Gratwanderung
Hallo, Christel!
Mit Empörung ist es meines Erachtens nicht getan. Man muss davon ausgehen, dass sehr viele Eltern, die ihre Kinder „zunehmend unter Leistungsdruck“ setzen, keine Verschlechterung der Lage, sondern eine Verbesserung damit erreichen wollen. Nur haben sie nicht das richtige Auge dafür, bis wohin der Druck gehen darf und ab wo er ins Kontraproduktive umschlägt. Druck meine ich im letzten Satz eher im Sinne von Ansporn und Motivierung, als im Sinne von Zwang und Kontrolle. Auch letzteres muss sein, aber natürlich nicht in der Form, wie Du es erlebt hast und erst dann, wenn klar geworden ist, dass die Kinder nicht von alleine etwas leisten, was sie schaffen könnten. Wenn das Elternhaus nur stets verständnisvoll und lax handelt, werden die Kinder es umso schwerer haben, mit dem Druck umzugehen, der die restlichen paar dutzend Jahre ihres Lebens auf sie zukommt.
Ein „befriedigend“ oder „ausreichend“ ist für viele Eltern inzwischen schon
inakzeptabel", sagte die BHS-Vorsitzende Claudia Raykowski
Das Problem liegt meines Erachtens darin, dass viele Kinder falsch eingeschätzt werden. Es ist heute, Leistungsgesellschaft sei dank, üblich, dass Eltern meinen, ihre Kinder gehörten einfach aufs Gymnasium, weil der Vater Notar und die Mutter Chefsekretärin ist, weil das Kind so neugierig wirkt, auch wenn die Grundschullehrer eine andere Empfehlung ausgesprochen habe. Ich kenne mehrere solcher Fälle, in denen die Kinder dann notgedrungen spät auf die Realschule oder teilweise auf die Hauptschule wechselten, weil es einfach nicht funktionierte. Macht ja nichts, aber besonders gut ging es ihnen in den Monaten und Jahren nicht, in denen sie fast nur Fünfen produzierten. Einige, die aus meiner 12. Jahrgangsstufe jetzt ohne Abschluss verschwinden, weil sie auch das Fachabi nicht geschafft haben, haben massig Zeit verloren.
Aber — es gab andere Eltern. Eltern, die selbst das Abitur
vermasselt hatten - die ihre Kinder wahnsinnig unter Druck
setzten. Jeden Tag 2 -3 Stunden Nachhilfe – ausgeglichener
und fröhlicher waren diese Kinder jedoch nicht. Wir hatten
sogar mit dem Suizidversuch einer Klassenkameradin meines
Sohnes zu tun … das fand ich schon entsetztlich.
Gerade, weil sie das Abitur selbst versaut haben, haben sie wahrscheinlich die Panik, dass es ihren Kindern nicht „besser ergehen“ wird. Hilflos ist es sicher, aber natürlich fatal für die Kinder, dass die Eltern meinen: Viel hilft viel, je mehr Druck wir ausüben, desto besser wird unser Kind. Es ist zwar falsch, aber ebenso ist es nicht richtig, dass man von einem gesunden Seelenleben allein seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Das, was von den Nachbarn, den Freunden, ganz allgemein „der Gesellschaft“ erwartet wird, scheint den natürlichen Instinkt dafür abzuschalten, bis zu welchem Punkt es sinnvoll ist, einem Kind auch mal deutlich in den Hintern zu treten – was m. E. bei jedem irgendwann mal sein muss – und ab welchem Punkt man etwas verlangt, was unerreichbar ist. Die Realität, dass heute mehr Schüler das Abitur erreichen, mehr Abiturienten studieren und man somit eine immer höhere Qualifikation vorweisen muss, um einen wunschgemäßen Job zu erreichen, unterstützt die Sorge der Eltern.
Was denkt ihr - Schulkinder sind doch noch Kinder und - verdammt noch mal
Eltern sollen ihren eigenen Frust, weil sie faul waren, nicht an ihren Kindern
auslassen.
Soweit die Theorie.
Gruß!
Christopher