Hallo!
An welcher Stelle bitte wird von einem Wehrdienstleistenden
eigenverantwortliches Handeln erwartet? Anläßlich welcher
Gelegenheiten ist einem Wehrdienstleistenden
eigenverantwortliches Handeln überhaupt möglich? Ist in einer
auf Befehl und Gehorsam beruhenden Struktur vom
Befehlsempfänger eigenverantwortliches Handeln nicht geradezu
unerwünscht? Der Befehlsempfänger soll tun, was ihm befohlen
wird. Handlungsspielraum hat ein Wehrpflichtiger nicht. Von
daher sind Streitkräfte der letzte Ort, an dem junge Menschen
eigenverantwortliches Handeln lernen können.
Und das ist (zumindest bezogen auf die Bundeswehr) falsch. Klar beruht das System auf Befehl und Gehorsam. Aber zwischen den einzelnen Armeen dieser Welt variiert die Systematik und das Verständnis, wie es zum Befehl und zum Gehorsam kommt.
Die Innere Führung des Bundeswehr unterscheidet Befehls- und Auftragstaktik. In der Bundeswehr kommt das System der „Auftragstaktik“ zum Zuge, womit sie sich von vielen anderen Armeen deutlich unterscheidet und absetzt, weil sie damit auf die Eigenverantwortung der Soldaten setzt. In der Befehlstaktik wird nicht nur das Ziel einer durchzuführenden oder zu unterlassenden Handlung beschrieben, vielmehr wird auch jeder Schritt zur Erreichung dieses Ziels befohlen. Innerhalb der Auftragstaktik jedoch formuliert der militärische Führer lediglich das zu erreichende Ziel („Das und das bis dann und dann in der und der Form“), während es allein dem Soldaten entsprechend seiner Ausrüstung, Ausbildung und Erfahrung überlassen bleibt, wie er dieses Ziel erreicht. Das System der Auftragstaktik hat sich bewährt, weil der ausführende Soldat sich selbst (eigenverantwortlich) darum kümmern muss, wie er vor Ort Probleme beseitigt, die die Erreichung des Ziels verhindern wollen. In der Befehlstaktik macht er zunächst vor diesem Problem eine Pause, in der er das bestehende Problem über die Hierarchie meldet und eine Entscheidung seines militärischen Führers abwartet, ob und wie das Problem zu beseitigen ist. Und dasselbe Procedere durchläuft er wieder und wieder, wenn es auch bei der Problembeseitigung zu Problemen kommt.
Lösung ist die Auftragstaktik: Ich formuliere das Ziel, und der Soldat soll sich selbst eine Kopf darum machen, wie er es erreicht. Gleichzeitig stellt sich ihm die Frage nach der Rechtmäßigkeit und Verbindlichkeit meines Befehls. Unsere Befehle dürfen gewissen Rechtsnormen widersprechen, verlieren damit ihre Rechtmäßigkeit, bleiben aber dennoch verbindlich und damit auszuführen, solange die Ausführung nicht strafbar ist. Der Soldat muss also im Zuge der Erfüllung seines Auftrages nicht nur selbst prüfen, wie er das befohlene Ziel erreicht, sondern auch, welche Befehlsbestandteile er ausführen muss, welche er nicht ausführen braucht und welche er nicht ausführen darf. Auch hier ist wieder seine Eigenverantwortung gefragt. Führt er einen strafbaren Befehl aus, wird nicht nur sein Vorgesetzter, sondern auch er selbst zur Verantwortung gezogen.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird einem
Ersatzdienstleistenden, der z. B. alte Leute betreut, ein
höheres Maß an Verantwortung und Selbständigkeit abverlangt,
als dies beim Wehrpflichtigen jemals der Fall ist.
Was durchaus nicht regelmäßig der Fall ist. Jeder Ersatzdienstleistende, der solche Aufgaben wahrnimmt, wird zumeist mit jedem Fingerstich durch das ihm vorgesetzte Fachpersonal beaufsichtigt und somit sehr weitgehend von jeglicher Verantwortung befreit, weil es sich z. B. kein Altenheim leisten kann, dass im Falle eines Fehlers des Zivis gefragt wird: „Warum haben sie einen Zivi mit dem älteren Herren allein gelassen?“. Kein Richter wird einen Stationsarzt aus der Verantwortung entlassen, wenn dieser ihm im Rahmen der Verhandlung sagt: „Aber da war doch der Zivi zuständig.“ Ohne fachpersonelle Aufsicht hat ein Zivi in einem Krankenhaus i. d. R. höchstens die Verantwortung über die Bettwäscheausgabe oder die Kaffeemaschine. Natürlich wird man ihm, entsprechend seiner wachsenden Erfahrung, mehr und mehr Freiraum für eigenes Handeln und eigene Entscheidungen lassen und ihm somit mehr Verantwortung geben. Aber das ist im Wehrdienst auch durchaus nicht anders. Jeder Vorgesetzte ist dazu angehalten, einen Soldaten entsprechend seiner Erfahrung einzusetzen, um damit Motivation zu generieren. Darüber hinaus sollen Soldaten auch dort Verantwortung übernehmen, wo sie nicht sooo sehr viel Erfahrung haben, damit man ihnen auf diesem Wege zeigen kann, dass man ihnen vertraut und ihre eigenen Lösungsideen willkommen sind. Auch das generiert Motivation. Und ich glaube dabei schon, dass ein z. B. im Sanitätsdienst oder in der Truppenverpflegung (als Herrscher über 3.000 Essen pro Tag ) eingesetzter Wehrpflichtiger nicht weniger Verantwortung für seine Kameraden trägt, als jener Zivi für den älteren Herren. Auch übernimmt ein Wehrpflichtiger sehr viel Verantwortung, wenn ich ihm die Schlüssel für eine Waffenkammer in die Hand drücke oder ihn mit einem LKW mit Soldaten auf der Ladefläche auf die Strasse loslasse. Bessere Beispiel noch: Wache. Zwei Wehrpflichtige bestreifen nachts mit scharfer Waffe die Kasernenanlage. Plötzlich springt vor ihnen der Soundso aus dem Gebüsch, weil dieser mal dringend die Botanik bewässern musste.
Übrigens haben wir in unserem Sanitätsbereich derzeit einen „Stabsarzt“, der jetzt nach seinem zivilen Medizistudium seinen 10-monatigen Grundwehrdienst abreisst und dabei - wenn es sein muss - über lebensrettende Massnahmen zu entscheiden hat.
Und wie unter den Wehrpflichtigen, so gibt es unter den Zivis ebenso viele Kartoffelochsen, die dieselben Gehirnströme wie eine leere Cola-Dose haben, die mittags nicht mehr wissen, was ihnen in der Frühstückspause gesagt wurde, die so verlogen sind, dass schon ihr Geburtsdatum wie eine Lüge klingt, die es schaffen, alles abzubrechen oder zu verlegen, was man ihnen in die Hand drückt, die aus jedem eingebildeten Wehwehchen gleich eine Sehnenscheidenentzündung mit mehrwöchiger Krankschreibung drehen…halt Typen, die man lieber gestern als heute wieder vom Hof hätte.
Daher nehme ich es nicht hin und lasse mir auch nicht einreden, dass ein Ersatzdienstleistender ein höheres Maß an Verantwortung übernehmen würde, als ein Wehrdienstleistender. Auf den ersten Blick mag es - mit Deinem so oft genutzten Argument - tatsächlich so aussehen, aber beim genauen Hinsehen ist es nicht so. Keiner der beiden übernimmt ein höheres Maß an Verantwortung. Sie übernehmen lediglich Verantwortung in grundsätzlich verschiedenen Aufgabenbereichen, und beide tun einen wichtigen Dienst an der Gesellschaft.
Grüsse
Tom