Das ist sicherlich denkbar, aber letztlich wäre das Problem Putin und post-diktatorische Bevölkerung dann immer noch vorhanden gewesen. Wie man in vielen anderen Ländern (inkl. Deutschland; sowohl nach Ende des Kaiserreiches als auch im Osten bis heute) sehen kann und konnte, sind junge Demokratien instabil und neigen in den ersten Jahren und Jahrzehnten gewaltsam oder auch auf demokratischem Wege ausgehebelt zu werden. Im Falle Russlands heißt das konkret, dass bei allen drei Duma-Wahlen bis 1999 eine extreme Partei die meisten Stimmen erhielt - darunter zweimal die kommunistische Partei (wer sich da an Ostdeutschland erinnert fühlt: kein Zufall). Bei einem Systembruch wie vom autokratischen Pseudosozialismus zum kleptokratischen Oligarchenkapitalismus, von einer Autokratie zu einem post-kriegerischen Demokratieexperiment (wie in Deutschland in den 20ern und 30ern), von einem Kolonialsystem zu einem stammesorientierten Vielvölkerstaat mit demokratischem Anstrich kommt es immer auch zu wirtschaftlichen Verwerfungen. Die „früher war alles besser“-Denkweise führt dazu, dass diese Länder die Demokratie nicht unmittelbar als Freiheit und Erfolg wahrnehmen, sondern dass nach starken Anführern oder der demokratischen Fortsetzung des alten System gestrebt wird.
Wir hier im Westen neigen dazu, nach dem erfolgreichen Einzug der Demokratie einen Haken an die Sache zu machen und den Dingen ihren Lauf zu lassen (s. auch Mittlerer Osten, arabischer Frühling, Südamerika, Afrika). Im Falle Russlands kam noch hinzu, dass wir da auf einmal einen lustigen Vogel sahen, der dem Westen (und dem Alkohol) sehr zugewandt war. Was wir kaum bemerkten, war der wirtschaftliche Niedergang des post-sowjetischen Russlands, der letztlich zum Niedergangs Jelzins, zur Machtübergabe an Putin und zur Entstehung der Partei Einiges Russlands führte, die Garant für Putins Macht war und das erklärte Ziel hatte, die Reformen des ersten post-sowjetischen Jahrzehnts zu überwinden.
Hätte der Westen an der Entwicklung etwas ändern können? Schwer zu sagen. Wir haben 30 Jahre Wiedervereinigung hinter uns und im Osten wählen immer noch 25-35% links- und rechtsextreme Parteien. Wir hatten den seit >50 Jahren demokratischen Westen, der die Veranstaltung stabilisierte. Ohne den wäre der Osten heute keine Demokratie mehr. Was also hätten wir in Russland in den 90ern bewegen können, um diesen typischen Destabilisierungsprozess einer jungen Demokratie vermeiden oder abmildern zu können? Eher nichts.
Wäre Russland in der NATO unter den Umständen gut aufgehoben gewesen? Wohl kaum. Wir sehen seit 20 Jahren und auch aktuell, welche Probleme einzelne autoritäre, pseudo-demokratische Staaten in auf Einstimmigkeit ausgelegten überstaatlichen Institutionen erzeugen können.
Mit Russland hätte es keine der humanitären Missionen der NATO gegeben. Russland hätte Zugang zu modernster westlicher Militärtechnik erhalten. Russland wäre immer noch ein instabiles Land mit einem Hang zu politischem Extremismus und Autokratie geblieben. Es hätte Putin gegeben und es hätte weiterhin das Nachhallen sowjetischer Großmachtsphantasien gegeben.
Wären die Kriege gegen die Ukraine und Georgien ausgeblieben? Schwer zu sagen. Wenn Putin/Russland die NATO-Mitgliedschaft angestrebt hätte, um seinen Zielen (Wiederherstellung der Sowjetunion) näherzukommen, dann hätte es die Kriege mit Sicherheit gegeben und zwar deutlich früher - nämlich bevor nahezu der gesamte Warschauer Pakt Mitglied der NATO war.
Vermeidbar wäre der Krieg gegen die Ukraine nur gewesen, wenn die NATO auf die Osterweiterungen verzichtet hätte. Diese dienten letztlich aus Sicht der NATO nur dazu, erstens Russland ans Bein zu pinkeln und zu zeigen, wer den Kalten Krieg gewonnen hat und zweitens, den immer noch potentiellen Gegner Russland strategisch zu schwächen bzw. ihm zu zeigen, dass die NATO noch da ist und sich nun nach und nach den WP einverleibt. Die militärische Stärke hat sich durch die Osterweiterungen nicht substantiell erhöht.
Natürlich sollte jedes Land haben, über die Mitgliedschaften in Bündnissen selbst zu entscheiden, aber zu glauben, dass die Osterweiterungen Russland nicht provozierten (und wahrscheinlich in gewisser Weise auch provozieren sollten), ist naiv.
Es gibt (mindestens) zwei sehr interessante Vorträge des renommierten (aber auch insbesondere in den USA (bzw. der US-Politik) nicht unumstrittenen) Politikwissenschaftlers Mearsheimer zum Thema Ukraine:
2015: Why is Ukraine the West’s Fault? Featuring John Mearsheimer - YouTube
2020: John J Mearsheimer: The Great Delusion - YouTube
Und noch ein Interview von neulich:
John Mearsheimer On Who Gains The Most From The Ukraine-Russia War & What Could End Putin’s Assault - YouTube