Hi!
Nachdem ich von einem knapp einwöchigen Aufenthalt im schönen Havelland wieder zurückgekehrt bin, möchte ich euch folgendes Fundstück nicht vorenthalten. Es handelt sich um ein Plakat, das in Berlin und Umgebung an allen möglichen Wänden, Säulen und Masten geklebt hat:
[Plakat in und um Berlin, etwa 120 x 60 cm (A2), schwarze Schrift auf weißem Grund, rot umrandet. Zeile 1 ist fett, unterstrichen und ca. 20 mm groß; Zeile 2 ist fett und ca. 12 mm groß; der Fließtext ist 7 mm groß; die letzte Zeile ist 3 mm groß; Rechtschreib- und Interpunktionsfehler entsprechen dem Originalplakat]
Bekanntmachung
Ausgangssperre für Männer am 09.Mai 2002
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Für die Zeit vom 08.Mai 2002, 23.00 Uhr bis zum 10.Mai 2002, 01.00 Uhr wird im gesamten Stadtgebiet eine Ausgangssperre für alle deutschen, heterosexuellen Männer verhängt.
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Ausnahmegenehmigungen für besondere Berufsgruppen wie Ärzte und Feuerwehrmänner können bei der zuständigen Behörde bis zum 03.Mai 2002 beantragt werden.
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Außer dem Arbeitsrecht bleiben alle weiteren Gesetzte von der Verfügung unberührt.
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Zur Durchführung und Durchsetzung der Ausgangssperre wird auf die Erkenntnisse der Meldestellen und anderer Behörden zurückgegriffen.
Am so genannten „Herrentag“ häufen sich seit Jahren sexistische, rassistische, faschistische und antisemitische Pöbeleien, Übergriffe und Anschläge. Bei den Tätern handelt es sich fast ausnahmslos um deutsche, heterosexuelle Männer. Jahr für Jahr ziehen diese alkoholisiert durch die Straßen und praktizieren Gewalt gegen Frauen, Lesben, Schwule, MigrantInnen, Behinderte und andere Menschen die sie nach ihrer patriarchal-nationalistischen Ideologie für minderwertig halten. Am so genannten „Männertag“ tritt diese in Deutschland zur Normalität gewordene Gewalt in potenzierter Form auf. Die Berliner Polizei ist auf Grund ihrer patriarchalen Struktur und der reaktionären Weltanschauung des Großteils der BeamtInnen nicht in der Lage solcherart Übergriffe zu unterbinden. Aus diesem Grund haben wir und zu dem ungewöhnlichen Schritt der Ausgangssperre entschlossen. Ausschlaggebend für die Entscheidung waren zudem die positiven Erfahrungen mit dem Modelprojekt „Platzverweis aus der Wohnung in Fällen häuslicher Gewalt“. Bei diesem von der ehemaligen Frauensenatorin Gabriele Schöttler und dem Polizeipräsidenten Gerd Neubeck gemeinsam initiierten Projekt wurden gewalttätige Männer bis zu 7 Tage der Wohnung verwiesen. Denn die auch am so genannten „Vatertag“ auf die Straße getragene sexistische Gewalt findet zum überwiegenden Teil im privaten Raum statt. So stammen die Täter sexualisierter Gewalt zum Großteil aus dem Bekanntenkreis der betroffenen Frauen und Kinder. Mit der Ausgangssperre für Männer soll diese Gewalt nicht wieder in den nicht-öffentlichen, familiären Raum verdrängt werden um sie damit unsichtbar zu machen. Vielmehr soll der öffentliche Raum an diesem Tag als Schutzraum für die Betroffenen etabliert werden. Der Männergewalt soll an diesem Tag ganz praktisch aber vor allem symbolisch etwas entgegengesetzt werden. Es soll aufgezeigt werden, dass rassistische, sexistische, … Übergriffe immanenter Teil der Verhältnisse sind in denen wir leben und die von jedem und jeder einzelnen mehr oder weniger getragen werden. Am 09.Mai 2002 sollen im gesamten Berliner Stadtgebiet Veranstaltungen, Konzerte, Partys, usw. von und für Frauen, Lesben, Schwule, Behinderte, MigrantInnen und Kinder stattfinden. Damit soll den Tätern der (öffentliche und private) Raum genommen werden, den sie sonst so selbstverständlich in Anspruch nehmen.
Im April 2002, Gregor Gysi (Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen)
Satire V.i.S.d.P.: Sabine Koch, Wedekindstr, 22, 10243 Berlin
Man stelle sich gleichen Text in Bezug auf eine Ausgangssperre für Frauen vor! Das Wörtchen „Satire“ dient IMVHO nur als Strafverfolgungsverhinderungsmaßnahme.
Interessant dazu ein Beitrag der TAZ zum Thema „Gewalt und Geschlecht“ vom 30.04.2002, der also etwa zur gleichen Zeit wie das Plakat erschien.
(Link: http://www.taz.de/pt/2002/04/30/a0091.nf/text )
Am Montag, dem 6. Mai 2002 - also wieder der Zeitpunkt der Plakatierungsaktion -, bezog das ARD-Magazin „Report (aus Mainz)“ Stellung gegen das Bestreben, Männlichkeit und Gewalt in eins zu setzen, und berichtete über die steigende Zahl immer brutaler werdender Mädchenbanden in Deutschland. Opfer wie auch Streetworkerinnen berichteten, daß Mädchen auch vor schweren
Körperverletzungen ncht mehr zurückschrecken und sich insbesondere auf Schwächere stürzen, darunter häufig auch alte Menschen. Täterinnen zeigten in unbekümmertem Stolz ihre wirkungsvollsten Kampfgriffe. Daraufhin erklärte der Jugendforscher Böttger, warum diese Täterinnen eigentlich Opfer seien. Völlig außen vor blieb interessanterweise die im Zusammenhang mit Jungengewalt andauernd thematisierte Verantwortung der Medien - und das, obwohl weibliche Gewalt heute deutlich eher als „cool“ und politisch korrekt verkauft wird als männliche. Der Beitrag schloss mit der Bemerkung, dass die Sozialarbeiter mit dem Problem der weiblichen Gewalt allein gelassen werden.
In einer Gesellschaft, die Gewalt auf Biegen und Brechen als männlich charakterisieren will, ist dieser Teil der Wirklichkeit offenbar nicht vorgesehen. Es kann eben nicht sein, was nicht sein darf.
Grüße
Heinrich