Hi
Da fällt die Definition sowieso schwer, ab wieviel Jahren Sesshaftigkeit wäre ein „Zigeuner“ denn kein „Zigeuner“ mehr. Und wenn jemand sesshaft ist, würdest du ihn als „Zigeuner“ erkennen?
Soweit ich mich überhaupt mit Texten die ein so breites Spektrum abdecken, außereinander gesetzt haben, könnte man evtl. von „Nomaden und ehemaligen Nomaden“ sprechen.
Alles andere wäre, als würdest du immer von „Afrikaner“ sprechen, egal ob die jetzt wo auch immer in Afrika leben oder schon seit drei Generationen (und länger) in Frankreich heimisch sind.
Du musst bedenken, dass schon die Halbnomaden ein „Zeichen des Verfalls der ursprünglichen Lebensweise“ sind. In früheren Zeiten sind zumindest meines Wissens nach alle mir bekannten Familien das ganze Jahr umher gezogen, auch in Wintern. Wenn es ein besonders harter Winter war, gab es längere Lager.
Erst in den letzten 200 Jahren wurde überhaupt an halbnomadische Lebensweise gedacht, und durchsetzen konnte sie sich erstmals mit der Erfindung des Stroms (für die Allgemeinheit). Diesen konnte man nämlich nicht mitnehmen und der erhöhte Lebenskomfort mit der Zeit stellte einen Grund da, sesshaft zu werden.
Wenn aber die dauerhafte Sesshaftigkeit eintritt, zerfallen die Familienverbände sehr schnell und die Einzelindividuen wenden sich oft religiösen Gemeinschaften zu (muslimisch, christlich hauptsächlich).
Das liegt daran, dass sich oft eben nur Einzelne dauerhaft niederließen und niederlassen.
Eine Sesshaftwerdung hatte in vielen Familien und Klans oft die Konsequenz des Ausstoßens und oft auch Ächtung, die in diverser Intensität ausgeführt wurde. (Als mein Urgroßvater sich mit meiner Urgroßmutter zusammentat, wurde er aus dem Klan verbannt. Da er aber eng verwandt mit dem Klanoberhaupt (übrigens eine Frau) war, und seine Mutter Einfluss hatte, wurde das nicht so eng durchgezogen. Der Klan kam regelmäßig in die Gegend und ich habe noch eine handvoll Verwandte dort kennengelernt und Kontakt gehabt, áls mein Urgroßvater schon tot war. Allerdings hat mich nur der verwandte Teil noch anerkannt. Für den Rest des Klans habe ich nichts mehr mit ihnen zu tun).
Wenn man das vermeiden will, muss also oft mindestens eine Kernfamilie dauerhaft sesshaft werden. In solchen Fällen bilden sich zunächst Gruppierungen ähnlich wie wir Türkenviertel und anders haben. Diese haben sich später wieder aufgelöst und wieder spalteten sich die ab, die keine Verbindungen mehr hatten. Der Rest trifft sich auf Jahresfeiern, Kongressen und sonstigen Aktivitäten, oder wenn ein verwandter Klan (oder der Urklan) in der Stadt ist, z.B. bei den Korbflechtern ist das oft der Fall (die fanden sich oft in Düsseldorf, ich weiß nicht, ob sie heute noch dorthin gehen).
Familien mit eigenen religiösen Traditionenen, wie die aus der mein Urgroßvater stammte, die sich nicht in unsere Weltreligionen einordnen lassen, werden nur sehr selten sesshaft. Sie sind auch oft viel kleiner. Diese Familien sterben langsam aus und ihre Kultur geht verloren, denn sie haben oft die strengsten Gesetze und zersplittern schnell, wenn Mitglieder sesshaft werden.
Du siehst also, es ist sehr, sehr schwer nomadische, halbnomadische und sesshafte zusammen zu fassen, einfach weil es völlig verschiedene Familien, Klans, Traditionen und ETHNIEN sind.
Die einen haben indische Wurzeln, andere osteuropäische, einige ägyptische, nordische, russische, andere kommen von sonstwo her. Und das alles wird bei „Zigeuner“ in einen Topf geworfen!
Das mag dem Fremden ja praktisch erscheinen, aber es ist die selbe Kontroverse, warum sich die Ureinwohner der Karibik gegen den Begriff „Afro-Amerikaner“ wehren, obwohl sie nie aus Afrika kamen.
Die Kulturen sind so unterschiedlich, sie benutzen verschiedene Sprachen, verschiedene Religionen, haben unterschiedliche Lebensweisen und unterschiedliche politische Systeme. Allein der Unterschied zwischen Patriarchat und Matriarchat ist doch für einen Westeuropäer mit unserer patriarchalen Geschichte riesig!
Wenn sich jemand also vornimmt ein Thema zu bearbeiten, dass alle Familien in allen „Aggregatszuständen“ beschreibt (ich kann nur hoffen, dass das mindestens ne Habilitation ist und derjenige extrem viel Zeit hat) so kommt er um mindestens die Einteilung in Nomaden und nomadisch-stämmige Sesshafte nicht herum. Das ist natürlich etwas unschön.
Besser ist es, sich konkret a) eine Familie b) eine Gruppe (wie etwa Sinti) oder c) zumindest ein Verbreitungsgebiet zu suchen. Dann hat man noch genug zu tun, dort die nomadischen und sesshaften auseinander zu klamüseln, oder, und das ist effektiver, sich auf entweder nomadische oder sesshafte Roma, Sinti, whatever zu konzentrieren, oder auf den Konflikt dazwischen - denn beide Lebensweisen sind grundverschieden und klaffen mit der Modernisierung mehr und mehr auseinander.
Ich habe Menschen aus ehemals nomadischen Familien stammen getroffen, die tatsächlich meinen, ihre fahrenden Verwandten würden noch wie im Mittelalter hausen.
Ich hoffe ich habe dir ein wenig weitergeholfen, auch wenn es keine wirkliche Lösung für das Problem gibt. Zigeuner ist eben ein Überbegriff, der nicht nur politisch inkorrekt ist, sondern auch unzulänglich. Ein handlicher Überbegriff wäre allgemein vielleicht nett, aber letztendlich ist er noch schwerer zu vertreten als der Begriff „Schwarzer“ für Menschen mit dunkler Hautfarbe.
lg
Kate