Das Sonett von Clemens Setz
Ein Sonett, das ist ein vierzehnstöckiges
Bürogebäude aus Glas und Beton.
Und hier und da segelt durch ein eckiges
Fenster ein Flugzeug davon.
Es gibt einen Lift, der im Hals stecken bleibt,
es gibt Wolken, die durch die Fassade ziehen, ein Dach,
ein weiteres Fenster, in dem jemand sitzt und schreibt,
längst tot, aber immer noch wach.
Und Hampelmänner: Fensterputzer wischen mehrere Tage
lang zärtlich Gesichter hinter dem Glas:
weinende und lachende, die sie glauben zu kennen.
Ein Sonett hat Balkone und abgeknickte Antennen.
Und eine die schweigende Straße
verneinende Gegensprechanlage.
Liebe Eva, deine Beiträge haben mir sehr geholfen, danke! Das Gedicht beginnt mich zu interessieren.
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Liebe Lisa, warum hast du uns den Streich gespielt, das Gedicht völlig falsch aufzuschreiben? So ist seine Struktur extrem schwer erkennbar! Auch für dich! Oder hat Setz sein Sonett tatsächlich absichtlich „falsch“, wie ein Rätsel, aufgeschrieben?
Wenn man es richtig aufschreibt (ist es so wie oben?) erkennt man: Doch, es ist sehr wohl ein Sonett, 14 Zeilen, und eben auch ein (fast) durchgehendes klassisches Reimschema.
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Dank dir, Eva, verstehe ich nun den „äußeren Anlass“, den viele Gedichte haben (oft bei Goethe, Eichendorf z.B.). Man steht vor einem Bürohaus, sieht ein Flugzeug sich im Glas spiegeln und Wolken scheinen durch den Fassade zu gehen. Das ist aber ein wichtiger, wenn auch nur äußerer Ausgangspunkt, von dem aus Gedichte entstehen können.
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Liebe Eva, das „jeder seine eigene Interpretation entwickelt“ geht mir viel zu weit. Natürlich darf jeder beim Lesen eines Gedichtes denken, was er will. Man kann bei Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die große Fracht“ gerne an Spaß beim Segeln denken. Das hat aber dann mit dem Gedicht nicht das Geringste zu tun (da geht es um Abschied, Ende, Tod). Große Werke können unterschiedlich gesehen werden, rätselhaft sein, mehrdeutig, aber keinesfalls beliebig interpretiert werden.
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Von daher ist mir deine, miezekatze, Interpretation von der anonymen Großstadt nicht stichhaltig. Kritik am modernen Leben ist ein sehr beliebtes Motiv von Interpreten, es muss aber auch passen!
In diesem Sonett sind ja negative und positive Bilder (segeln, Wolken, zärtlich, lachende) enthalten!
Man kann mehrere Gegensatzpaare finden:
weindende - lachende
Balkone (offen) - abgeknickte Antennen (keine Kommunikation)
längst tot - immer noch wach
eventuell auch: Glas (durchsichtig) - Beton (undurchsichtig)
Lift (Bewegung) - stecken bleibt
- Das Gedicht drückt also in jedem Fall Ambivalenz aus: Isolation/ Störungen der Kommunikation, aber auch Möglichkeiten (der Dichter, der längst tot ist, wird doch immer wieder noch gelesen, könnte man interpretieren)
Also eventuell ist das Thema der Umgang des heutigen Menschen mit Sonetten/ Gedichten/ alten/erneuerten Formen, die zum Teil unverständlich erscheinen, zum Teil aber doch offen sind/ sein könnten?
Das „zärtlich“ wirkt ironisch aufgrund der Hampelmänner, die „glauben, zu kennen“ (Interpreten, die Gedichte bewundern, ohne sie zu verstehen?)
Den letzten, sicherlich wichtigen Schlusssatz finde ich rätselhaft, vielleicht ist er mit Absicht mehrdeutig: Die Gegensprechanlage „verneint“ die Straße? Oder das Schweigen?