabien. Die irakisch-schiitische Stadt Karbala wurde 1801 überfallen und 5000 Einwohner mit einer - wie ein britischer Augenzeuge berichtet - „besonderen Grausamkeit“ massakriert.
Der Wahhabismus ist heute die offizielle Ideologie Saudi-Arabiens. Was die saudische Variante von der IS-Variante unterscheidet, ist die Beanspruchung der al-Wahhab´schen Formel von den drei Grundpfeilern („ein Herrscher, eine Autorität, eine Moschee“) durch das saudi-arabische Königtum. Damit tritt der IS in offene Konkurrenz zu Saudi-Arabien als wahrer Repräsentant des Wahhabismus. Anhänger dieser Glaubensrichtung und damit potentielle Unterstützer des IS gibt es außer in Saudi-Arabien in Kuwait, Bahrain, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Jemen, Pakistan, Afghanistan, Ägypten, Nigeria, den Philippinen usw. usf. Auch in der BRD gibt es wahhabitische Ableger, z.B. in Bonn (König-Fahd-Akademie).
Die Fragen sind also:
Wie islamisch ist der IS?
- Repräsentiert er den Wahhabismus?
(bei Kommentatoren besteht daran wenig Zweifel)
- Repräsentiert der Wahhabismus tatsächlich das wahre Wesen des Islam?
(hier gehen die Meinungen weit auseinander)
Chan