archaische Krankheitstheorien und Exorzismus
Hi,
deine Auffassungen über archaische Heilungspraktiken, unter denen Exorzismus nur eine ist, sind leider etwas - höflich ausgedückt - zu kursichtig und zu wenig von Kenntnissen untermauert, um solche abstrusen Vergleichbarkeits-Thesen diskutabel zu machen.
Zunächst einmal zu Erhellung des Hintergrundes: Für die Beurteilung archaischer Praktiken zur Heilung von nicht eindeutig somatischen Krankheiten muß man wissen, daß hinter ihnen jeweils auch Krankheitstheorien stehen. Heilungsrituale sind direkte Konsequenzen solcher Theorien, zu denen ganz wesentlich insbesondere Konzeptionen der „Seele“ bzw. der „Seelen“ des Menschen gehören. Das sind nun mal die Eigenarten antiker „Pychiatrie“. Und ein solcher Zusammenhang zwischen Krankheitstheorie und therapeutischem Vorgehen ist ja auch in heutiger Psychiatrie und Psychotherapie selbstverständlich, aber darin liegt eben gerade nicht ihre Vergleichbarkeit, sondern vielmehr ihre Nichtvergleichbarkeit.
Bis heute ist jedenfalls völlig unklar, wie die psychischen Erscheinungen eigentlich waren, die in der Antike als Besessenheit von einem Dämon „diagnostiziert“ wurden, und daher ist auch unklar, wie man heute diese Erscheinungen diagnostizieren würde.
Als Krankheitstheorien sind in der Antike bekannt:
- Zauberei (wie z.B. im Voodoo) mit dem Mittel ritueller Handlungen (magische Sprüche, symbolische Handlungen, identification magique)
- Eindringen eines krankmachenden Gegenstandes in den Körper
- Die Seele ist verlorengegangen (insbesondere in Kulturen, die dem Menschen verchiedene Arten von Seelen zuordnen, von denen einige zeitweilig den Körper verlassen, um dann zurückzukehren)
- Die Folge von Tabuverletzungen (unerlaubte Überschreitung von fanum/profanum-Grenzen)
- Ein Dämon dringt in den Körper ein und bemächtigt sich der „Seele“ oder einer der „Seelen“
Dem entsprechen die Heilungsrituale:
- Entweder sog. Kontrast- bzw. Komplementärmagie oder Analog- bzw. Spiegelungsmagie
- Entfernen des Gegenstandes aus dem Körper (auch symbolisch)
- Suchen und Befreien der verlorenen Seele (dies besonders im nordostasiatischen Schamanismus)
- Bekenntnis und Bußhandlungen
und 5. ist die einzige „Diagnose“, bei der der Dämon, der von einem Menschen oder von einem Gegenstand Besitz ergriffen hat, „ausgetrieben“ werden muß (wozu man ihn identifizieren und mit Namen kennen muß). Die dazu nötige Prozedur hieß auf griech. horkizein oder ex-horkizein, was „beschwören“ heißt und sich dann zu der Bedeutung „austreiben“ spezialisiert hat, weil man bei diesem magischen Ritual dem Dämon nämlich einen anderen Ort oder einen anderen Gegenstand außerhalb des „besessenen“ Körpers oder Gegenstandes anweisen mußte.
Diese Krankheitstheorie der dämonischen Bessenheit insbesondere von Menschen war vor allem im semitischen Kulturraum verbreitet und daher auch im jüdischen zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften.
Mit der Entwicklung des Christentums kamen aber einige Spezialisierungen hinzu, die sowohl die Konzeption der „Seele“ als auch die Dämonologie überhaupt betrafen: Der Teufel ist ja eine genuin christliche Erfindung, ein Synkretismus aus allen möglichen dämonologischen Ideen aus dem Mittelmeerraum (Griechenland, Italien, Ägypten), Mesopotamien und Persien (siehe hierzu FAQ:1518).
Diesem christlichen „Teufel“ wurde - basierend auf Vorstellungen in den paulinschen Schriften und der Apokalypse - die Fähigkeit zugeordnet, von der Seele des Menschen besitzergreifen zu können und dem entsprechend wurden die Exorzismusrituale „angepaßt“ und christianisiert. Der Teufel wird hier als direkter Gegenspieler Christi gesehen und das ist der Ausgangspunkt des Rituals.
Obwohl die psychiatrischen und psychotherapeutischen Theorien ihre Fortschritte machten (über Gassner, Mesmer, Charcot, Janet und dann weiter im XX. Jhdt. bis heute) hat sich diese christliche „pschiatrische“ Theorie bis heute als Atavismus erhalten. Dies ist insbesondere auf das Festhalten am Teufelsglauben zurückzuführen und an einem Seelenbegriff, der in modernen Psychologien gar keine Entsprechung mehr hat.
Interessant ist daher tatsächlich durchaus die Fragestellung, ob dieselben psychischen Erscheinungen, die ein Anhänger der christlichen Bessesenheitstheorie als „Besessenheit vom Teufel“ diagnostizieren würde, ein heutiger Psychotherapeut aber im Bereich schwerer Persönlichkeitsstörungen einordnen würde, mit den jeweiligen zugehörigen Therapieverfahren erfolgreicher behandelt werden könnten. Ich habe nur von Fällen gehört, in denen beides versucht wurde und beides gleichermaßen erfolglos war.
Wenn man sie schon konfrontieren möchte, dann könnte bei Mißerfolg (am selben „Fall“) ja sogar ein Kenner archaischer Dämonologien argumentieren, daß die christliche Exorzismustheorie zu simpel (um nicht zu sagen: zu primitiv) gestrickt ist, weil sie das gesamte sehr komplexe Phänomen allein auf die Gut-Böse-Dichotomie reduziert und mit Kampfstrategien agiert. Wer sich mit Persönlichkeitsstörungen auskennt, weiß sofort, daß sie daher genau das Phänomen verstärkt, das sie zu bekämpfen beabsichtigt.
Ob alle Fälle, die von einem christl. Exorzisten als Besessenheit diagnostiziert würden, von heutigen psychiatrischen Diagnoseverfahren identifiziert werden könnten, dürfte allerdings eine nicht uninteressante Frage sein.
Gruß
Metapher