Ich finde das Thema spannend und vor allem von vielen Seiten her beleuchtenswert.
Hier im Politikbereich interessiert mich, ob Bolsonaro recht hat, dass die europäischen Reaktionen auf die Brände eine „koloniale Mentalität“ zeigen (ich ergänze ein neo- als Präfix)?
Euer Staatsgebebiet ist unsere Lunge (Merkel)? Euer Staatsgebiet ist unser Haus (Macron)?
auf den Gedanken (bzw. die Behauptung, es handele sich um Auswüchse kolonialer Mentalität) kann man m.E. nur kommen, wenn man verhindern möchte, daß sich andere mit dem Thema kritisch auseinandersetzen oder gar Forderungen nach Brandbekämpfung in die Welt setzen. Alle anderen verstehen das so, wie es gemeint ist, nämlich daß die Brände eine Bedrohung für das Klima (direkt und indirekt) und eine einzigartige Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt darstellen.
Um sich mal einen Überblick über die Veranstaltung zu verschaffen, hilft FIRMS übrigens weiter:
Im übrigen erinnern mich die Aussagen Bolsinarios an die alte Leier mit den „Einmischungen in innere Angelegenheiten“, die gerne von totalitären Regimen postuliert werden. wenn mal wieder ein paar Regimegegner die Forderungen nach Pressefreiheit, Menschenrechten usw. in den Raum stellen und diese vom Ausland kommentiert oder gar als gerechtfertigt angesehen werden. Da geht’s auch nicht darum, daß man sich die Einmischung an sich verbittet, sondern daß man schlichtweg mit diesem Argument verhindern will, daß die schwierige Menschenrechtslage in dem jeweiligen Land öffentlich thematisiert wird und so die Regimegegner Aufmerksamkeit, Unterstützung und mehr Selbstbewußtsein bekommen.
Genauso ordne ich das auch ein. Einige Tendenzen in Deutschland, die auch auf internationale Bedenken/Kritik stoßen, würde auch nicht kleiner, wenn man sie als "innere Angelegenheit " verschwiemeln würde.
LG
Amokoma1
Fraglos, das ist eine Funktion von Bolsonaros Sager.
Darin erschöpft sich aber der Inhalt nicht.
Und die Sache mit der Einmischung von außen, die Forderungen, politischen Druck auf Brasilien auszuüben usw., das sind nur Fußnoten dazu?
„Euer Gebiet sei unser Haus“.
Reiches Land im Norden sagt armem Land im Süden, was es im eigenen Land zu tun hat.
Wenn das nicht klassische Muster des Kolonialismus sind, dann weiß ich auch.
By the way erschöpft sich darin die Angelegenheit für mich ja nicht.
Aber sie, auch die Chuzpe eines Macron, ist schon ein Aspekt des Ganzen.
Wo gehts da um Außenpolitik?
Oder „Klima, Klima über alles“?
Da finde ich eine unbrauchbare Assoziation.
Ein Macron würde, ginge ihn Frau Merkel ähnlich an wie er Bolsonaro, sofort von „Einmischung in innere Angelegenheiten sprechen“, um seine vielen AKWs zu verteidigen. Beispielsweise.
Aber sowas Anachronistisches wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker/Staaten, das wollen wir Klimabesorgten schon noch gelten lassen? Oder alles Quatsch, „unsere Lunge gehört uns!“?
Auch wenn die in Südamerika ist (so wie wir all die Jahre Deutschland am Hindukusch verteidigt haben).
Dann kucken wir uns doch einfach mal etwas genauer die „Selbtsbestimmungsrechte“ einzelner Menschen, Gruppierungen von Ihnen, Ethnien, Völker, Staaten in ihrer Relation zueinander an.
LG
Amokoma1
Leider wäre genau das die Lösung, um Missstände bei überregionale Katastrophen, wie z.B. Überbevölkerung und Raubbau an der Natur zu stoppen. Korrupte oder unwillige Nationalstaaten müssten gezwungen werden. Wir sind inzwischen bald an einem Punkt angelengt, an dem man sich Schwafelei nicht mehr leisten kann. Wenn es nicht irgendwie „verbrecherich“ wäre, müsste ein Staatenpunkt -eine allianz der Willigen- entsprechende Länder unter Kuratel stellen. Uns läuft die Zeit weg.
Gruß
rakete
Richtig.
Dann kommen wir in ein komplexeres Spannungsverhältnis u.a. zwischen dem Recht des Staates Brasiliens auf die selbstbestimmte Nutzung seines Waldgebiets, aber natürlich auch auf Schutzrechte indigener Völker in diesen Gebieten.
Ein Recht des Franzosen und der Deutschin auf unversehrten Urwald in anderen Kontinenten wird dagegen schwer irgendwo zu finden sein, wenn man mal von der alten Gleichung Recht=Macht absieht.
M.E. ganz klares Ja.
Man sollte sich mal (wieder öfter) vor Augen führen, auf wessen Rücken der Reichtum der Industriestaaten entstanden ist. Auf dem Rücken der Afrikaner, Südamerikaner und teilweise Asiaten und ganz klar auf dem Rücken der Natur.
Jetzt, auf einmal, erinnern sich die Industriestaaten ans Klima und wollen den Entwicklungs- und Schwellenländern vorschreiben, wie sie sich ihr Stück am Kuchen (wenn überhaupt. Vielleicht geht es ja auch nur um ein einigermaßen menschenwürdiges Leben) sichern möchten. Pfui Teufel.
Ich bin gerade ziemlich sauer, dass hier in D jetzt endlich Plastiktüten verboten werden und das als Riesenerfolg im Umweltschutz gefeiert wird und weiterhin jährlich 1 Mio!!! Tonnen Plastikmüll in die Schwellenländer exportiert wird. Die können halt sehen, was sie damit machen. Und wenn sie es übertreiben, dann können wir sogar noch selbstgerecht „dudu“ machen.
Das ist Bigotterie par excellence.
Danke für deine gnadenlose Ehrlichkeit!
So in etwa, nur untern gegenteiligem Vorzeichen, hab ich meine Frage gemeint.
Übrigens, „uns läuft die Zeit“ weg. Schon mal aufgefallen, das seit 20 Jahren, nach dem Ende der bipolaren Weltordnung, ein Ausnahmezustand den anderen jagt?: Kampf dem Terror, Euro-, Banken-, Wirtschaftskrise, Klima-Notstand. Permanenter Ausnahmezustand, stets „alternativlos“.
Wir kommen nicht auf ein einfaches Spannungsverhältnis zwischen dem Staat Brasilien, demjenigen, der da derzeit die Mütze aufhat und indigenen Völkern. Du betrachtest als komplex, was eigentlich noch ziemlich einfach ist. Da kommen noch wenigstens 100 andere bereits existierende Fakten dazu.
Mir ist deshalb schleierhaft, weshalb du die Interventionen anderer Staaten zu dem Tun bzw. Nicht-Tun von Bolsonaro so sicher einschätzen kannst.
LG
Amokoma1
.
Ein Spannungsverhältnis in puncto Selbstbestimmung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Gesamtstaates Brasilien und dem Selbstbestimmungsrecht einzelner Völker dort in ihrem Verhältnis zum Gesamtstaat.
Darauf kommen wir schon.
Kann ich nicht, und hab das eigentlich auch nicht behaupten wollen.
Alleine die diversen teilweise sehr speziellen Spannungsverhältnisse zwischen Gruppierungen nicht nur indigener Art in Brasilien sind oberkomplex. Bolsonaro hat es (wie alle anderen vor ihm oder nach ihm) nicht einfach. In so einer Situation (nicht mehr beherrschte Brände in sowieso nicht beherrschter Gesamtsituation) nimmt man aber m. E. Hilfe an. Auch wenn der gefühlte Unterton evtl. nicht ins Selbstbildnis passt.
LG
Amokoma1
Aber es geht bei meiner Threadfrage nicht ums Annehmen von Hilfe, sondern um Grundsätzlicheres.
Diese Brände sind ja keine Unglücksfälle, sondern Wirtschaftspolitik.
Vgl.
Das hat doch mit Kolonialismus, also mit der Annexion und Ausbeutung eines Territoriums, nichts zu tun. Wenn Deutschland anfinge, in großem Stile Blausäure und abgelaufene Kernbrennstäbe via Rhein und Donau zu verklappen, würde es auch nicht lange dauern, bis erste Beschwerden aus den Niederlanden, Österreich, Ungarn usw. eingingen. Genauso gibt es Proteste gegen das Töten von Nashörnern und Elefanten, gegen die Waldbrände und Rodungen in Indonesien oder die Strafandrohungen gegen Vergewaltigungsopfer und Homosexuelle in Saudi-Arabien und Brunei. Da geht es um das Vertreten dessen, was einige für universelle Werte nennen; man kann das gerne als Kulturimperialismus bezeichnen oder ungerechtfertigten Wahrheitsanspruch, aber ganz sicher macht es keinen Sinn, das ausgerechnet als Kolonialismus zu bezeichnen.
Und mal so rein praktisch: wie geht Kolonisation ohne Präsenz? Was soll Ziel dieser Kolonisation sein, wenn man mal von der Bewahrung der Natur absieht? Und was hat der Typ überhaupt für ein Problem? Brasilien ist seit 1825 formal unabhängig und damit eine der am längsten unabhängigen ehemaligen Kolonien weltweit und mittlerweile die achtgrößte Volkswirtschaft. Da kann man doch nicht ernsthaft davon sprechen, daß die Äußerungen der europäischen Politiker irgendetwas mit Kolonialisierung zu tun haben. Es ist doch vielmehr offensichtlich, daß es sich bei dem Gejammer um eine rein politisch getriebene Veranstaltung handelt - und das von jemandem, der die Beschleunigung der Vernichtung des Regenwaldes zu einem zentralen Thema im Wahlkampf gemacht hat.
Da geht’s um Tatsachen, nämlich darum, wo es auf der Erde brennt. Einige Fehlmeldungen sind dabei, weil sich bestimmte Industrieanlagen sich ähnlich verhalten wie Brände, aber im Grunde ist das eine relativ vollständige Übersicht.
Mal abgesehen davon, daß es sich bei den Bränden in Brasilien eine akute Veranstaltung handelt: Proteste gegen Cattenom und Fessenheim gab es wahrlich genug und von französischer Seite war da nur wenig zu hören, aber ganz gewiß nichts davon, daß man sich die Einmischung in innere Angelegenheiten verbittet. Eine Argumentation damit wie mit dem Begriff der „kolonialen Mentalität“ ist nur eines: eine Schutzbehauptung, um Diskussionen zu vermeiden und ein unangenehmes Thema unter den Tisch zu kehren.
Und davor hatten wir 30 Jahre kalten Krieg, Hungersnöte in der Sahelzone, niedergeschlagene Aufstände im Ostblock, explodierende Atomkraftwerke in den USA und in der Sowjewtunion, eine sterbende Serengeti usw. usf. Damals wie heute gab es aber trotzdem keinen permanente Ausnahmezustand, sondern ein ganz normales Leben, das nur dann Berührungen mit dem Ausnahmezustand hatte, wenn man Medien konsumierte. Und genau darin liegt der Unterschied zu „damals“: heute sind wir nahezu rund um die Uhr online, während es „damals“ eine Tageszeitung und die Tagesschau gab und allenfalls mal Nachrichten im Autoradio.
Und was den Klimawandel angeht: ich kann mich noch gut daran erinnern, wie 1992 der erste Klimagipfel in Rio stattfand. Schon in dem 80ern war in „normalen“ Zeitungen über den Klimawandel berichtet worden und schon knapp zehn Jahre später setzt man sich zusammen und beschließt…nichts. Fünf Jahre später Kyoto und man beschließt…naja, eigentlich nichts, wenn man sich die Verhandlungsergebnisse genau ansieht. Bis überhaupt erst einmal etwas substantielles und verbindliches beschlossen wurde, waren seit den ersten öffentlichkeitswirksamen berichten fast 30 Jahre ins Land gegangen. 30 Jahre. Seitdem hat sich der Kohlendioxidanteil in der Atmosphäre um 20% erhöht (wenn man von den jeweiligen Werten den präindustriellen Kohlendioxidgehalt abzieht, lag die Zunahme sogar beim Faktor 2,3) und der Zuwachs verlangsamt sich noch nicht einmal.
Ja, das ist dramatisch und dagegen etwas zu tun, ist alternativlos - zumindest, wenn man sich auf die vernünftigen Alternativen beschränkt. Nichts tun oder einfach alle Bäume anzünden, sind natürlich auch Alternativen, aber sie sind halt nicht vernünftig.
Hallo,
das groessere Problem ist ja nicht, dass es brennt, sondern dass damit Geld verdient wird. Gerodeter verbrannter Wald ist wertvoller, damit laesst sich etwas verdienen, und spaeter zB Palmoel nach Europa verkaufen.
Mal an die eigene Nase fassen:
Bei uns loeschen sie auch nicht jeden Brand effektiv und schnell, denn die Munition im brennenden Wald raeumt man vorher nicht intensiv und teuer weg, sondern turnt beim naechsten Brand wieder um dieselben Granaten herum.
Unter anderen Vorzeichen würde ich die Frage mit einem relativ klaren ‚ja‘ beantworten, zumal die Diskussion imho auch ein wenig unehrlich ist. Immerhin sehe ich eine gewisse Parallele zu den Vorkommnissen rund um den Hambacher Forst, man sollte sich also durchaus der Probleme im eigenen Land bewusst sein, bevor man andere Länder verbal attackiert.
Im Falle von Bolsonaro kann ich nur sagen: Getroffene Hunde bellen.
Bolsonaro hat von Anfang an klar gemacht, dass der Regenwald für ihn wenig mehr als ein unerschlossener Wirtschaftsraum ist. Der Urwald soll brennen!
Bolsonaro macht schon seit seinem Wahlkampf im vergangenen Herbst klar, dass er den Amazonas verändern will: mehr Weide- und Ackerland, mehr Autobahnen, Brücken,Wasserkraftwerke. Die Regierung hat mehrere Infrastrukturgroßprojekte in derRegion begonnen und lässt kaum eine Woche verstreichen, in der sie keine zusätzlichen Abholzungsgenehmigungen erteilt und Schutzrechte für die Natur und für angestammte indigene Völker aufweicht: durch Dekrete, Verwaltungsakte unddas Einbringen von Gesetzen ins Parlament.
Auch für seine Anhänger gibt es klare Worte:
Der bolsonarofreundliche Gouverneur des Amazonasstaates Acre teilte seinen Landwirten sogar mit: „Wenn die Umweltbehörde euch eine Strafe aufbrummt, sagt mir Bescheid und bezahlt keinen Pfennig, denn jetzt habe ich hier das Sagen.“
Nebenbei wurde auch die Kompetenzen der Umweltaufsichtsbehörde massiv beschnitten und das Budget radikal zusammengekürzt.
Also nein, in diesem Zusammenhang finde ich nicht, das Bolsonaro Recht hat, da es durchaus gute Gründe für die Kritik geht, die weit über eine mögliche ‚koloniale Mentalität‘ hinausgehen.
Abschließend möchte ich aber noch anmerken, dass die 20 Millionen an Soforthilfe (die Hälfte davon alleine von GB) einfach nur ein schlechter Scherz sind und Bolsonaros Vorwürfe eher noch bekräftigen.
Es geht aber doch nicht nur um die Medienwelt, sondern um die politische Welt, die ständig mit Ausnahmezuständen und Alternativlosigkeiten operiert, um das oder jenes einzuschränken oder durchzusetzen.
In der Sozial- und Politikwissenschaft wird dieser zur Normalität gewordene globale „permanent state of exception“ längst breit diskutiert in einer Flut von Publikationen und Konferenzen.
Man muss sich da als Normalbürger nur in den verschiedenen Staaten anschauen, wie die ganzen Anti-Terror-Gesetze (d.h. massive Einschränkungen von Bürgerrechten) immer wieder verlängert wurden und im Kern bis heute bestehen.
Er bringt den Vorwurf strategisch vor, um die Europäer zu kontern und innenpolitisch zu punkten.
Zumindest letzteres scheint ihm gut gelungen zu sein.
Das ist rhetorisch billig und durchsichtig.
Dennoch kann man den Vorwurf auf seine inhaltliche Richtigkeit hin betrachten.
Darum Neo- …. die alten Denkmuster (davon sprach Bolsonaro, von „kolonialer Mentalität“) mit neuen Mittel. Keine Annexionen von Territorien, sondern Erzeugung von Abhängigkeiten und unverblümte Ausübung der überlegenen Macht der EU und der USA.
Uninteressante Zahl, weil sie rein an der Bevölkerungsgröße hängt.
Brasilien ist nur im Mittelfeld beim BIP pro Kopf (unter dem Welt-Durchschnitt), eher im Hinterfeld beim Globale Competitive Index usw.
Noch immer nur ein Schwellenland.
Die Existenz dieser Waldbrände hat doch keiner bestritten.