Hallo Jenny,
mir gehen ganz viele verschiedene Gedanken zu deinem Problem durch den Kopf, von denen ich nicht weiß, ob ich sie überhaupt unter einen Hut kriege obwohl alles eigentlich ganz eng zusammen hängt. Ich fang einfach mal an.
Zuerst möchte ich meine ganz grundsätzlichen Gedanken zu Beziehung und Partnerschaft, bzw. meine Vorstellung von Liebe erklären.
Ich habe sehr häufig den Eindruck, dass viele Menschen einen anderen deswegen lieben, weil er dieses oder jenes für sie tut/ist. Kann oder will derjenige das dann aus irgendeinem Grund nicht mehr, nimmt die „Liebe“ ab.
Das Ideal (ich schreibe bewusst nicht „das anzustrebende Ideal“, weil ich glaube, dass man das nicht wirklich anstreben kann), sollte aber m. E. sein, dass man den geliebten Menschen unter allen Umständen glücklich sehen möchte. (Fand den Vergleich zur Liebe zu seinen Kindern als Ausgangspunkt sehr treffend.) Das ist dann unabhängig davon, was der andere für einen tut. Das Komplizierte daran ist, dass ich damit nicht meine, dass man seine eigenen Bedürfnisse einfach unterdrückt und mit Füßen tritt/treten lässt, sondern dass die Bedürfnisse des anderen zu den eigenen werden. (Das kann man aber nicht wirklich „machen“.)
Mir fällt dazu die (Schluss?)-Szene aus „Bruce Allmächtig“ ein. Gegen Ende fragt „Gott“ Bruce, was er denn wirklich und ehrlich auf dem Herzen hat. Und er antwortet: Grace! Und Gott fragt: „Du möchtest, dass sie zu dir zurück kommt?“ Und nach kurzem Überlegen antwortet er: „Nein! Ich möchte, dass sie glücklich ist. Dass sie jemanden findet, der ihr das geben kann, was sie sich wünscht.“ Er sagt das in dem Bewusstsein, dass dieser jemand wohl nicht er ist, weil er die Szene vor Augen hat, wo sie weint und Gott bittet, Bruce endlich vergessen zu können um nicht immer wieder von ihm enttäuscht und verletzt zu werden.
Manch einer wird das Darauffolgende vielleicht als klischeehaftes, schmalziges Happy End empfinden, das die beiden dann doch noch ein glückliches Paar werden. Ich bin der Meinung, dass da eine ganz tiefe Weisheit dahinter steckt. (Ganz egal, ob es vom Autor tatsächlich so gemeint ist.) Ich denke, es ist eigentlich total logisch, dass einer, der so ehrlich und selbstlos dem anderen wünscht, dass er glücklich wird, automatisch der beste Partner ist, der genau das bewirkt.
Aber sobald ich diesen Wunsch (der andere möge glücklich werden), deshalb hege, weil ich mir davon erhoffe, dass die Beziehung dann harmonischer verläuft, funktioniert das nicht mehr. Ich glaube, genau das ist das Problem bei solchen Beziehungen, wo einer sich für den anderen aufreibt, immer zurücksteckt, immer nachgibt etc. derjenige macht das meist „für die Beziehung“. Ich will das nicht kleinreden. Das ist nichts grundsätzlich Schlechtes. Aber es ist nicht das, was „Bruce“ macht. Und damit ist es nicht das, was ich anfangs meinte, als ich sagte, die Bedürfnisse des anderen werden zu den eigenen.
Jetzt hab ich fast ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil ich soviel Allgemeines, Abstraktes, Theoretisches geschrieben habe, was vielleicht von euch und euren konkreten Problemen meilenweit entfernt ist. Aber das, was ich weiter schreibe, möchte ich immer vor diesem Hintergrund verstanden wissen auch wenn es dem auf den ersten Blick vielleicht zu widersprechen scheint und ich hoffe, dass du irgendwas damit anfangen kannst.
In Bezug auf deine Ehe, möchte ich nicht, dass du meinen Beitrag als erhobenen Zeigefinger im Sinne von „Du musst mehr auf die Bedürfnisse deines Partners eingehen“, verstehst. Ganz im Gegenteil. Es ist wichtig für dich, zu wissen, was du geben kannst, aber auch, was du brauchst.
Bei Ratschlägen für Beziehungen wird sehr oft gesagt, dass eine gute Beziehung aus Geben und Nehmen besteht und dass dieses Verhältnis ausgeglichen sein sollte. Dass also nicht einer immer viel mehr geben muss, als der andere. Für viele Menschen funktioniert das nicht anders und das ist auch okay so. Meine obigen Zeilen, dass es für eine Beziehung gut ist, wenn die Bedürfnisse des Partners zu den eigenen werden, können wohl die allermeisten unter der Voraussetzung akzeptieren, dass das beide Partner in gleichem Maße machen. Ich glaube allerdings, dass das auch möglich ist, wenn es bei einem der beiden deutlich mehr der Fall ist. Was der eine nicht kann, muss der andere leisten, damit das Gleichgewicht erhalten bleibt. Das klingt paradox, aber ich kann es nicht besser erklären… Das funktioniert aber, wie oben gesagt, nur, wenn derjenige das freiwillig und gern macht ohne ständig die eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken.
Ich denke also, bei euch wäre es wichtig, euch anzuschauen, inwieweit das der Einzelne kann, dass die Bedürfnisse des anderen zu den eigenen werden. Und dann, ob das im Gesamten reicht, dass beide Dauerhaft glücklich damit sind.
Hm… Das war jetzt immer noch recht theoretisch und abstrakt… Ich versuchs jetzt mal ganz konkret. Du hast ein großes Bedürfnis nach Zweisamkeit, möchtest gemeinsam mit ihm etwas unternehmen. Er hat ein großes Bedürfnis nach Ruhe, möchte allein für sich in seiner Werkstatt entspannen. Wie wichtig ist dir sein Bedürfnis nach Ruhe? Und wie wichtig ist ihm dein Bedürfnis nach Nähe? Wie kommuniziert er sein Bedürfnis nach Ruhe und wie du deins nach Nähe? Ich denke, eure Gespräche darüber sollten nicht sofort danach zielen, etwas konkret an der Situation zu ändern, sondern erstmal dazu dienen, den anderen wirklich zu verstehen. Auch wenn es komisch klingt, glaube ich, dass bei euch viel gewonnen wäre, wenn ihr in Gesprächen dahin kommt, euch beide gleichermaßen hilflos zu fühlen. Und zwar deshalb, weil ihr das Bedürfnis des anderen genauso nachempfinden könnt, wie euer eigenes, sodass ihr gar nicht mehr in der Lage seid, von eurem Partner zu erwarten, dass er mit seinem Bedürfnis zurücksteckt. Aber euch euer eigenes Bedürfnis immer noch so wichtig ist, dass ihr es nicht einfach unterdrückt. (Ganz wichtig!!) Ich glaube, wenn zwei Menschen bereit sind, sich so aufeinander einzulassen und sowohl sich selber, als auch den anderen ernst zu nehmen, und bereit, diese dadurch evtl. eintretende Hilflosigkeit und scheinbare Ausweglosigkeit nicht nur zu riskieren, sondern sogar auszuhalten, können sich ganz neue unverhoffte Lösungen und Wege ergeben.
Liebe Grüße und alles Gute für euch im neuen Jahr
M.