Hallo Benvolio,
zunächst einmal möchte ich Metapher für den Verweis auf auf den älteren Thread und die dort gesetzten Links danken - das erspart es mir, ihn selbst herauszusuchen. Auch an Pendragon Danke für die Verlinkung von Anne McDonalds recht brauchbarer kurzer Einführung in die Madhyamaka-Philosophie.
Soweit sie sich zur Dharma-Theorie (‚dharmas‘ hier im Sinne ‚Daseinsfaktoren‘) äußert, ist das allerdings etwas verkürzt - selbst in den sog. Hinayana-Schulen gab es da sehr differenzierte Auffassungen. Gerade Unterschiede in der Dharma-Theorie definieren häufig die ‚Bruchlinien‘ zwischen verschiedenen Hinayana-Schulen. In einem solchen kurzen Artikel bzw. im Rahmen eines Vortrages darauf näher einzugehen, wäre allerdings sicher zu viel verlangt. Trotzdem hier die Anmerkung speziell zu dem Begriff ‚illusorisch‘ (ich werde später darauf zurück kommen), der in diesem Zusammenhang wiederholt genannt wird: die Diskussionen der Dharmatheorie drehten sich um drei (!) Aspekte der dharmas (‚Seinsfaktoren‘): ihre Realität, ihre Substantialität und ihre Temporalität. Von (freilich recht speziellem) Interesse ist hier, dass die Schule der Sarvastivadin (so weit wir wissen als einzige) den dharmas in Bezug auf den Aspekt Temporalität eine von ihrer Emergenz unabhängige Existenz in Vergangenheit und Zukunft zuschrieb und dass das Madhyamaka speziell auf einer Kritik der Sarvastivada-Philosophie aufbaut. Ohne jetzt noch weiter auszuschweifen - ‚illusorisch‘ bzw. ‚nicht-illusorisch‘ sind wirklich extrem verkürzte Charakterisierungen der Ergebnisse, zu denen schon die hinayanischen Dharma-Theoretiker gelangten. Außerdem ist hier noch anzumerken, dass die Dharma-Theorie ihre kanonische Grundlage ausschließlich im Abhidharma (der philosophischen Ausdeutung und Interpretation von Buddhas Lehre) hat und sich in den Sutren (Buddhas Lehrreden) nicht findet - dort dafür aber schon das Skandha-Modell und das Modell wechselseitig bedingten Entstehens, die im Zusammenhang mit der Fragestellung vielleicht doch ergiebiger sind als die eigentlich nur Spezialisten zugängliche Dharma-Theorie. Dazu finden sich im älteren Thread etliche Hinweise.
Um an McDonalds Vortrag doch noch etwas zu bemäkeln - der erste Satz zeigt, dass das Blickfeld der Autorin doch etwas auf das in Tibet tradierte Mahayana beschränkt ist, wenn da von zwei (oder drei) „Hauptrichtungen des Mahayana“ gesprochen wird. Im ostasiatischen Mahayana (China, Korea, Japan …) tritt da zumindest noch die auf dem Avatamsakasutra basierende Huayen-Schule (jap. Kegon) hinzu - wenn man schon (das in der Tat eher eklektische) Tiantai / Tendai nicht als eigenständige philosophische Schule zählen möchte.
Um meinen eigenen Standort etwas anzudeuten - er ist stark von den Gedanken Dogen Kigens bestimmt, des Begründers der japanischen Sotoshu, der mittlerweile auch im Westen als Denker von Weltrang anerkannt und geschätzt wird. Dogen und die Sotoshu wiederum sind dem Zen / Ch’an zuzuordnen, das keine eigene philosophische Schule entwickelt hat, sondern stark praktisch ausgerichtet ist und sich in der Schulung punktuell und unsystematisch unterschiedlicher theoretischer Ansätze bedient. Als Grundlage ist hier vor allem das fernöstliche Madhyamaka (Sanlun / Sanron) zu nennen, das neben dem von McDonald genannten Madhyamakakarikas (genauer: Pingalas Madhyamakashastra, einem Kommentar zu den Karikas, der diese komplett enthält) auf einem weiteren (in der tibetischen Tradition nicht überlieferten) Werk Nagarjunas beruht, dem Dvadasadvarashastra, das z.T. die in den Karikas behandelten Probleme aufgreift und z.T. weitere Aspekte ins Spiel bringt. Hinzu kommt als drittes Grundlagenwerk (Sanlun bzw. jap. Sanron heisst einfach ‚drei Abhandlungen‘) das ebenfalls in der tibetischen Tradition nicht überlieferte Sata-shastra des Nagarjuna-Schülers Aryadeva, das sich thematisch und inhaltlich weitgehend mit dem in Tibet wohlbekannten Catuhshataka-shastra desselben Autors deckt. Die zweite „Hauptrichtung des Mahayana“, die Vijnaptimatra-Philosophie, wird im Zen nicht durch das Schriftgut des ‚mainstream‘ (der Faxiang- / Hosso-Schule) repräsentiert, sondern vor allem durch das Asvagosha zugeschriebene (vermutlich jedoch in China entstandene) Mahayana Shraddotpadashastra. Die oben (als „dritte Hauptrichtung“) erwähnte Huayan-Philosophie spielt vor allem im koreanischen Zen (Seon) noch eine bedeutende Rolle.
Aber ich schweife schon wieder ab - im Sinne der Fragestellung dürfte das alles nicht sonderlich hilfreich sein. Ich werde mich vielmehr bemühen, nicht allzu ‚schulspezifisch‘ zu antworten.
Um endlich direkt auf Dein posting einzugehen - wie oben schon angedeutet habe ich mit dem Begriff „Illusion“ in diesem Satz:
Das Ich-Bewusstsein ist eine Illusion, die mit der Geburt beginnt und dem Tod endet.
ein Problem. Zunächst einmal ist in aller Regel bei Menschen ein Ich-Bewusstsein zweifellos vorhanden, mithin ist dieses keine Illusion. Auch das ‚Ich‘ als solches ist keine Illusion - offensichtlich sitzt da ein ‚Ich‘ vor einem Computer und schreibt das hier, während ein anderes ‚Ich‘ ebenfalls vor einem Computer sitzt und das hier liest. Es ist daher sinnvoller, von ‚[falscher] Sicht‘ (ditthi) statt von ‚Illusion‘ zu sprechen. Tatsächlich sieht der Buddhismus die Grundursache für die Leidhaftigkeit des Daseins in einer kognitiven Fehlhaltung, einer falschen Sichtweise. Besonders leidträchtig ist diese Sichtweise in Bezug auf das eigene Ich. Buddha lehrte (um die oben angedeuteten komplizierten Diskussionen auf einen möglichst einfachen Nenner zu bringen), die Welt bzw. sämtliche Phänomene (suddhadharma) seien gemäß rechter Sicht als Ereignisse zu betrachten, die in Folge von Ursachen und Bedingungen (hetupratyaya) entstehen, sich entwickeln und wieder vergehen und dabei selbst in einer Kausalitätskette als zumindest potentielle Ursache anderer Ereignisse wirken. Diese Sichtweise ist natürlich auch und gerade für das ‚Ich‘ nach buddhistischer Auffassung die der Wirklichkeit angemessene. ‚Falsche Sicht‘ funktioniert hingegen anders - sie geht davon aus, dass ‚hinter‘ einem Phänomen eine Substanz steht, dessen ‚Zeichen‘ / Akzidens (nimitta) das Phänomen ist. Anders gesagt - den Phänomenen (darunter immer auch das ‚Ich‘ begriffen) wird eine inhärente Existenz beigelegt, ein Für-sich-Sein oder ‚Eigensein‘ (svabhava).
In eben diesem Sinne - als Ausdruck eines unabhängig für sich existierenden Wesenskernes, einer Substanz (man mag sie nun Seele, atman oder sonstwie benennen) - existiert das ‚Ich‘ gemäß buddhistischer Lehre nicht. Dass dem so sei, das ist falsche Sicht bzw. „Illusion“. Hingegen existiert das ‚Ich‘ aus einem dynamischen Konditionalnexus (pratityasamutpada) heraus, beständig im Wandel in Abhängigkeit von sich ebenfalls wandelnden Konditionen. Es existiert ausschließlich als ein Zusammenwirken verschiedener psychophysischer Prozesse (skandhas). Enden diese Prozesse, bleibt kein Rest-Ich oder Wesenskern übrig - lediglich andere Prozesse, die durch die skandhas angestoßen wurden, laufen in ihrer Kausalkette weiter. Nebenbei angemerkt - es ist ein Problem für sich, bei den Skandha-Prozessen ‚Grenzwerte‘ wie Geburt und Tod zu definieren. Entsprechend wird insbesondere der Tod im buddhistischen Kontext - wenn überhaupt - sehr viel unschärfer aufgefasst als in der westlichen Tradition. Die Setzung eines scharfen Punktes, wo ein Prozess qualitativ umschlägt (z.B. der Zustand ‚lebend‘ in den Zustand ‚tot‘) ist eine recht willkürliche Angelegenheit - eine Definitionssache.
Dies ist die buddhistische Anatman-Doktrin, eine im Buddhismus so zentrale (und grundsätzlich allen Schulen gemeinsame) Lehre, dass dieser gelegentlich auch ‚Anatmavada‘ genannt wird. Es existiert keine Ich-Substanz, die re-inkarniert (= wieder Fleisch wird); keine Sele, die wandert.
Nach abendländischem Muster in Subjekten gedacht
- was freilich, wie vielleicht klar geworden ist, nach buddhistischer Auffasung eine falsche Sichtweise ist -
bedeutet das in etwa, dass „kein anderer“ nun mit einer Ich-Illusion „beglückt“ wird; das ist die Erlösung.
Die „Erlösung“ („Befreiung“, moksha, ist hier die passendere Übersetzung) besteht zunächst in Erlangung rechter Sicht - also in Überwindung von Unwissenheit (avidya). Aus der Substanzlosigkeit, Bedingtheit und Prozesshaftigkeit (Leere, sunyata) von Ich und Welt folgt notwendig ihre Unbeständigkeit (anitya). Das Ich, das sich selbst als substanzhaft begreift, erfährt sein unaufhaltsames Vergehen als leidhaft, als ‚Substanzverlust‘. Dinge, die es als substanzhaft begreift und begehrt, nicht dauerhaft festhalten zu können - bzw. überhaupt nicht festhalten zu können, weil es eben keine Dinge, sondern ephemere Ereignisse sind - erfährt es als leidhaft. Als Verlust von ‚mein‘, von Geliebtem / Begehrtem. Dinge, die es als substanzhaft begreift und ablehnt, nicht abwehren zu können, weil es eben keine Dinge sondern Prozesse sind, in die das Ich selbst eingebunden ist, erfährt es als leidhaft. So wirken die drei Seinsmerkmale (trilaksana) Substanzlosigkeit (sunyata, speziell auf das ‚Ich‘ bezogen anatman), Prozesshaftigkeit (Nicht-Dauerhaftigkeit, anitya) und Leidhaftigkeit (dukhata) zusammen. Dabei ist die Leidhaftigkeit jedoch im Unterschied zu den anderen ein Merkmal in subjektiven Erfahrung, das durch höchste rechte Sicht der Wirklichkeit (bodhi, Erwachen, ‚Erleuchtung‘) aufgelöst werden kann.
Die Folge von rechter Sicht ist aber nicht nur Überwindung persönlicher Leiderfahrung - das, was gewöhnlich als ‚Leid‘ bezeichnet wird, wird nicht mehr ‚persönlich genommen‘ und daher auch nicht als leid erfahren. Rechte Sicht führt auch zu einem Handeln, das keine leidhaften Erfahrungen erzeugt. Zu einem Handeln, das heilsam (kusala) ist, weil es nicht durch auf ein vermeintlich substanzhaftes Ich bezogene Motive bestimmt ist - durch Gier und Hass, Zuneigung und Ablehnung, Lust und Unlust. Der Prozess, der das ‚Ich‘ tatsächlich ist, wird so zu einem heilsamen Prozess. Das ist gemeint, wenn von jemandem gesagt wird, er habe „den Weg erlangt“. Der Wegsucher wird zum Weg. Der Ich-Prozess ist nicht mehr Ursache und Bedingung karmischer Folgen, sondern ihrer Vermeidung. Das ist das ‚Verlöschen‘ (nirvana). Was nun nicht mehr „wiedergeboren“ wird (eigentlich ist zumeist von ‚Wiederwerden‘, punarbhava, die Rede), sind Gier und und Hass, die einerseits durch Nicht-Wissen (avidya, ich hatte es weiter oben als „kognitive Fehlhaltung“ bezeichnet) bedingt sind und die andererseits leidhafte Existenz bedingen. Der Konditionalnexus (pratiyasamutpada), das wechselseitig bedingte Entstehen, ist durch den Wegfall der Kondition ‚avidya‘ aufgelöst.
Freundliche Grüße,
Ralf