Gnosis und Judentum - ein Überblick
Hi Maria.
Denn eine „Gnosis“ als religiöse Bewegung vergleichbar mit Judentum oder Christentum hat es meinem Verständnis nach nie gegeben. Möglicherweise gab es irgendeine Gruppierung, die so dachte wie du ausgeführt hast,
Was heißt „möglicherweise“? Diese Unsicherheit in der Sache sowie deine sehr einseitige Auffassung des Begriffs ´Gnosis´ zeigen mir, dass du nur ein oberflächliches Verständnis der Gnosis hast und an religiöser gnostischer Literatur, wie sie z.B. durch die Nag-Hammadi-Funde vorliegt, überhaupt nicht interessiert bist. Dass der gnostische Christus einen doketischen Scheinleib hat, gehört zu den Basics des Wissens über die Gnosis. Du aber weißt es nicht.
Im gnostischen ´Dreiteiligen Traktat´ (NHC I,5) aus dem Nag-Hammadi-Fund heißt es über den Erlöser:
Hinsichtlich dessen, was er vorher war, und dessen, was er ewig ist, ein Ungezeugter, Unleidender aus dem Logos, der in das Fleisch gekommen war, er kam nicht in ihre Gedanken. Und dies ist die Rede, indem sie eine Wirksamkeit empfangen haben, um zu sprechen über sein Fleisch, welches im Begriff war, offenbar zu werden. Sie sagen, dass es ein Erzeugnis von ihnen allen ist, aber dass es vor allen Dingen aus dem pneumatischen Logos stammt, welcher die Ursache der Dinge, die entstanden sind, ist, von dem der Erlöser empfangen hatte sein Fleisch. Er hat es zwar empfangen bei der Offenbarung des Lichtes gemäß dem Wort der Verheißung, bei seiner Offenbarung in der Art des Samens.
Der Erlöser hat sein Fleisch also vom „pneumatischen Logos“ empfangen - sein Leib ist doketisch.
und möglicherweise wurde sie auch einem wie auch immer zustande gekommenen Begriff „Gnosis“ zugeordnet. Aber dies als „die Gnosis“ zu bezeichnen, ist schon mal grundfalsch.
Rudolph, Lahe und Markschies schreiben „die Gnosis“, wenn es um gnostische Systeme im Umfeld bzw. innerhalb des Christentums geht. Allein damit ist dein „Vorwurf“ (ich kann das nur noch in Anführungszeichen setzen) bereits widerlegt. Zusätzlich noch folgendes:
Seit Anfang des 20. Jh. hat sich durch W. Boussets Werk „Hauptprobleme der Gnosis“ (1907) der Gebrauch des Begriffs „Gnosis“ für die in Frage stehenden Systeme allgemein durchgesetzt. Forscher wie K. Rudolph und K.H. Schenke haben den Begriff „Gnostizismus“ scharf kritisiert, da er einen abwertenden Beigeschmack hat, und sehen ihn auf einer Linie mit der Tendenz der alten Ketzerbekämpfer, die gnostischen Systeme zu negativieren.
„Die Gnosis“ ist ein völlig legitimer Begriff, wenn es um eine bestimmte Strömung geht, die im christlichen Umfeld zu verorten ist und aufgrund gemeinsamer Merkmale der unterschiedlichen Systeme auch einen hinreichend einheitlichen Nenner aufweist.
Man muss also damit leben, dass „Gnosis“ zwei Dinge meint: 1) religiöse Wahrheitserkenntnis, und 2) eine bestimmte Gruppe religiöser Systeme im christlichen Umfeld mit hinreichend starker Gemeinsamkeit. Bei 1) ist in der Regel von „Gnosis“ die Rede (ohne Artikel), bei 2) heißt es „die Gnosis“.
Seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts begannen christliche Theologen…
Präziser: katholische Theologen. In dieser Zeit bezeichneten sich auch viele Gnostiker als Christen.
… in „stark vergröbernder Verzeichnung“ verwandte Gruppen unter dem Begriff „Erkenntnis“ zusammenzufassen. Pionier bei dieser rücksichtlosen Ausweitung der Bezeichnung im polemischen Interesse war der Kleinasiate Irenaeus, der in Lyon lebte.
Das ist etwas komplexer. Irenäus unterschied zwischen „wahrer“ und „falscher“ Gnosis. Die wahre sprach er der Kirche zu, die falsche den ´Häretikern´ (siehe Lahe, Die Berührungspunkte zwischen Gnosis und Judentum, 2004, S.10). Die Gnostiker bezeichneten sich selbst als „Wissende“, aber auch als „Erwählte“, „Heilige“, „Pneumatiker“, „Kinder des Brautgemachs“ usw. (ebd.)
In der Philosophie des Athener Philosophen Plato wird die zentrale Stellung der Erkenntnis deutlich und in ein strenges philosophisches System eingebunden.
(Wenn ich im folgenden von „der Gnosis“ schreibe, dann meine ich die Gnosis im engeren Sinne)
Der Platonismus war ein wichtiger Faktor bei der Herausbildung der Gnosis. Wahrscheinlich gelangte die griechische Terminologie über Philon von Alexandria in die gnostischen Lehren. Folgende Themen sind der platonischen Philosophie und der gnostischen Religion gemeinsam:
- Gott vs. Seele
- Demiurg vs. unbekannter Gott
- Ursprung des Bösen
- Abstieg und Rückkehr der Seele
- Schicksal vs. Freiheit
- Geist vs. Materie
- Seele vs. Leib
- Gott vs. Welt
(siehe Lahe, ebd., S. 33)
Deutlich wird, dass bereits von Plato an, die strengen neuzeitlichen Abgrenzungen zwischen Philosophie und Religion bzw. Theologie an dieser Stelle nicht greifen.
Man sollte an dieser Stelle den Religionsbegriff differenzieren. Platon kritisierte mythische Religion und favorisierte in letzter Konsequenz die Mystik („Ungeschriebene Lehre“). Das ist ein erheblicher Unterschied. Platon war (vermutlich) Teilnehmer bei den Eleusinischen Mysterien, auf deren mystischer Erfahrung seine „ungeschriebene Lehre“ zurückgehen soll.
Prinzipiell sind alle Menschen fähig, die sinnlich wahrnehmbare Welt zu durchschauen, aber nur diejenigen, die zu tieferer Erkennntnis fähig sind, gleichen sich, soweit es überhaupt möglich ist, Gott an.
Platon unterscheidet zwischen einem absolut jenseitigen Gott (höchstes Prinzip) und einem minderen Gott (dem die Ideen in Materie umsetzenden Demiurgen). Dieser dualistische Gedanke wird von den späteren Gnostikern übernommen (die den atl. Jahwe zum Demiurgen degradieren). Das aber ist nur Platons in den Dialogen „geschriebene“ Lehre. Seine „ungeschriebene“ geht über die geschriebene deutlich hinaus, sofern man das rekonstruieren kann, und betont die Kategorie des ´Einen´ (später von Plotin ausgearbeitet). Mit dem gnostischen Dualismus hat dieses Eine natürlich nichts mehr zu tun, was einer der Gründe für Plotins Ablehnung der Gnosis war.
Immerhin geht es um eine „Angleichung an Gott“, die man in einer Lebensgemeinschaft mit Gleichgesinnten zu erreichen sucht.
Ja, das ist der mystische Grundgedanke. Heikel ist dabei der Gottesbegriff, weil „Gott“ in mystischer Sicht nur negativ beschreibbar ist, gleichzeitig aber begrifflich eine Personalität suggeriert, die dem mystischen Denken fremd ist.
Im ´Dreiteiligen Traktat´ (NHC I,5) heißt über die ´erleuchtete´ Rückkehr des Menschen zu seinem geistigen Ursprung dementsprechend:
Die Wiederherstellung aber ist am Ende, nachdem die Allheit offenbart hat, was sie ist, der Sohn, der die Erlösung ist, das heißt der Pfad zu dem unbegreifbaren Vater, das heißt die Rückkehr zu dem Zuerst-Existierenden, und (nachdem) sich die Allheiten offenbart haben in diesem, in der eigentlichen Weise, welcher der Unverstehbare und der Unaussprechbare und der Unsichtbare und der Unbegreifbare ist, so dass er Erlösung erlangt.
Trotzdem kann man bei der Gnosis nicht von einer vollständigen Mystik sprechen, eben wegen ihres Geist-Materie-Dualismus.
Eine vergleichbare hohe Schätzung von „Gnosis“ („Erkenntnis“) findet sich in der jüdischen Tradition, vor allem die griechische Übersetzung der sogenannten „Weisheitsschriften“, die im späteren Verlauf der Antike teilweise in den Kanon der Bibel des Judentums und dann auch des christlichen „Alten Testaments“ aufgenommen wurden.
Der jüdische Einfluss auf die gnostischen Systeme ist ein weites Feld. Ich gebe einen Überblick:
- Apokalyptik:
Pessimistische und dualistische Weltauffassung. Das gegenwärtige Äon wird von bösen Mächten regiert (Teufel, Archonten und Dämonen). Erkenntnis der Geheimnisse Gottes hat nur der Eingeweihte, und nur er kann erlöst werden. Die Menschen sind in Fromme und Gottlose geschieden (in der Gnosis: Pneumatiker versus Hyliker). Gott ist von der Welt durch eine Hierarchie von Zwischenwelten getrennt und braucht Mittelswesen (sophia, logos), um auf die Welt einzuwirken.
- Weisheitsliteratur:
Skeptische Grundhaltung. Gott und Welt sind entzweit und das Vertrauen ins irdische Dasein verlorengegangen. Der Weise ist fremd in der Welt. In der Weite zwischen Gott und Mensch tummeln sich Engel und Dämonen.
Die Gnosis übernimmt die jüdische Gestalt der Sophia (Weisheit), eine Anverwandlung der ägyptischen Göttinnen Isis und Ma´at. Sophia steigt zur Erde hinab und kehrt in den Himmel zurück - in der Gnosis aber deutlich tragischer ausgemalt als in der Weisheitsliteratur. Ihre gnostische Darstellung erfolgt entweder als „Paargenossin“ des Urmenschen Christus oder, in der Mehrzahl der Texte, als ein Äon unteren Ranges, der ohne Teilnahme eines Paargenossen den Demiurgen Jaldabaoth zeugt, den Schöpfer der dunklen Materiewelt. Um ihren Fehler wiedergutzumachen, steigt Sophia in die Finsterwelt hinab, bleibt aber dort gefangen und kann nur durch Reue und Buße wieder zurück ins Licht gelangen. Ein anderer Mythos schildert, wie sie sich voller Begierde in das Licht des Guten Gottes stürzt und dabei aus der geistigen Welt herausfällt. Aus ihrem Weinen entsteht die materielle Welt. Bei all dem spielt sie eine zentrale Rolle bei der Erschaffung des materiellen Kosmos.
Für Gilles Quispel (nach Lahe, ebd., 148) gibt es einen Zusammenhang zwischen der Sophia als Gattin Gottes bzw. des Urmenschen Christus (in Weisheitsliteratur und Gnosis) und der Verbindung von Jahwe und Aschera, wie diese aus hebräischen Inschriften aus dem 8. Jh. v.u.Z. hervorgeht. Als „Anat“ (syrisch-ägyptische Göttin) wurde von jüdischen Soldaten in Elephantine die Gattin von Jahwe noch im 5. Jh. v.u.Z. verehrt. Diese altisraelitische Vorstellung könnte, neben den ägyptischen Vorbildern Isis und Ma´at, zur Herausbildung der weisheitlichen Sophia-Gestalt beigetragen haben.
- Jüdische Mystik:
Es gibt wichtige Unterschiede zur Gnosis, z.B. den schon oben angedeuteten, dass Mystik grundsätzlich nicht-dualistisch ist. Vor allem die rabbinische Merkabah-Mystik (1. und 2. Jh. u.Z.) und die Hekalot-Traktate (zwischen 200 und 600 u.Z.) liefern der Gnosis aber wichtige Bausteine: die göttliche Thronsphäre (merkabah) und der (nicht ungefährliche) Aufstieg der Seele durch sieben Himmel und sieben Paläste zur „Herrlichkeit Gottes“.
Was iranische Einflüsse angeht, die entweder direkt oder über das iranisch modifizierte Judentum die Gnosis prägten:
Einen dualistischen Input hat die Gnosis durch den Zoroastrismus sicher erhalten. Es gibt aber Unterschiede: Der zoroastrische Dualismus ist ethisch, der gnostische ist ontologisch. Dort kann sich der Mensch für das Gute oder das Böse entscheiden, hier ist er prädeterminiert als erlösbar (Pneumatiker) oder unerlösbar (Hyliker). Die dazwischen positionierten (nur glaubens-, aber nicht wissensfähigen) Psychiker können eventuell erlöst werden. Zu den Psychikern zählten in den Augen der Gnostiker die Anhänger der römischen Kirche.
Chan
PS.
In Anbetracht deines (bisherigen) Kenntnisrückstandes in Sachen Gnosis ist mit diesem Artikel meine Teilnahme an diesem Thread abgeschlossen.