Hallo!
geozentrisches Weltbild → heliozentrisches Weltbild
Naja, wie ich schon sagte, das geozentrische Weltbild würde
ich nicht als naturwissenschaftliche Theorie bezeichnen, weil
man damals noch gar keine Naturwissenschaft im heutigen Sinne
betrieben hat. Das geozentrische Weltbild war ja ein Weltbild
dass aus der Naturphilosophie stammte und neben den realen
Beobachtungen auch die religiösen und philosophischen
Bedingungen berücksichtigte. Von daher halte ich das schon mal
für kein geeignetes Beispiel.
Nur damit wir uns missverstehen: Ich meine mit „geozentrisches Weltbild“ nicht die sklavisch-wörtliche Übernahme des Schöpfungsberichts aus der Bibel, sondern ein Modell, das im wesentlichen auf Ptolemäus zurückgeht. Es erfüllt alle Kriterien für ein naturwissenschaftliches Modell, denn es versucht einen empirischen Sachverhalt zu „abstrahieren“ (Deine Wortwahl). Es macht Vorhersagen, die überprüfbar sind.
Seien wir doch mal ehrlich: Wenn man den Nachthimmel mit bloßen Augen beobachtet, gibt es nicht sehr viel, was gegen dieses Modell spricht. Und es hatte eine mathematische Präzision, die von Kopernikus nicht übertroffen wurde (wohl aber von Kepler).
Deswegen halte ich dieses Modell für ein vortreffliches Beispiel für diese Diskussion!
Von daher ist eine alte Theorie IMO dann ein Bestandteil einer
neuen Theorie, wenn ihre Vorhersagen in ihrem
Gültigkeitsbereich übereinstimmen. Denn da wir ohnehin nicht
sagen können, dass die Abstraktion einer Theorie der
Wirklichkeit entspricht, ist es IMO auch nicht richtig, wenn
man eine Theorie für „nicht enthalten“ erklärt, weil sie eine
andere Abstraktion gewählt hat.
Das ist ein interessanter Punkt.
Aber überprüfen wir mal, ob er in den genannten Fällen auch gilt. Beispiel Atommodelle:
Das Bohrsche Atommodell sagt für Wasserstoff die richtigen Energien voraus unter der Annahme, dass sich die Elektronen auf Kreisbahnen bewegen, deren Umfang ein ganzzahliges Vielfaches der de-Broglie-Wellenlänge ist. Das Orbitalmodell kommt quantitativ zu derselben Aussage, jedoch mit qualitativ vollkommen anderen Mitteln: Hier werden die Energien als Eigenwerte des Hamilton-Operators berechnet und die zugehörigen Wellenfunktionen sind alles andere als Kreisbahnen um den Kern!
Demnach ist das Bohrsche Atommodell für mich kein Teil des Orbitalmodells. Im Gegenteil: Die beiden widersprechen einander.
Wenn wir dein Beispiel Newton vs Einstein nehmen:
Natürlich haben Einsteins Theorien ein völlig anderes
Verständnis von Raum und Zeit gebracht, schon alleine deshalb,
weil in beiden Theorien das völlig anders abstrahiert wurde.
Dies wirkt sich aber erst aus, wenn man sehr hohe
Relativgeschwindigkeiten oder große Massen ins Spiel bringt.
In unserer Alltagswelt - dem Gültigkeitsbereich der
Newtonschen Mechanik - spielt dies aber keine Rolle, und es
ist völlig OK das ganze mit Newtons Mechanik zu beschreiben.
Klar, quantitativ hast Du natürlich recht. Aber dass das funktioniert, liegt nur an dem „Glücksfall“, dass die Lichtgeschwindigkeit so hoch ist. Wäre die Lichtgeschwindigkeit nur 100 m/s, dann wäre die Newtonsche Physik schon für sehr alltägliche Dinge nicht mehr zu gebrauchen. Deswegen bin ich schon der Ansicht, dass Einstein etwas qualitativ völlig anderes an die Stelle der klassischen Physik gestellt hat.
Newton ist also meiner Meinung nach nicht Teil der Einsteinschen Physik, sondern er ist für bestimmte Voraussetzungen eine sehr gute Näherung an die Einsteinsche Physik. (In der speziellen RT kann man sogar konkret angeben, dass Newton die 2. Taylor-Näherung von Einstein ist - flapsig ausgedrückt)
Allerdings gilt bei der SRT noch am ehesten die Annahme, dass die alte Theorie in der neuen enthalten ist, weil sich eigentlich an der Definition der Begriffe nichts geändert hat. Sie wurde nur strenger angewendet und stillschweigende überflüssige Annahmen (Äther, …) wurden gestrichen.
Aber schon bei der ART wurde ein völlig neues Konzept eingeführt, wie in den anderen genannten Beispielen auch.
Oder spielt das letztlich gar keine Rolle, weil wir die
„Wirklichkeit“ ohnehin nicht erkennen können und uns ohnehin
mit Modellen und Abstraktionen zufrieden geben müssen, die die
Realität nur beschreiben und modellieren? Und muss man dann
nicht den älteren Modellen zugestehen, dass sie Abstraktionen
machten, die nicht mit denen einer neuen Theorie in jeder
Weise kompatibel sind?
Sicher. Aber diese Großzügigkeit macht sie noch nicht zu Teilen er neueren Theorien.
Ich will mal ein Beispiel geben, wo eine alte Theorie tatsächlich Teil einer neuen Theorie wurde. Darwin wusste eigentlich noch nicht, was er meinte, als er über Vererbung sprach. Die Genetik musste erst noch durch Mendel und die jüngeren Molekulargenetiker hinzugefügt werden; die Ökologen erforschten die Wechselbeziehungen zwischen den Lebewesen eines Ökosystems; die Populationsbiologen stellten das ganze auf eine fundierte mathematisch-statistische Basis und so wurde schließlich aus der Darwinschen Evolutionstheorie die weitaus umfassendere synthetische Evolutionstheorie, aber Darwins Ideen wurden nicht durch neue Konzepte ersetzt, sondern untermauert, ergänzt, erweitert und präzisiert.
Das kann ich bei den von mir genannten Beispielen nicht erkennen.
Erstaunen tut uns eine neue Theorie IMO deshalb dann oft so
stark, weil sie eine völlig andere Abstraktion macht und man
sich zunächst gar nicht vorstellen konnte, wie man das gleiche
Problem oder Phänomen auch durch eine völlig andere
Abstraktion beschreiben konnte, und das sogar besser und mit
einem größeren Gültigkeitsbereich.
Vielleicht haben wir auch nur deswegen verschiedene Ansichten, weil wir etwas anderes unter dem Begriff „beinhalten“ verstehen. Für mich ist eine Theorie A in einer Theorie B nur dann enthalten, wenn jeder Gedanke der Theorie A auch ein Gedanke der Theorie B ist (bzw. ihm in B nicht ausdrücklich widersprochen wird). Für Dich ist die Theorie A in der Theorie B enthalten, wenn (innerhalb ihres Gültigkeitsbereichs) Theorie A zu denselben quantitativen Aussagen kommt wie Theorie B.
Das ist kein Widerspruch im Inhalt, sondern nur in der Begriffsdefinition. Habe ich recht?
Gruß, Michael