Ich hab da mal eine Frage und hoffe hier kann mir weitergeholfen werden.
Ich habe vor kurzem erfahren,dass Christa Wolf zu ihrem Roman Kassanra einen mythologischen Hintergrund verwendet hat, da Mythen immer interpretiert werden müssen.
Jetzt habe ich mir die Frage gestell: Warum müssen Mythen interpretiert werden?
Ich hoffe jemand kann mir helfen!
lg Miriam
Hallo,
Mythos heißt im altgriechischen soviel wie Geschichte oder auch Plan. Dieser Plan, die Entwicklungsmatrix ist es, die interpretiert werden soll.
Es gibt auch verschiedene Deutungsschlüssel zu Mythen, weil in diese Geschichten vieles hinein gewoben wurde, z.B. den historischen, archäologischen, psychologischen, astronomischen usw. Schlüssel.
Interessante Artikel zu Mythen findest du unter Artikel auf dieser Seite:
Mythen: Sinn und Zweck
Hi Miriam,
Warum müssen Mythen interpretiert werden?
diese Auffassung teile ich nicht. Es ist vielmehr umgekehrt: Mythen sind selbst bereits Interpretationen.
Je nachdem, um welchen Typus von Mythen es sich handelt, geben sie eine Deutung eines Ursprungs oder Anfangs von etwas Vorhandenem. Sie erzählen also eine Vergangenheit, und zwar im Hinblick auf die Gegenwart. Es sind also Entstehungsgeschichten - ausgeformt in historischen Zeiträumen, in denen ein historisches Bewußtsein in der Geistesgeschichte noch gar nicht ausgeprägt war.
Haupttypen von Mythen erzählen
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vom Anfang/Ursprung der „Welt“ - wobei unter „Welt“ jeweils der eigene Lebensraum verstanden war: sog. Schöpfungsmythen
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vom Ursprung des eigenen Stammes bzw von einer Geschichte des Stammesgründers (der häufig auch der Namensgeber des Stammes war): sog. Stammesgründungsmythen
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vom Ursprung eines vorhandenen und ausgeübten religiösen Rituals - solche Mythen sind erst nachträglich entstanden, sie sollen erklären, was es mit diesem Ritual auf sich hat. Die antike griechische Mythographie ist voll von solchen Erzählungen
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das archetypische Ereignis der Form eines Initiationsrituals (Landnahme, Städtegründung, Inthronisation eines Herrschers, Grundsteinlegungen, Initiation von Stammesmitgliedern), wobei diese oft die Form der o.g. Mythen haben
Generell haben Mythen den Zweck, eine Handlung der Gegenwart durch Rekurs auf das mythische Urgeschehen zu legitimieren. Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade hat für diese fundamentale Funktion des Mythos den Termuns „archetypischer Präzedenzfall“ eingeführt. Siehe
Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr
ISBN 978-3458720041 Buch anschauen
Weitere Informationen zum Begriff Mythos findest du im Archiv des Brettes „Religionwissenschaft“ und im dortigen FAQ:1604
sowie in folgenden Artikeln:
[Schöpfungsmythen]
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
[religiöse Grundstrukturen]
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
[Rituale und Mythen]
/t/osterbraeuche-pesachbraeuche/1512715/5
[Schöpfungsmythen]
/t/mein-atheistisches-manifest/1671122/26
[Mythen allgemein]
/t/gott-und-die-morgenroete-theos-und-eos/647402/4
und eine Publikation über den Zusammenhang von Mythen und Ritualen:
http://www.praxis-dialog.de/texte/zeitbegriffe.pdf
Gruß
Metapher
Hi!
Zur Wortbedeutung von „mythos“:
In der Poesie (Homer und die Tragiker) ist die gewöhnliche Bedeutung „Wort, Rede“. Es kommt da auch in der Bedeutung „Auftrag, Versprechen“ vor, seltener als „Beschluss, Anschlag“.
In der Prosa hat die gewöhnliche Bedeutung „Erzählung“ fast immer den Beiklang von „nur erdichtet/fabulös“ und steht im Gegensatz zu „logos“, der auf die Wirklichkeit bezogenen Rede.
Gruß!
Hannes
Vielen Dank für eure Antworten!
Das hat mich schon etwas zum überlagen gebracht…
Mythos vs. Logos
Hi.
Ich bin so frei, einen etwas längeren eigenen Text zu dem Thema beizutragen, den ich vor Jahren mal schrieb, bevor der Anfall vorüber war:
"Mit Thales, der das Wasser in einer vermutlich noch mythisch konnotierten Weise als erstes Seinsprinzip denkt, und ganz dezidiert mit seinem Schüler Anaximander beginnt in Griechenland der Prozeß der Ablösung von der geistigen Herrschaft des Mythos, die Ablösung vom archaischen Denken in mythischen Bildern und Geschichten. Der Prozeß der Rationalisierung des Denkens - denn nichts anders bedeutet ja diese Ablösung - bewirkt eine allmähliche Differenzierung des mythischen Denkens in seine Komponenten Mystik, Wissenschaft, Moralkodex und Philosophie.
In der Tat: analysiert man das Phänomen Mythos (und seine sozial organisierte Variante, die anthropomorphistisch argumentierende Religion) auf seine wesentlichen Elemente hin, so wird man kaum umhinkommen, unterhalb der mannigfaltigen Oberflächenstrukturen vier Grundintentionen festzustellen:
Erstens die Ableitung der weltlichen Vielfalt aus einem einzigen Prinzip heraus (die mystische Kernidee),
zweitens das Bemühen, die komplexen Beziehungen innerhalb der Weltvielfalt, gleich ob auf der natürlichen oder kulturellen Ebene, ungeachtet eines Erstprinzips in einen logisch nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen (die Wissenschaft),
drittens das Postulat einer Rechtsordnung, welche dem menschlichen Zusammenleben verbindliche Formen aufprägt (der Moralkodex),
und viertens der Versuch, die drei vorgenannten Intentionen in einen systematisch geordneten Zusammenhang zu stellen (die Philosophie).
Der Differenzierungsprozeß selbst ist nichts anderes als das dynamische, stets unbewußt tätige Symbolische, die unbewußte Vernunft, der Logos. Er löst die Knoten, die sich innerhalb der phylo- und ontogenetischen Entwicklungslinien gebildet haben und das in seiner Ursprünglichkeit freie Subjekt in mythologische Phantasmen einschnüren. Das archaische Denken vermag jene Komponenten noch nicht zu differenzieren, es ist durchdrungen von seinen primärprozeßhaften Bewegungsgesetzen und bringt komplexe narrative Gebilde, Mythen, hervor, in denen sich die Funktionen jener Komponenten durchmischen.
Hier ereignet sich die Übertragung der magischen Omnipotenz des Ego auf eine allbeherrschende Figur bzw. Figurengruppe, deren Wille und Handlungsweise das Schicksal der Welt und der Individuen determiniert oder doch zumindest stark beeinflußt. „Mythische Weltdeutung und magische Weltbeherrschung können nahtlos ineinander übergreifen“, schreibt Habermas, „weil interne und externe Beziehungen konzeptuell noch integriert sind.“ Die Schlacht geht verloren, weil dieser oder jener griechische Gott es so will, Jesus stirbt am Kreuz, weil ihn der Eine Gott für das Wohl der Menschen opfert … Konfundierungen objektiver (im zweiten Beispiel nicht unbedingt realer) Ereignisse mit den Intentionen fiktiver Instanzen. Das mythische Element jenes Denkmodus entspricht also der - als solche nicht bewußten - Interpretation der Welt, das magische Element dagegen der illusionären Beherrschung der äußeren Zusammenhänge.
Damit wird auch einsichtig, wie es aus psychoanalytischer Sicht zu einer politisch wirksamen Mythenbildung kommt: die magische, originär narzißtische Omnipotenz wird auf die mütterliche oder väterliche Instanz verschoben und diese wiederum auf eine fiktive, also erdichtete, mythische Gestalt, die göttliche Züge trägt und zugleich nach dem Muster realer Herrschaftsorganisation die Fäden gesellschaftlicher Ordnungsgewalt in Händen hält.
Auch bei Hesiod (um 700) wird Kosmologie und soziale Ordnung in mythischer Form zusammengedacht; nur liegen die Dinge hier schon komplizierter. Hesiod denkt nicht mehr naiv mythologisch, sondern verwendet mythische Einheiten, Mytheme, in seinen Erzählungen bereits aus einer gewissen reflektierenden und betont gesellschaftskritischen Distanz. Sein Hauptwerk ist die ‘Theogonie’; sie schildert in großartigen Bildern die Entstehung der Welt aus den Urmächten Chaos, Gaia und Eros bis hin zur Weltherrschaft des gerechten Göttervaters Zeus.
Was Hesiod und seinen Zeitgenossen noch nicht zur Verfügung steht, ist ein mehr oder minder bewußter Umgang mit dem Logos, also das Vermögen, vom Konkreten und Bildhaften abstrahierend Kategorien und Relationen auf den Begriff zu bringen und insbesondere ein umfassendes Allgemeines in bildlose Sprache zu fassen. Zweifellos ist ein intuitives Bewußtsein von dieser Problematik vorhanden, lediglich das Instrumentarium für dessen Bewältigung bedarf noch seiner Entdeckung. Die vorsokratischen Metaphysiker sowie die Sophisten werden bei diesem Entdeckungsprozeß über ein Jahrhundert später entscheidende Rollen spielen.
„Bei Hesiod haben wir ein merkwürdiges Zwischenstadium“, schreibt Schadewaldt, „wo das noch gestalthaft Gesehene und das Begrifflich-Abstrakte nebeneinander stehen und sich auch wohl durchdringen.“ Das Problem, das Hesiod als erster überhaupt als Problem erfaßt, beschreibt Habermas, generell das mythische Denken anzielend, als „mangelhafte Differenzierung zwischen Sprache und Welt, also zwischen dem Kommunikationsmedium Sprache und dem, worüber in einer sprachlichen Kommunikation eine Verständigung erreicht werden soll … Darum kann das sprachlich konstituierte Weltbild so weitgehend mit der Weltordnung selbst identifiziert werden, daß es nicht als Weltdeutung, als eine Weltinterpretation, die dem Irrtum und der Kritik zugänglich ist, durchschaut werden kann.“
Gruß