Letztes Jahr wurden wir unerwarteterweise von einer „Zeitenwende“ heimgesucht. Hatte ich bis dahin in meinem 70jährigen* Leben nicht nicht gehört (oder nicht abgespeichert).
Aber das war doch bestimmt nicht die erste (und letzte) Zeitenwende hier in Europa.
Hat jemand eine tabellarische Aufstellung aller bisherigen Zeitenwenden mit Jahreszahl und Ereignis?
Beste Grüße, FatzManiac
*) Ich stelle erstaunt und dankbar (wem auch immer) fest, dass ich das große Glück hatte, kurz nach dem Hitler’schen Weltkrieg geboren worden zu sein und mehr als 70 Jahre in Mitteleuropa kriegsfrei gelebt zu haben. Das können nicht viele Generationen davor von sich sagen (Der „kalte Krieg“ zählt da nicht. Der hatte auch Vorteile, weil da klar war, wer Freund und Feind war. Da hat nicht jeder beliebige Terrorfuzzy reingegrätscht …)
Meinst Du die Erdzeitalter?
Oder die Scholz’sche Zeitenwende, welche nur eine Wortschöpfung ist, die möglichst bedeutend klingen soll?
Da eine echte Zeitenwende selten von einer Sekunde auf die andere erfolgt (Ausnahme vielleicht der Meteoriteneinschlag 60 Millionen vor Christus) kann man Dir in dieser Hinsicht vermutlich nicht mit genauem Datum und speziellen Ereignis dienen.
Wie lang darf denn die Aufstellung sein? Und welche Länder und Populationen darf/soll sie umfassen? Aus wessen Position sollen die Ereignisse betrachtet werden?
nur mal so als Denkanregung:
für Deutschland und Europa war der Untergang des „Sozialismus in den Farben der DDR“ eine bedeutende Zeitenwende (in der Rückschau aller folgenden Ereignisse und Wendungen). Auf das Leben von Menschen in Argentinien, Laos oder Nigeria mag der Einfluss deutlich geringer gewesen sein.
11…09.2001. Wenn das mal keine Zeitenwende für Bewohner des „Westens“ und einiger Staaten in Asien war. Aber auf Brasilien oder Vietnam dürfte das deutlich weniger ausgestrahlt haben.
Davon mal ganz abgesehen, halte ich Scholz‘ Zeitenwende hauptsächlich für einen populistischen Propagandabegriff. Gib dem Kind einen griffigen, kurzen Namen, wiederhole den alle Nase lang und die Menschen werden Dir nachlaufen, wie die Ratten dem Fänger von Hameln…
@ Cook1: Nein, ich meine nicht die Erdzeitalter (Äonen), sondern das, was gemeint ist, wenn Herr Scholz (et al.) von Zeitenwende spricht und die Medien ihm freudig nachplappern, weil endlich wieder eine neue Sau durch’s Dorf getrieben wird.
Mich hat der Begriff erstaunt, da ich mich nicht erinnern kann, ihn vorher schon mal gehört zu haben. Der Einfachheit halber habe ich ihn mir übersetzt mit: „Bis jetzt gab es genug vom Größenwahn und der Lust an umfassender Zerstörung distanzierte, friedenliebende Menschen, so dass ein langer Friede möglich war. Aber jetzt gibt’s (endlich wieder) Krieg! Hurra!“
Da lasse ich mich überraschen. Mich interessiert einfach: "Welche Ereignisse haben so viel Bedeutung, dass man sie „Zeitenwende“ nennen kann?
Da ich hier in Europa lebe, interessieren mich Ereignisse, die entweder hier bei uns stattfanden oder aber gravierende Folgen auf uns (Rest-)Europäer hatten.
Ja, so etwas hatte ich mir schon gedacht. Aber bevor ich mich bei Partygesprächen lächerlich mache, möchte ich mich ein wenig rückversichern.
wie wenig man solche grundsätzlichen Änderungen der Umstände auf einzelne Ereignisse beziehen kann, wird Dir vielleicht klarer, wenn Du Dir vor Augen führst, wie viele verschiedene Angaben es zu den konkreten Ereignissen gibt, die (a) den Anfang und (b) das Ende des Mittelalters bezeichnen sollen. Dass es sich bei den „Zeitenwenden“ Antike > Mittelalter und Mittelalter > Neuzeit zweifellos um ganz bedeutende Änderungen der Umstände handelte, liegt auf der Hand. Aber welches konkrete Ereignis im Einzelnen Anfang und Ende des Mittelalters bestimmt haben soll, ist schlicht nicht objektiv bestimmbar und hängt sehr stark von Wertung und Meinung des Einzelnen ab.
Und selbst bei den jüngsten „Zeitenwenden“, konkret der Ablösung der Aristokratien durch bürgerliche Republiken, gibt es keine konkrete Datierung im Detail: Was stand denn am Beginn der ersten bürgerlichen Republik in Europa? Der Sturm auf die Bastille? Die Hinrichtung Louis XVI. ? Oder vielleicht die Veröffentlichung der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika?
Und soeben habe ich - nach einmal drüber schlafen - beschlossen, alle, die noch einmal das Wort „Zeitenwende“ in den Mund nehmen, als nichtssagende wichtigtuerische Schwätzer zu betrachten - egal ob Bundeskanzler, Papst, Putin, Pornodarsteller oder Reinigungsfachkraft (m/w/d) auf’m Bahnhofsklo.
Ab sofort ist es für mich ein Nicht-Wort.
Und wenn einer damit in WIrklichkeit meint: „Ab jetzt herrscht Krieg!“ dann soll er das gefälligst auch so sagen!
Alle anderen Veränderungen (außer Kriegen) geschehen fast immer schleichend und über einen gewissen Zeitraum. Da wendet sich nix. Allenfalls wälzt es sich mehr oder weniger schnell im Morast der Menschheitsgeschichte herum. „Umwälzung“ würde ich bestehen lassen, aber die kann Monate, Jahre, Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte dauern.
Kannst Du so handhaben. Natürlich kann man das Wort übertrieben oder pathetisch finden. Ich persönlich finde den Umstand, dass ein Land in Europa ein anderes überfällt, um sich dieses einzuverleiben und dessen Bevölkerung, Kultur und Sprache zu vernichten, durchaus für beachtlich genug, um es den Vorgang als Zeitenwende zu bezeichnen.
Eigentlich glaubten doch wohl die meisten, dass spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs diese Zeiten, in denen der Stärkere über die Grenzen in Europa, Leben und Tod, Frieden und Krieg bestimmt, zumindest für unsere Lebzeiten vorbei sind.
Dass wir nun in diese eher doch barbarischen Zeiten zurückgekehrt sind (und zwar eher noch 110 Jahre in die Vergangenheit als 85), ist schon ein erstaunlicher Vorgang, der eine besondere Bezeichnung durchaus verdient hat.
Aber natürlich kann man Scholz auch doof, den Begriff für übertrieben, die Ukraine für unwichtig und die Russen für Kämpfer für die gerechte Sache (hier: Zurückdrängung der angeblich imperialistischen USA und NATO) halten. Ein jeder so wie er mag.
Ich bin da wohl etwas simpler gestrickt und sage stattdessen: „Da hat mal wieder der Wahnsinn gesiegt, und der Oberwahnsinnige hat einen Krieg vom Zaun gebrochen.“ (vergleichbar mit Hitler damals).
Leider ist es mit dem Wahnsinn bei Staatsoberhäuptern auch nicht anders, als bei uns einfachen kleinen Menschen (nur, dass wir bei weitem nicht so viel Schaden damit anrichten können): Der Wahn kann sich jahrzehntelang zurückgehalten bzw. latent geschlummert haben. Das lässt das Umfeld (in diesem Fall die angrenzenden Länder/Staaten) des Wahnsinnigen in spe glauben, dass der Betroffene geheilt ist und keine Gefahr mehr von ihm ausgeht.
Aber mit der Heilung ist es so eine Sache. Es hat ja schon vor paar’n siebzig Jahren, im tausendjährigen Reich nicht funktioniert. Obwohl Zig Millionen Deutsche über Jahre hinaus täglich wer weiß wie oft verzweifelt die Beschwörungsformel „Heil’ Hitler!“ herausschrien, ist es niemandem gelungen, Hitler zu heilen. Ich denke, das wird jetzt bei Putin & Co genau so sein: Nur der Tod kann den Ausbruch des Größenwahns heilen.
Dieser Glaube hatte ja auch etwas angenehm Beruhigendes: Die Menschen konnten sich wieder ganz ins Business stürzen und hemmungslos Profite machen - auch mit den „ehemaligen Feinden“. Dass dabei nicht selten die lauernde Gefahr im Hintergrund übersehen wird, ist irgendwie verständlich, wenn auch realitätsfern.
Hm, mich wundert aber doch, warum ich im Zusammenhang mit Hitlers Krieg gegen den Rest der Welt nie von „Zeitenwende“ gelesen habe. Aber vielleicht habe ich ja auch nur nicht aufmerksam genug hingesehen.
Aus Gründen des Selbstschutzes habe ich mir schon lange abgewöhnt, Menschen, die großen Schaden anrichten können, für doof zu halten. Es ist nie gut, andere zu unterschätzen. Es kann sich böse rächen.
Aber damit der Krieg gegen die Ukraine nicht als etwas absolut Einmaliges* in die Geschichte der Menschheit eingeht, schlage ich doch vor, alle zukünftigen (und am besten auch vergangenen) Zeitenwenden durchzunummerieren und mit Zeitpunkt sowie Ereignis festzuhalten.
Wir sollten uns endlich eingestehen, dass die ganze Menschheitsgeschichte eine Aneinanderreihung endloser Wiederholungen ist, wobei diesen Wiederholungen nur andere Fassaden und andere Schlagworte verpasst worden sind.
*) M. E. kann es nur ein einmaliges Ereignis geben, das den Begriff „Zeitenwende“ wirklich verdient: Den Zeitpunkt an dem es der Menschheit gelungen sein wird, sich vollständig auszulöschen und den Planeten unbewohnbar zu machen. Vielleicht müssen wir gar nicht mehr so lange darauf warten; der Homo sapiens hat es ja dank seines technischen Fortschritts (bei gleichzeitigem innerseelischen Stillstand) endlich geschafft, sich selbst vollständig zu überfordern.
Und die sog. KI (Künstliche Idiotie) wird uns auch nicht vor uns selbst retten.
Um es aber klarzustellen: Kein Krieg ist unwichtig, einfach schon weil in ihm Millionen Menschen sterben oder verstümmelt werden und weil ganze Landstriche zerstört werden - auch nicht der Krieg gegen die Ukraine (oder irgendein beliebiges anderes Land, in dem Menschen getötet werden - egal von wem auch immer).
Und „Russen als Kämpfer für die gerechte Sache“ käme mir auch nicht über die Lippen, einfach, weil es auf diesem Planeten keine gerechten Sachen gibt. Menschen können gar nicht gerecht sein, das widerspricht ihrer innersten Natur, die von Egoismus geprägt ist - egal ob in Ost oder West, Nord oder Süd. Wer sich in der Menschheitsgeschichte bisher einigermaßen „gerecht“ verhalten hat, tat dies m. E. nur aus Mangel an Gelegenheit oder aus Angst, sonst schwer eins übergebraten zu kriegen.
Oder ganz einfach und für die meisten viel wichtiger: sie konnten leben, ohne sich Sorgen und Gedanken über einen großen - vielleicht den letzten - Krieg zu machen. Nun ist inzwischen die zweite Generation auf dem Markt, die diese Sorgen nicht kannten, was auch vieles erklärt.
Weil es keine Zeitenwende war. Hitlers Krieg war das große Fanal und die absehbare Konsequenz nach 60, 70 Jahren technologisch getriebenem Aufrüsten, bei dem es letztlich immer um die Frage ging, wer Europa seinen Stempel aufdrücken wird: Frankreich, Deutschland, England oder Österreich-Ungarn. Dass Hitler in diesen Konflikt noch eine rassistisch-antisemitische Komponente einbrachte, hat ihm in Deutschland bei der Erlangung der Macht geholfen und natürlich Millionen Juden und anderen, die er als Untermenschen bezeichnete, das Leben gekostet, die bei einem normalen Krieg nicht in dieser Zahl ums Leben gekommen wären, aber dennoch war der Krieg nur die Fortsetzung u.a. der Kriege von 1870/1871 und dem ersten Weltkrieg.
Deswegen war der 2. WK in dem Sinne keine Zeitenwende wie es der Krieg gegen die Ukraine ist. Nach dem 2. WK haben sich Europa und die Welt Institutionen und Strukturen gegeben, die recht erfolgreich Kriege verhinderten und ächteten. Diese Strukturen sind nun einmal dahin und damit auch die Sicherheit, die sie versprachen und lange Jahre hielten.
Dass das so ist, hat niemand behauptet. Der Punkt ist, dass ein solcher Krieg bis vor 15 Monaten einigermaßen undenkbar schien, auch wenn er sich schon seit etwa zwei Jahren abzeichnete.
Ja, dann mach Dich halt lustig darüber. Wenn Du Dir dahinter stehenden Gedanken nicht zu eigen machen willst: bitte. Aber erwarte dann auch nicht, dass noch weitere Versuche unternommen werden, Dir die Bedeutung dieses Krieges in das politisch-geschichtliche Gefüge einzuordnen.
Der Punkt ist, und das sind dann meine abschließenden Worte, dass wir - vielleicht leichtsinnigerweise - dachten, dass es einen offenen, auf Eroberung und Vernichtung ausgerichteten Krieg in Europa nicht mehr geben würde, weil es politische, wirtschaftliche und militärische Strukturen gibt und gab, die so etwas eigentlich verhindern sollten.
Niemand konnte ahnen, dass es auch heute - 90 Jahre nach der Machtergreifung - wieder einer einzelnen Person gelingen würde (bzw. eine Person überhaupt daran Interesse haben könnte), einen solchen Krieg vom Zaun zu brechen, der nicht nur dem angegriffenen Volk und Land erheblichen Schaden zufügt, sondern auch dem eigenen und letzterem vielleicht sogar die viel gravierenderen und langfristigeren Schäden.
Das ist eine sehr grobe Fehleinschätzung Deinerseits - ich zweifle daran, dass Du die 1970er - 1980er Jahre bei Bewusstsein erlebt hast.
Ich habe mich meiner Lebtag nie in irgendein Business gestürzt und nie mit irgendwas Profite gemacht. Das Beruhigende am Ende des Kalten Kriegs war für mich etwas ganz, ganz anderes - ich bin da wohl etwas simpler gestrickt, lebe unterm Strich trotz diesem oder jenem Schatten recht gerne und fand es sehr erleichternd, wenn ich mich nicht bei jedem Probealarm (in den 1990er Jahren gab es noch sehr verbreitet akustischen Alarm) beim ABC-Jaulen der Sirene nochmal extra fragen musste: „Hast Du auch wirklich die Entwarnung gehört?“
Hm, ich denke zumindest relativ bewusst. 1971 wurde meine Tochter geboren. (Die hatte ich gezeugt, weil ich nicht zur Bundeswehr wollte [wg. Schiss, erschossen oder verstümmelt zu werden.]) Hat aber a) nichts genutzt - die haben mich einfach trotzdem gezogen und b) waren die 15 Monate BW gar nicht (mehr) so schlimm: Hab’ sie als Richtfunkmechaniker recht angenehm, interessant und lehrreich (in Sachen Richtfunktechnik) überstanden.
Nicht zu vergessen: Damals waren die Sozis an der Regierung, und Willi Brandt wirkte sehr beruhigend auf mich.
Mitte der 70er besuchte ich die Elektromeisterschule und war bis Mitte der 80er ganz auf Karriere/Vorankommen konzentriert.
Mitte der 80er hatte ich dann 'n Pfurz in’n Kopp gekriegt und wollte als Psychofuzzy die ganze Welt retten: Also ab ins Abendgymnasium, anschließend 3 Jahre Psychostudium, dann Schnauze voll davon und mich wieder auf meine e-technische Spezialisierung beschränkt, weil ich begriffen hatte, dass die Welt sowieso nicht zu retten ist, und dass der einzige der gerettet werden musste, ich selbst war.
Den ganzen Krempel und das berufliche Hin und Her hatte ich durchaus sehr bewusst erlebt, allerdings war ich so sehr mit mir selbst (meiner Bedürfnisbefriedigung und meinen eigenen psychischen Macken) beschäftigt, dass ich keine Zeit fand und auch keine Lust hatte, mich auch noch mit der (Welt-)Politik zu befassen.
Da sind wir uns zumindest teilweise gar nicht so unähnlich: Ich hatte mich zwar voll ins Business gestürzt, war aber zu blöd, auch Profite zu machen. Mir fehlte einfach die kriminelle Energie dazu.
In den 90er Jahren ff. war ich dann selbstständig und hatte vorübergehend (13 Jahre lang) auch eine äußerst zuverlässige Mitarbeiterin, die niemals krank feierte, mich aber vertrat, wenn ich mal wieder einen Unfall hatte. Ich war ihr so dankbar, dass ich nicht anders konnte, als ihr ziemlich genau so viel Gehalt zu zahlen, wie ich Gewinn machte. Also Fifty-Fifty. Ich glaube, da konnte ich meine sozialistische (?) Veranlagung einfach nicht überwinden.
Folge: Heute mit Ü70 habe ich kein Vermögen, kein Eigentum, keine Partnerin, wohne zur Miete und hoffe darauf, dass ich eines Tages plötzlich und unerwartet dahinscheide …
Jetzt, wo Du das schreibst, muss ich zugeben, dass ich hier - im Zentrum des Ruhrgebiets - so viel malocht, mich weitergebildet (und in der übrigen Zeit stets Sex im Sinn gehabt) habe, dass ich entweder diese Alarme nicht mitbekommen habe oder aber, dass damals schon (so wie heute auch) die Sirenen hier im Ruhrpott nicht mehr funktioniert haben. Gibt ja keine Bunker mehr. Wozu dann noch Sirenen? Ich glaube sowieso, dass die Verantwortlichen hier sagen: Wenn mal wieder Bomben auf’s Ruhrgebiet geschmissen werden, haben Bunker eh keinen Zweck. Die ganze Bagage kriegen wir da gar nicht untergebracht. Und die Reichen wissen sich schon selbst zu schützen …
Ein einziges Mal hatte mich ein Alarm so erschreckt, dass ich sogar eine Panikattacke (Herzrasenanfall) bekam. Aber nicht hier im Ruhrgebiet, sondern in Bonn, wo ich damals ein größeres Reparaturprojekt durchziehen musste. Und das Hotel, in dem ich da wohnte, hatte wohl so ein Sirenendingens direkt oben auf’m Dach.
Resümé: In den 60ern und bis zu meinem Wehrdienst Anfang der 70er hatte ich regelrecht Schiss vor einem Krieg, weil mein (ziemlich alter) Vater, der beide Weltkriege aktiv mitgemacht hatte, nicht aufhören konnte, zu berichten, wie grausam es im Krieg zugegangen war - nicht nur angesichts des „Feindes“, sondern auch angesichts der eigenen Leute/Kommandeure.
Die (oft lustigen) Erlebnisse in der fernmeldetechnischen Instandsetzung bei der BW haben meine Angst dann zum Verschwinden gebracht. Und heute bin ich so alt und habe mein Leben (zumindest die guten Zeiten) hinter mir, dass ich denke: Sollte mir eine Atombombe auf den Scheitel fallen … was kann mir Besseres passieren, solange die aktive Sterbehilfe nicht staatlich gefördert und finanziert wird?
Dabei ging es am 25.07.1980 erst richtig zur Sache, als Jimmy Carter versprach, man könne einen Nuklearkrieg so führen, dass irgendwas von der NATO als „Gewinner“ übrig bliebe. Wie man sich einen solchen Nuklearkrieg vorher, unter der MAD-Dokrin, vorstellen konnte, war übrigens sehr detailliert in dem Buch „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ von Carl Friedrich v. Weizsäcker (München 1971) dargelegt.
Mhm.
Und Du hast nie überlegt, warum Büchel Air Base, Spangdahlem Air Base und K-Town Air Base in der ex französischen Zone eingerichtet worden sind (was beiläufig mit den Franzosen nicht ganz leicht zu verhandeln war, die sich nie mit Hurra bedingungslos allem unterwarfen, was ihnen die NATO antrug)?
Und Peter Watkins’ Film „The War Game“ ist Dir nie begegnet, obwohl doch bereits seit der „Ohne mich“ - Bewegung im gesamten Pott eine ziemlich starke Opposition gegen die Wiederbewaffnung der BRD und militärische Parteinahme im Kalten Krieg bestand - auch noch, nachdem Philipp Müller am 11.05.1952 in Essen von einem westdeutschen Polizisten hinterrücks erschossen worden war? Ich habe (ich meine, es sei 1977 gewesen) mit einigen anderen dafür gesorgt, dass man diesen Film sogar im kohlpechrabenschwarzen Biberach/Riss zu sehen kriegte.
Wir haben die BRD im Kalten Krieg offenbar vollkommen unterschiedlich erlebt.
Ich erlebte es regelrecht als Erlösung, als am 9.11.1989 in Göttingen (wo ich damals lebte und wo unübersehbar selbst an kleinsten Landstraßen überall an geeigneten Stellen Sprengkammern installiert waren, die Deckel ließen sich sehr leicht von allem anderen unterscheiden, was Kanalisation oder Erdkabel oder Gasleitungen oder irgendwas anderes betraf) plötzlich die ganze Innenstadt nach Zweitakter-Abgas roch: Es war tatsächlich etwas zu Ende gegangen, was Anlass zu permanenter Beklemmung gegeben hatte.
Mal eine Frage. Ist das, was seit 1992 in Jugoslawien und den meisten seiner Nachfolgestaaten geschah, schon vergessen? Und noch immer muss die internationale Staatengemeinschaft auf Löcher in dem Benzinkanister die Daumen halten.
Seither muss es klar sein, dass an Schnittstellen von verschiedenen Interessen viel potenzielle Energie lagert.
Nein, ganz und gar nicht. „Nur“ handelte es sich damals nicht um einen Eroberungskrieg wie aktuell bei Russland und der Ukraine, sondern eher um eine Art gewaltsame Erbauseinandersetzung über das ehemalige Jugoslawien. Im Vergleich dazu ist zumindest für mich ein Angriffskrieg mit dem Ziel der Eroberung, Zerstörung und Vernichtung wie ihn derzeit Russland führt noch einmal eine ganz andere Hausnummer.
Ja, den Verdacht habe ich auch. Vielleicht erklärt es sich daraus, dass es Student*innen (bzw. gebildetere Schichten) waren, die sich bewusst für die (Welt-)Politik interessierten.
Die einfachen Handwerker - so wie ich damals einer war - haben sich nicht dafür interessiert und waren i. d. R. auch bei keinen Demos dabei. Die hatten genug damit zu tun, ihre meist früh gegründeten Familien zu ernähren und von Zeit zu Zeit - bei Bedarf - für ein paar Pfennige mehr in der Tasche zu streiken. Wir hatten’s mehr in den Händen als im Kopf und schätzten die Praxis mehr als die Theorie. (Heute fehlen solche Leute ja an allen Ecken und Enden.)
Ich bin mir nicht sicher, aber waren nicht auch die RAF-Leute alles Studierte bzw. aus dem Bildungsbürgertum? Ich wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, für was auch immer, zu morden und auch nicht, mein eigenes Leben auf’s Spiel zu setzen. Bei uns einfachen Handwerkern war so gut wie kein politisches Interesse vorhanden (es gab ja genug „Großkopferte“, die dafür zuständig waren).
Und dann hoffe ich noch auf Dein Verständnis dafür, dass jemand mit hypersexuellen Wesenszügen*, der permanent mit Hilfe von „Happy Weekend“ die nächste Gruppensexparty zu organisieren und daneben die eigene Frau gegen ihren Willen zu überreden versucht, dabei mitzumachen, sich nicht auch noch um das Thema Krieg kümmern kann. Es hat schon einen berechtigten Grund, wenn Soldaten, die in die Schlacht ziehen sollen, sich vorher möglichst nicht sexuell austoben sollen. Samenstau wirkt ähnlich wie „Panzerschokolade“: Testosteron und Adrenalin schwappen über und machen aggressiv bzw. kampfbereit - und schalten den Kopf gern aus.
*) Wenn ich mich recht erinnere, bildeten diese sich bei mir erst im Verlauf meiner Zeit bei der Bundeswehr heraus. Davor war ich eher lieb und zahm.
Zu meinem Erstaunen stelle ich gerade fest, dass die wohl bedeutsamste Zeitenwende in meinem Leben der damalige Wehrdienst (1972-1973) war. Na ja: also auch etwas, das im weitesten Sinn mit Krieg zu tun hat. Danach war ich irgendwie anders drauf.
Vielleicht wäre es ja gar nicht so schlecht, den Wehrdienst wieder einzuführen und Europa wieder verteidigungsbereit zu machen. Sozusagen „zwei Fliegen mit einer Klappe“ …
Meine Vorfahren stammen aus Slowenien. Ich erinnere mich, dass mein Vater bei jeder sich bietenden Gelegenheit gern von den „Srbski hudiči“ sprach und betonte, dass auch die anderen Balkanvölker (mit Ausnahme der „vernünftigen“ Slowenen natürlich) immer irgendwelche Feindprojektionen brauchen, um sich mordend, brandschatzend und vergewaltigend austoben zu können.
Seit ich mich mit der Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs auseinandergesetzt habe, bin ich aber davon überzeugt, dass mehr oder weniger alle Menschen ihren unbewussten Schatten nicht integriert haben und ihn deshalb von Zeit zu Zeit im Außen bekämpfen müssen. Und dabei sterben dann immer wieder die armen Projektionsträger*innen.
haben wir kurioserweise gänzlich unterschiedlich erlebt.
An dieser Stelle eine freundliche Erinnerung an Serif Kahriman, einen Nachttaxler und Gastwirt, den ich Anfang der 1990er Jahre in Mainz steuerlich betreute. Der einzige Gastwirt in der Mandantschaft, der in seinen Kassenberichten genau die Einnahmen aufführte, die er auch hatte. Ein Schrank von einem Mann, der aussah, als würde er regelmäßig kleine Kinder mit Senf zum Frühstück verspeisen, aber in seinem Herzen ein ganz, ganz feiner, liebevoller, menschlicher Geist.
Als die bosnischen Separatisten ihre eigene Armee erfunden hatten und sich in diesem Zusammenhang auch einiger eroberter Dokumentationen bedienten, erhielt Serif per Post einen „Einberufungsbefehl“, er möge sich als Offizier der Reserve dann und dann / da und da zur Teilnahme am Bürgerkrieg melden. Anderenfalls würde sein Grundbesitz beschlagnahmt.
Er schrieb zurück: „Mein Land, an dem mein Herz hängt, habt Ihr sowieso schon kaputtgemacht, ich will es nicht mehr haben. Im Übrigen bin ich Offizier der Jugoslawischen Volksarmee und ich habe einen Eid geschworen, nie die Waffen gegen mein eigenes Volk zu erheben. An diesen Eid bin ich gebunden.“
Als der „Adler“ in Kilianstädten, den er von einer verkommenen Pilsbude wieder zu einem schönen ländlichen Gasthaus hochgezogen hatte, einigermaßen lief, und sein lang erwarteter erster und einziger Sohn knapp ein Jahr alt war, erlag dieser Mann, der immer nur Arbeit gekannt hatte, einem Herzinfarkt.