Hi zusammen.
Seit über 200 Jahren gibt es Zweifel an der Echtheit der angeblich echten Paulusbriefe. Ich möchte einige Thesen der Zweifler hier zur Diskussion stellen und am Schluss ihre wichtigste Website (radikalkritik.de) verlinken, weil dort die Argumente in aller Ausführlichkeit dargestellt sind.
Ende des 18. Jahrhunderts äußerte Edward Evanson den Verdacht, dass der Römerbrief nicht Paulus zugeschrieben werden kann. Als Gründe nannte er die Widersprüchlichkeit zur von ihm für historisch korrekt gehaltenen Apg. Während diese von einer römischen Christengemeinde zur Zeit von Paulus´ Reise, die der Judenmissionierung in Rom dient, nichts weiß, kennt der Römerbrief eine solche Gemeinde sehr wohl (auch den Juden ist lt. Brief das Evangelium bereits bekannt).
Ein halbes Jahrhundert später war Bruno Bauer in Deutschland der erste, der die Echtheit aller Paulusbriefe bestritt und sie vielmehr für Propagandamaterial von Christen im 2. Jhd. hielt. Er begründete das hauptsächlich mit den gnostischen Einflüssen, die in den Korintherbriefen deutlich spürbar sind.
Einige Jahrzehnte danach nahmen mehrere holländische Gelehrte diese Gedanken auf und formulierten ihre sog. Radikalkritik an der vermeintlichen Authentizität der sieben angeblich echten Paulusbriefe. Loman kam wie Bauer zu dem Befund, dass die Briefe Produkte gnostischer Gruppierungen seien. Er berief sich dabei u.a. auf die Tatsache, dass paulinische Briefe im 1. Jhd. und im frühen 2. Jhd. nicht zuverlässig nachweisbar sind. Nicht einmal Justin der Märtyrer, ein bedeutender Katholik um 150, erwähnt in seinem umfangreichen Werk einen Paulusbrief.
Nur der 1. Clemensbrief und die Briefe des Ignatius von Antiochien (die Ignatianen) scheinen Paulus Anfang des 2. Jhd. zu bezeugen. Allerdings bestehen auch an diesen Dokumenten Zweifel, was Datierung und Herkunft betrifft. Was die Apg betrifft, ist diese, so die Radikalkritiker, eine von den Katholiken Mitte des 2. Jhd. produzierte Gegenfälschung gegen die Paulusbriefe, die um 140 erstmals „auf den Markt kamen“.
Womit wir beim ersten nachweisbaren Auftauchen der Briefe angelangt wären. Die erste historisch zuverlässige Quelle für Paulus ist nämlich Marcion, der Gründer einer riesigen, der Gnosis nahestehenden Christengemeinde, der 144 vom römischen Klerus wegen seiner antikatholischen Auffassungen exkommuniziert wurde. Er gab zehn Paulusbriefe heraus sowie ein Evangelium (das marcionitische), das dem Lk nahestand, aber keine Verweise auf das AT enthielt.
Diese Sammlung ist nicht nur der erste Schriftenkanon im Christentum überhaupt, sondern auch das erste historisch unbezweifelbare Erscheinen von Paulusbriefen.
Diese Briefe aber sind nach Auffassung der gegenwärtigen Radikalkritiker, also der Theologen Hermann Detering (Berlin), Darrell J. Doughty und Robert M. Price (beide USA), Schöpfungen von Marcion bzw. seines Umfeldes, die den Zweck hatten, hinter der Maske einer fiktiven Autorität mit Nähe zu Jesus (eben Paulus) Glaubensstreitigkeiten gegen Gegner aus dem eigenen Jahrhundert (dem zweiten) auszutragen.
Diese Gegner waren die Katholiken, die, sehr im Unterschied zu Marcion, am AT festhielten, ohne einen eigenen nichtjüdischen Text als kanonische Glaubensgrundlage zu verwenden. Marcion dagegen verwarf das AT als Zeugnis eines „bösen Gottes“ völlig, ganz in Entsprechung zum gnostischen Standpunkt, dass es einen „guten Gott“ gibt (den Gott des Christus) und einen Demiurgen, der ein rachsüchtiger Schöpfer der finsteren Materiewelt ist (den Marcion mit Jahwe identifiziert).
Die Radikalkritiker argumentieren dahingehend, dass Marcion die ursprünglichen Paulusbriefe produziert habe (als Pseudoepigraphien) und dass diese Fassungen nachträglich von den Katholiken verfälscht worden seien, um „Paulus“ bzw. die unter diesem Namen umlaufenden Briefe für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Letzteres schien notwendig, da „Paulus“ innerhalb der marcionitischen Gemeinden sehr beliebt war. Um also die marcionitischen Anhänger ins eigene katholische Lager zu locken, durfte das Idol „Paulus“ nicht abgelehnt werden, man musste es nur verfälschen und für sich vereinnahmen.
So entstanden lt. Radikalkritik die heutigen Fassungen der Paulusbriefe, die wesentlich länger sind als die marcionitischen. Man schlug also Marcion mit seinen eigenen Waffen, indem man seine gefälschten Briefe im Sinne der eigenen katholischen Lehre „überarbeitete“ und ergänzte.
Ich liste unsystematisch ein paar Argumente der Radikalkritiker auf und verweise ansonsten auf die entsprechende Website der Radikalkritik (ganz unten verlinkt), da der Umfang der Argumentation eine Darstellung im Rahmen eines UP nicht zulässt.
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Der 1. Korintherbrief enthält stark gnostische Elemente (z.B. Doketismus), die zur Zeit der angeblichen Entstehung des Briefes (vor 60) gar kein Thema gewesen sein können. So ist z.B. in 1 Kor 2,8 von den bösen „Herrschern der Welt“ die Rede, was eine typisch gnostische Formulierung ist, die in die Mitte des 1. Jhd. gar nicht passt.
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Die Apg weiß nichts von Paulusbriefen.
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Paulus, angeblich ein Jude, zitiert nur aus der Septuaginta (griechische AT-Übersetzung). Im Unterschied zu Philo u.a., die ebenfalls aus der S. zitieren, gibt es in den Briefen keine Stelle, die auch nur einmal seine Hebräischkenntnisse indizieren. Dagegen ist sein Griechisch für einen geborenen Juden fast schon zu perfekt.
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Der Römerbrief soll kurz vor der Ankunft in Rom verfasst worden sein. Das ergibt, bedenkt man seinen Umfang und Gehalt, keinen Sinn.
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Paulus wird in außerchristlichen Quellen des 1. Jhd. überhaupt nicht erwähnt. Das ist, in Anbetracht seiner angeblich hocheffizienten Missionsaktivitäten, ganz erstaunlich.
Usw. usf. Aus Gründen des Umfangs muss ich hier abbrechen. Hier ist der angekündigte Link:
wo all die Argumente nachzulesen sind.
Chan